LIAS: Das Gegenteil von Vergessen ist Gerechtigkeit

Public Fellow Charlotte Wiedemann über Empathie und Erinnerungskultur

25.09.2024 „Mein Buch müsste eigentlich heißen: ‚Den Schmerz der anderen begreifen und respektieren – denn es ist eine intellektuelle Anstrengung.“ Charlotte Wiedemann begann ihr Public Fellowship am Leuphana Institute for Advanced Studies (LIAS) in Culture and Society mit einem Vortrag und einer Lesung zu „Kolonialismus, Erinnerung, Solidarität“. Ihre Fragen sind nicht leicht zu beantworten und ließen niemanden im vollbesetzten „mosaique – Haus der Kulturen“ in der Katzenstraße in Lüneburg gleichgültig.

©Julia Knop
©Julia Knop
©Julia Knop

Als Public Fellow wird Charlotte Wiedemann die Programmatik des LIAS anhand ihrer eigenen Themenschwerpunkte wie der europäischen und weltweiten Erinnerungskultur in die Öffentlichkeit tragen, wie etwa an diesem Abend im „mosaique“. Sie erweitert zugleich den Diskurs am LIAS um einen nicht-akademischen Erkenntnisgewinn: Ihre journalistische Arbeit weltweit, ihre Einbeziehung der Perspektive des Globalen Südens auf kulturelle und politische Krisenfelder, ihr zivilgesellschaftliches Engagement sollen die Forschungsarbeit des LIAS bereichern.

„Holocaust und Weltgedächtnis“ heißt der Untertitel ihres Buches „Den Schmerz der anderen begreifen“ (2022). Darin weitet sie den Blick auf die Erinnerung an Gewaltverbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozide in den ehemals vom Deutschen Reich kolonisierten Ländern in Afrika.

Da niemand einen „Drohnenblick“ auf das Weltgedächtnis habe, der objektiv, unvoreingenommen oder allgemeingültig sei, so Wiedemann, „haben wir nur verschiedene Perspektiven“, die dazu beitragen können, die historischen Erfahrungen außerhalb Europas und des Westens zum geachteten und notwendigen Kanon des Wissens und des Weltgedächtnisses werden zu lassen.
 

Welche Opfer haben eine Stimme?

Was in den vergangenen 40 Jahren in Deutschland als Erinnerungskultur etabliert wurde, müsse, so ihr Standpunkt, fortgeschrieben werden und koloniale Verbrechen und Genozide einbeziehen. Das betrifft hauptsächlich Tansania, Ruanda und Namibia. Dann könne man sich der Beobachtung stellen, dass es in Erinnerungskulturen Hierarchien gibt. So fragt Wiedemann „Welche Opfer haben Stimme über den kleinen Lebensbereich der direkten Nachkommen hinaus? Und welches Leid spricht die ganze Welt an?“ Diese Fragen hätten weniger mit konkreten geschichtlichen Ereignissen zu tun, sondern damit, dass es „letztendlich rassistische, jedenfalls nicht an Universalität und Egalitarismus orientierte Auffassungen von Menschen gebe, und dass darin die Nachkommen der Opfer einen verschiedenen Status haben.“ Solange es aber eine „Skalierung von Leid“ gebe, sei an Gerechtigkeit nicht zu denken. Und das Gegenteil von Vergessen ist nicht Erinnerung, sondern Gerechtigkeit. Als Beispiel führte sie den Besuch von Bundespräsident Walter Steinmeier im Maji-Maji-Museum in Songea, Tansania im November 2023 an, wo er sich für 300 000 Opfer in einem der größten Kolonialkriege des Deutschen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschuldigte – aber nichts folgte daraus.
 

Erinnerungskultur und Demokratiefähigkeit

Ihr Wunsch, das Gedenken an den Holocaust würde die Deutschen für die Opfer anderer Verbrechen – vor allem im Zuge des Kolonialismus – sensibilisieren und einem Gespür für die Gleichheit aller Menschen näherbringen, sei bisher nicht erfüllt worden, so Wiedemann. So gehöre Deutschland laut einer Studie der „Grundrechteagentur der Europäischen Union“ in seiner Haltung gegenüber Schwarzen zu den rassistischsten Ländern Europas. Dies aber bedeute, dass die so lange erstrittene Erinnerungskultur in Deutschland keine größere Demokratiefähigkeit zur Folge habe, und uns nicht dabei helfe, gegen autoritäre Versuchungen standhaft bleiben. „Es tut mir selbst weh, aber diesen Glauben habe ich verloren“, so Wiedemann. „Das ist sehr schmerzlich, denn ich gehöre ja zu der Generation, die sich über viele Jahre für diese Erinnerung eingesetzt hat.“ Eine außer-europäische Perspektive müsse, so Wiedemann, in die Geschichtsbetrachtung einbezogen werden, damit Erinnerung inklusiver und gerechter werden könne, ohne das eine gegen das andere zu stellen.

Auf die Publikumsfrage, was die Zuhörer im “mosaique” in dieser Situation tun könnten, bot Charlotte Wiedemann einen Blick in die Zukunft mit der Empfehlung, es müsse in Europa einen Zusammenschluss verschiedener zivilgesellschaftlicher, menschenrechtsbezogener Gruppen und Geschichtswerkstätten geben, die sich gemeinsam für eine Veränderung der europäischen Haltung zu den Themen einsetzten. Jeder könne darüber hinaus selbst für die Spuren kolonialer Geschichte in der eigenen Nachbarschaft aufmerksam werden. Die Diskussionen von Straßennamen mit kolonialem Hintergrund bieten die Gelegenheit, sich näher mit der Kolonialzeit auseinander zu setzen. So hatte auch Lüneburg bis 2008 eine „Carl-Peters-Straße“, benannt nach dem Begründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, dessen rassistische Überzeugungen und Gewalttaten schon zu Lebzeiten bekannt waren. Die Straße heißt heute „Albert-Schweitzer-Straße“.

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  • Dr. Christine Kramer