Streitgespräch über die Natur des Geistes

Gibt es überhaupt ein „Ich“? Oder gaukelt das Gehirn seinem Besitzer den freien Willen nur vor? Was bestimmt die Persönlichkeit? Mit ihrem Streitgespräch füllten Roth, einer der führenden deutschen Hirnforscher, und Precht, Autor des Bestsellers „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, die Bänke des größten Hörsaals der Leuphana. Die Diskussion der Wissenschaftler wurde wegen des großen Publikumsinteresses via Kamera auch in einen weiteren Hörsaal übertragen. Die beiden Diskutanden repräsentieren zwei Kulturen, die sich seit langem um die intellektuelle Hoheit über das Thema „Was ist das Ich?“ streiten – Roth als Hirnforscher, Precht als Geisteswissenschaftler. Prof. Dr. Christoph Jamme vom Institut für Kulturtheorie, Kulturforschung und Künste der Leuphana moderierte die Veranstaltung.

Ein Sieger ging aus der Diskussionsrunde nicht hervor. Dennoch gingen die Zuhörer mit tiefgründigen Erkenntnissen nach Hause. Hirnforscher können dem Menschen mittlerweile in den Kopf schauen, beispielsweise während er denkt oder liebt. „Mit welcher Präzision wir heute Hirnströme messen können, ist erstaunlich. Egal, was ich denke, es spielt sich in den immergleichen, naturwissenschaftlichen fass- und messbaren Prozessen ab“, erklärte Roth. Precht widersprach dem Bremer Forscher: „Ein Mensch, der nicht weiß, was Liebe ist, könnte sein Leben lang Gehirne untersuchen und würde es nicht herausfinden. Mit den Methoden der Neurobiologie lässt sich das Denken abbilden, die Gedanken allerdings nicht.“

Laut Roth ist das Konzept eines freien Willens fragwürdig. „Wir können einem Straftäter ins Gehirn schauen und absolut sicher feststellen, ob er die Wahrheit sagt oder nicht“, so Roth. Precht hingegen sieht den wichtigsten Beitrag für die Hirnforschung darin, dass sie die Gefühle in den Mittelpunkt der Philosophie rückt. Das gefühlte Ich sei der Dreh- und Angelpunkt der geistigen Welt, ist Precht überzeugt. „Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt, sondern nur ihre messbare Seite“, ist der Philosoph überzeugt. Einig waren sich beide darin, dass das Wissen über das Gehirn stets mit der Zeit wachse. Precht: „Wenn wir diese Diskussion aufzeichnen und in 50 Jahren abspielen, werden sich die Leute amüsieren über den Unsinn, den wir hier erzählt haben.“

Die Podiumsdiskussion bildet den Abschluss und zugleich Höhepunkt der Ringvorlesung „Die Natur des Geistes. Neurowissenschaftliche und philosophische Beiträge zu einer Theorie des Bewusstseins“ und zeigt somit einen Ausschnitt aus dem Leuphana Semester. Das Leuphana Semester ist in vier Module gegliedert, das Streitgespräch war Teil des Moduls „Wissenschaft macht Geschichte“, in dem das Allgemeinwissen der Studierenden in den Bereichen Geistesgeschichte, Kultur- und  Technikgeschichte erweitert und vertieft wird. In diesem Jahr hatte das Modul den Themenschwerpunkt „Was ist die Natur des Geistes?“. Der Dualismus von Wissens- und Persönlichkeitsbildung stand dabei im Fokus. Wie denken die Menschen? Wovon werden Entscheidungen geprägt? Diese und weitere Fragen wurden in Seminaren mit breit gefächerten Themen wie Hirnforschung, Geistesgeschichte oder Neuroethik beantwortet.

 

Zu den Teilnehmern auf dem Podium:

Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth:
Der Neurobiologe, der zunächst Philosophie studierte und in diesem Fach auch promovierte, gründete 1989 das Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen. Roth forschte vor allem über die neurobiologischen Grundlagen der kognitiven und emotionalen Verhaltenssteuerung bei Wirbeltieren. In seinem Standardwerk „Fühlen, Denken, Handeln“ (2003) bestritt er, dass es den freien Willen des Menschen tatsächlich gebe – es sei eine gelungene Illusion, die das Gehirn seinen Besitzern vorgaukle.

 

Dr. Richard David Precht:
Mit dem Sachbuch „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, einer humorvollen und anekdotenreichen Einführung in die Philosophie, setzte sich der in Köln lebende Wissenschaftspublizist im September 2007 an die Spitze der Bestsellerlisten und hält sich bis heute auf den vorderen Plätzen. Precht, der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte studierte, mit einer Arbeit über Robert Musil promovierte und auch Romane schrieb, veröffentlichte im März sein neues Buch: „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“.