Ringvorlesung zu deutschsprachiger Erzählprosa seit 1989

Was bleibt

15.11.2022 Noch bis zum Ende des Wintersemesters stellen immer mittwochs ab 18.15 Uhr renommierte deutsche Literaturwissenschaftler*innen Romane und Erzählungen vor, die sie zukünftigen Leser*innen empfehlen möchten. Sven Kramer, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen, spricht im Interview über feuilletonistische Wünsche, deutsch-deutsche Literatur und Christa Wolf.

Ringvorlesung zu deutschsprachiger Erzählprosa seit 1989: Was bleibt ©Sven Kramer
„Schreiben braucht Zeit. Aber einige Bücher werden anders gelesen, wenn die Welt sich verändert hat", sagt Sven Kramer, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen.
Herr Professor Kramer, was zeichnet die deutschsprachige Literatur nach 1989 aus?
Der Mauerfall hat insbesondere die deutsche Literatur beeinflusst. Der Ruf nach einer Nationalliteratur wurde laut. Man fragte: Können die literarischen Traditionen der beiden deutschen Staaten vereint werden? Das Feuilleton wünschte sich einen großen Wenderoman, der die neuen Verhältnisse beschreibt. Aber die Schriftsteller*innen haben diesen Wunsch nicht erfüllt und sind andere Wege gegangen. Über die letzten 30 Jahre hinweg sind interessante neue Schwerpunkte entstanden. Sie beschreiben einerseits die deutsch-deutschen Verhältnisse: Wie erscheint die DDR im Nachleben – politisch, privat und ästhetisch – in der Literatur? Wolfgang Hilbigs Roman „,Ich‘“ etwa blickt auf die Stasi-Verstrickungen und erzählt von einem Lyriker, der sich als Stasi-Spitzel anwerben lässt. Andererseits thematisiert die Literatur Migration, Flucht und Rassismus. Wir haben es nach 1989 mit einer veränderten Welt zu tun. Der Ostblock verschwand. Nicht nur Deutschland veränderte sich.
Welche dieser Bücher werden in der Ringvorlesung vorgestellt?
Zum Beispiel „Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar. Der Roman beschäftigt sich mit dem aktuellen Rassismus in Deutschland. Oder „Atemschaukel“ von Herta Müller. Sie beschreibt die Deportation des siebzehnjährigen Leopold Auberg und sein Überleben in einem sowjetischen Lager. Die Nobelpreisträgerin wuchs in einem deutschsprachigen rumänischen Dorf auf und kam erst später in die Bundesrepublik. Der gebürtige Iraki Abbas Khider erzählt in seinem Roman „Der falsche Inder“ eine Fluchtgeschichte. Der Autor musste selbst aus dem Irak fliehen. Er hat erst danach die deutsche Sprache gelernt und seinen Roman dann auf Deutsch geschrieben. Das Buch stellt das Regime Saddam Husseins dar und vergegenwärtigt Flucht und Bedrängnis. Sprache wird zum Spiegel von Grausamkeit und Folter. Der Roman leistet aber viel mehr als eine journalistische Dokumentation. Khider greift zurück auf literarische Traditionen der Moderne. Er hat ein reichhaltiges, aufwühlendes Buch geschrieben, das viele Lektürewege anbietet.
Welches Buch würden Sie in eine kommende Zeit mitnehmen?
Ich habe über „Was bleibt“ von Christa Wolf gesprochen. Das Buch beschreibt einen Tag im Leben einer ostdeutschen Schriftstellerin, die von der Stasi überwacht wird. Nach Erscheinen entbrannte ein Literaturstreit – eine emotional geführte öffentliche Debatte über die künftige Orientierung der Literatur in der Berliner Republik. Literaturkritiker*innen und Feuilletons loteten die Bedeutung der DDR-Literatur aus. Auch das Thema Überwachung bleibt in unseren neuen medialen Umgebungen weiter aktuell. Man kann diese Erzählung lesen, um jetzige Medienverhältnisse zu diskutieren. Wolfs Buch bietet also viel mehr, als die damalige Debatte thematisierte.
1989 sprachen wir von der Wende. Jetzt von der Zeitenwende. Beginnt auch in der Literatur etwas Neues?
Naturgemäß kann die Literatur nicht tagesaktuell reagieren. Schreiben braucht Zeit. Aber einige Bücher werden anders gelesen, wenn die Welt sich verändert hat. Mir fällt der Roman „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja aus dem Jahr 2014 ein, der in unserer Vorlesung nicht mehr hineingenommen werden konnte, weil die Serie schon vor dem Ukraine-Krieg geplant wurde. Die Autorin wurde in Kiew geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf. 1999 kam sie nach Deutschland und schrieb in diesem Roman ihre Familiengeschichte auf. Ortsnamen wie Odessa oder Kiew haben plötzlich einen anderen Klang für uns. In älteren Texten erkennen wir Dinge, die dort schon angelegt waren. Aber wir haben sie bisher überlesen.

In der Ringvorlesung „Hauptwerke deutschsprachiger Erzählprosa seit 1989“ erläutern noch bis zum 1. Februar Literaturwissenschaftler*innen, welchen Prosatexten sie zutrauen, ihre Aktualität über die Saison hinaus zu bewahren. Pro Sitzung stellen sie einen Text vor und begründen, warum er nicht in Vergessenheit geraten sollte. Die Vorträge werden in Hörsaal 4 gehalten. Gäste sind herzlich willkommen.

Kontakt

  • Prof. Dr. Sven Kramer