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Lehrveranstaltungen

Subjektivität und das Unbehagen der Identität (Seminar)

Dozent/in: Christoph Brunner, Roberto Nigro

Termin:
wöchentlich | Donnerstag | 10:15 - 11:45 | 08.04.2021 - 08.07.2021 | C 3.121 Seminarraum

Inhalt: Die Frage nach der Subjektivität ist keine abstrakte philosophische Frage: Durch sie kann man untersuchen, wie sich Machtverhältnisse in einer bestimmten Gesellschaft verändern, Herrschafts- und Ausbeutungsformen bekämpf werden. Nicht nur signalisiert sie die Entstehung neuer Formen von Unterdrückung, sondern auch die Erfindung neuer Räume der Freiheit. In den 1960er Jahren richtete sich die Kritik an der Theorie des Subjekts gegen das Erbe der modernen Philosophie. Gleichzeitig könnte man die Kritik der philosophischen Anthropologie oder der theoretischen Humanismen ohne den Hinweis auf die antikolonialen Kämpfe nicht richtig begreifen: sie war das Zeichen einer radikalen Infragestellung des Eurozentrismus und der patriarchalischen Machtstrukturen der westlichen und europäischen Tradition. In den 1970er Jahren richtete sich die Frage über poststrukturalistische theoretische Strömungen auf die Genese oder die Bildung des Subjekts innerhalb transindividueller Strukturen. Subjektivierungstheorien erlaubten die Konstitution des Subjekts anhand von Praktiken anstelle von Strukturen zu denken. Soziale und politische Bewegungen erfanden neue, transversalere, Praktiken und ließen neue Subjekte und Subjektivierungsweisen entstehen. Während sich die Gegenoffensive der neoliberalen Gouvernamentalität entwickelte, erinnert uns die theoretische und praktische Tradition des Italienischen Operaismus daran, dass die Subjektivität nicht nur Unterdrückung und Unterwerfung ist, sondern auch Subversion. Wo neue Herrschaftsformen wachsen, da wächst auch der neue Widerstand. Feministische Bewegungen und de-koloniale politische Praktiken erlaubten es, nicht nur die Frage nach der Identität und dem Gender zu stellen, sondern auch die Kritik der patriarchalischen Gesellschaft und der kolonialen Vernunft zu entwickeln. Die Reflexion um die technologischen und digitalen Transformationen lässt uns mit der Transformation des Humanen und der klassischen Relation zwischen Maschinen und Menschen konfrontieren. Posthumanismus, cyborg, Maschinen der Subjektivität sind unterschiedlichen Denkweisen, um diese Relationen neu zu begreifen. Nun könnte man denken, dass all diese Reflexionen nur das zeitgenössische Denken durchqueren. Im Gegensatz dazu soll das Seminar auch zeigen, dass sie in der wichtigen Metaphysik des 17. Jahrhunderts und früher der Renaissance schon da waren, zum Beispiel im Werk von Spinoza als Denker der Beziehung. In welchem Zusammenhang steht seine Philosophie mit den von Donna Haraway, Étienne Balibar oder Gilbert Simondon entwickelten zeitgenössischen Reflexionen über die Transinvidualität? Wie hängt das Thema der Transinvidualität (als andere Figur der Subjektivität) mit dem des Dividuums zusammen, das in den Mittelpunkt vieler zeitgenössischen Reflexionen gerückt ist? Erlauben beide Begriffe eine kritische Auseinandersetzung mit dem liberalen Erbe des Individuumsbegriffs? Wäre dies nicht eine nötige Diskussion in einer Zeit, wo oft die Sorge um Verlust der Freiheit im Zentrum steht, und wo die Ängste vor der Entwicklung von neuen Kontrollformen stark wachsen? Nach einer historischen Situierung des Subjektivitätsbegriffs in seiner westlichen Genese und den hieraus erwachsenden immanenten Kritiken, unternimmt das Seminar einen Ausblick hin zu Praktiken der De-Subjektivierung in queeren, post-/de-kolonialen sowie dezidiert intersektionalen Kontexten. Das Unbehagen der Identität, wie es in der Gegenwart öffentliche Debatten zu und Rekurse auf einen starken Identitätsbegriff mit sich bringt, wird hierdurch als Symptom und Befragungsrahmen deutlich. Anstatt einer umfassenden Aufarbeitung identitätspolitischer Diskurse soll die hier angestrebte Auseinandersetzung mit einem differenzierten Subjektbegriff zu einer Kritik der Gegenwart zu dienen.