Neu an der Leuphana: Prof. Dr. Andrea Kretschmann – Ernsthafte Spiele

16.03.2021 Die Soziologin und Kriminologin untersucht unter anderem, wie sich die Polizei auf Protestkundgebungen vorbereitet und damit unweigerlich auch den eigenen Blick auf reale Demonstrationen strukturiert. Die Forschungsschwerpunkte der Wissenschaftlerin liegen im Bereich der Kultursoziologie sowie einer kulturtheoretisch verstandenen Politischen Soziologie und Rechts- und Kriminalsoziologie.

©Andrea Kretschmann
Andrea Kretschmann ist Professorin für Kultursoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg und assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin.

Häuser mit zugezogenen Fenstern, schmutzige Ladenschilder und grauer Beton: Alles sieht nach einer kleinen Geschäftsstraße irgendwo in einer britischen Industriestadt aus. Nur wohnt dort niemand und hat es auch nie. Dieser Straßenzug dient allein als Übungsplatz für die Polizei. Andrea Kretschmann, Professorin für Kultursoziologie, hat in mehreren europäischen Ländern zum Policing von Protest geforscht und sich mit diesen künstlichen Städten auseinandergesetzt. Dort simulieren oft hunderte Polizist*innen Demonstrationen: Ein Teil der Fortbildungsteilnehmer*innen spielt die Demonstrierenden, ein Teil bleibt in der Rolle der Polizist*innen. Es gibt selbst angefertigte Transparente; es werden Redebeiträge gehalten und Parolen gerufen, Steine aus Kaltschaum oder Holz geworfen und Autos in Brand gesteckt. Auch Molotow-Cocktails fliegen bei vielen dieser Polizeitrainings: „In Nordirland wollten mir Polizist*innen zeigen, wie emotional diese Momente sind und wie sie sich anfühlen. Ich zog einen entsprechenden Schutzanzug an. Es war sehr aufwändig und ohne Hilfe kaum zu schaffen. Dann wurde ich mit Molotow-Cocktails beworfen und spürte die Hitze des Feuers an meinem Bein“, beschreibt die Forscherin. Mit Hilfe der Ethnografie, also teilnehmender Beobachtung und Interviews, untersucht sie die Wirklichkeit herstellende Wirkung dieser „serious games“: „Die Spiele haben einen Effekt auf das reale Handeln. Durch die Sensualität der Simulationen prägen sich die Erfahrungen in besonderem Maße ein“, erklärt die Wissenschaftlerin.

Einflussreich sei, wie Demonstrationen imaginiert werden: In den meisten der untersuchten Länder erinnerten die Übungen über weite Strecken an bürgerkriegsähnliche Verhältnisse; die Übungsdemonstrationen sind in der Regel als links-liberale bis links-radikale Proteste angelegt: „Es gibt Hinweise darauf, dass reale Demonstrationen mit diesen Darstellungen assoziativ verknüpft werden. Deshalb ist die Frage relevant, inwieweit Wirklichkeitsausschnitte selektiv oder vielleicht auch verzerrt dargestellt werden“, sagt Andrea Kretschmann.

Diese Form der polizeilichen Ausbildung existiert erst seit einigen Dekaden: „Bis in die 60er Jahre hinein gab es bei Demonstrationen eigentlich nur zwei Szenarien: Die Polizei ließ Proteste gewähren oder sie zerschlug sie.“ Folge waren schwere Verletzungen aufseiten der Demonstrierenden oder sogar Todesfälle. Damit wuchs der öffentliche Druck auf die Polizei, andere Formen des policings zu entwickeln: „Die Polizei ist eine schwerfällige Institution, die sich wenig aus sich selbst heraus erneuert. Dies begründet sich auch aus ihrer Aufgabe, das Bestehende zu bewahren.“ Heute wollten Gesellschaften früher wissen, was in Zukunft gefährlich sein kann. Dieses Verständnis führt zu einer stärkeren Präventionsarbeit der Polizei, auch mit Blick auf Demonstrationen: „Bis in die 70er Jahre hinein reagierte die Polizei vor allem dann, wenn ein Verbrechen geschehen war. Heute versucht sie, einzugreifen, bevor es geschieht“, erklärt Andrea Kretschmann. Mit einher gehe eine veränderte Wahrnehmung von Sicherheit und Unsicherheit und eine Senkung der polizeilichen Einschreitschwelle: „Viele soziale Probleme sind heute als Sicherheitsprobleme gerahmt. Betteln etwa war früher noch ein vorrangig soziales Problem, heute wird es zunehmend auch als ein Sicherheitsproblem empfunden. Ich möchte wissenschaftlich reflektieren, welche Form von Staatlichkeit sich angesichts dessen herausbildet.“

Andrea Kretschmann beschäftigt sich in ihrer Forschung mit dem gesellschaftlichen Umgang mit sozialen und politischen Problemen und Konflikten. Als Klammer dienen kultursoziologische Fragestellungen, die immer auch ein soziologisch-theoretisches Interesse verfolgen, wie etwa die Simulation als eine Form des theatralen Spiels. So forscht sie weiter zur Rechtsemergenz von Lai*innen. In der bestehenden Forschung bestünde eine Einseitigkeit, Recht vor allem aus den Handlungen der Rechtsexpert*innen heraus hervorgehen zu sehen. Richtete man eine kultursoziologische Sicht auf das Recht, ließe sich erkennen, dass Lai*innen das Recht viel stärker prägen, als bislang angenommen wird. Neben dem alltäglichen Gebrauch von Recht durch Lai*innen sei diesbezüglich die politische Nutzung rechtlicher Formen besonders interessant: „Seit etwa 30 Jahren gibt es einen Boom von strategischen Klagen im Recht, aber wir sehen auch vermehrt eine symbolische Verwendung von Recht wie etwa beim Monsanto-Tribunal“, sagt Andrea Kretschmann. Ein besonderer Fall sei die Imagination eigenen Rechts durch die Reichsbürger, die auf dieser Basis sogar Gerichtsprozesse führen oder neue Landesgrenzen ziehen. Hieran lässt sich etwas über die Legitimationsgrundlagen des modernen Rechts selbst erfahren, ebenso wie über den Wandel des Rechts durch diese Akteur*innen.

Andrea Kretschmann studierte Soziologie und Kriminologie an der Universität Hamburg und der Middlesex University London. Sie habilitierte sich in Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wurde an der Universität Bielefeld promoviert (Fakultät für Soziologie). Gastprofessuren, Positionen als wissenschaftliche Mitarbeiterin oder Forschungsaufenthalte führten sie unter anderem an das Centre Marc Bloch in Berlin, die École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniveristät Linz in Wien, das Centre de recherches sociologiques sur le droit et les institutions pénales (CESDIP) in Versailles, die Johns Hopkins University in Baltimore, das Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien und das Institut für Rechts- & Kriminalsoziologie in Wien. Andrea Kretschmann ist Professorin für Kultursoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg und assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin.

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