Neu an der Leuphana: Sebastian Wallot – Was heißt Lesen?

10.05.2021 Wie diese Zeile vielleicht gerade beweist, liest man ständig. Dabei weiß man in Teilen überraschend wenig darüber, was beim Lesen zwischen Text, Auge und Geist eigentlich vonstatten geht. Sebastian Wallot, Professor für Psychologie, insbesondere Methodenlehre und Evaluationsforschung, untersucht ein evasives Alltagsphänomen.

Ernennung Prof. Sebastian Wallot Edit 1 ©Marvin Sokolis
Sebastian Wallot, Professur für Psychologie, insbesondere Methodenlehre und Evaluationsforschung, bei seiner Ernennung

Sebastian Wallot erforscht das Lesen von Texten. Dabei geht es ihm um das ‚natürliche’ Lesen; dasjenige, das man alltäglich tut, wenn man etwa einen Zeitungsartikel, ein Buch oder eine Website liest. „Was mich daran am meisten interessiert“, sagt er, „ist, wie man den Leseprozess fassen kann und zwar über verschiedene Leser*innen, Sprachen sowie Text- und Lesesituationen hinweg. Wie können wir daraus Rückschlüsse ziehen auf das Kompetenzniveau der Lesenden oder darauf, ob sie das, was sie lesen verstanden haben oder nicht?“ Die psychologische Leseforschung ist hier in zwei Forschungstraditionen gegliedert: Zum Einen gibt es Untersuchungen primär zur Wahrnehmung. Wie nehmen wir überhaupt die Umwelt wahr? Wie gelangt die visuelle Information von den Augen zum visuellen Cortex im Gehirn? Wie funktioniert es, dass man abstrakte Symbole (etwa die Buchstabenfolge ‚S o n n e’) wahrnimmt und diese dann im Geist als deutlich reichhaltigere Information ankommen (nämlich als Bündel an Bildern und Assoziationen)? Die andere Forschungstradition beschäftigt sich mit Fragen der Verarbeitung: Was passiert im Kopf? Wie regt das die Vorstellung an, stimuliert die Gedanken, und was macht man dann damit? „Ich möchte gerne beides verbinden“, beschreibt Wallot seinen Ansatz. Sebastian Wallot schlägt vor, das Verstehen, also den psychischen Akt des Verstehens, als Bindeglied zu begreifen, mit dem sich Lesen-als-Wahrnehmung und Lesen-als-Verarbeitung zusammenbringen lassen. Er erklärt: „Letztlich geht es bei Sprache darum, dass wir in irgendeiner Form etwas verstehen, das uns verändert, das uns aber auch neue Kompetenzen in der Welt ermöglicht: Anders mit anderen Leuten in Kontakt zu treten oder anders auf die Umwelt einzuwirken. Oder auch anders die Dinge zu verstehen, die um uns herum passieren.“ Dieser Ansatz hat sich in zahlreichen Versuchsreihen als sehr tragfähig erwiesen.

Sebastian Wallot weist darauf hin, dass die Lesepsychologie bestimmte Aspekte, die offensichtlich zum Leseprozess gehören, empirisch noch nicht zu greifen bekommt, etwa das Konzept der Bedeutung. „Das gegenwärtige abstrakte psychologische Verständnis von Sprache enthält keine Bedeutung“, formuliert er scheinbar paradox. „Es herrscht die Idee vor, dass Menschen eine Art mentales Lexikon haben. Darin stehen Regeln, wie man Sprache grundsätzlich versteht, sowie allerlei Definitionen, Erklärungen von Wörtern und Worteigenschaften. Die Annahme ist, dass, wenn wir etwa das Wort ‚Baum‘ hören, unser Geist das mentale Lexikon aufschlägt und dann einen Eintrag wie ‚ist aus Holz und ist hoch und hat Blätter‘ findet. Das ist aber ein Zirkelschluss, denn Wörter wie ‚Holz‘ müsste man dann ja ebenfalls über eine Definition gelernt haben und irgendwann später einmal kommt da wieder ‚Baum‘ drin vor. Das heißt Bedeutung muss eigentlich mit etwas anfangen, dass eine Grundlage außerhalb der abstrakten Beschreibung von Sprache hat. Etwas, das außerhalb der Sprache ist, aber mit der Sprache Kontakt aufnehmen kann.“ Wallot ist europaweit anerkannter Experte für empirische Psychologie, insbesondere für Studien zu Joint-Action und zu nichtlinearen Zeitreihenanalysen. Er zeigt in seinen Publikationen, dass Konzepte wie Bedeutung nicht etwa deswegen lesepsychologisch schwer fassbar sind, weil die empirischen Werkzeuge zu ungenau sind. Es ist eher so, dass die empirische Untersuchung bestimmter Konzepte, wie das der Bedeutung, bestimmter theoretischer und methodischer Innovationen bedarf.

Dieser Befund ist insofern charakteristisch für Wallot und die Leseforschung, als dass beider Ergebnisse häufig der intuitiven Vorstellung vom Lesen widersprechen. „Ein Beispiel dafür ist der ‚Wortfrequenz Effekt‘: Die Geschwindigkeit, mit der man ein Wort liest, steht in einem direkt proportionalen Zusammenhang zur Häufigkeit, mit der dieses Wort in der persönlichen Sprache des Sprechenden vorkommt. Das Wort ‚werden‘ zum Beispiel wird schnell gelesen; für das Wort ‚ausdrücken‘ brauchen die meisten länger. Dieser Zusammenhang spielt beim Lesen einzelner Wörter eine wichtige Rolle. Beim Lesen von zusammenhängenden Texten bleibt von dem Lesegeschwindigkeit-Worthäufigkeit-Zusammenhang jedoch kaum noch etwas übrig.“ Wallot pointiert: „Die Bausteine von denen wir früher gedacht haben, dass wir darauf den Leseprozess aufbauen können, verschwimmen zum größten Teil wenn wir das Ganze in einen größeren Kontext stellen.“

Sebastian Wallot schloss 2011 seine Promotion in Experimental Psychology am Department of Psychology an der Universität Cincinnati (Ohio, USA) ab. Nach seiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interacting Minds Centre der Universität Aarhus (Dänemark) wechselte er 2016 zum Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt a.M. Seit 2020 ist Wallot Professor für Forschungsmethoden und Evaluation am Institut für Psychologie. Seine Forschung wurde unter anderem mit einer DFG-Heisenbergprofessur ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihm neben anderem „What the eyes reveal about (reading) poetry“.