Über den Schmerz der Anderen - Postkolonialismus und multidirektionale Erinnerung

Ethik im Gespräch

22.11.2024 Vor dem Hintergrund ihrer jüngsten Veröffentlichung diskutierte Charlotte Wiedemann, Public Fellow am Institute for Advanced Studies mit Professorin Dr. Susanne Leeb, Kunsthistorikerin am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft und Awal Moussa, Student des Wirtschaftsingenieurwesens. Eingeladen hatte Prof. Dr. Thomas Kück vom Institut für Ethik und Theologie im Rahmen der Reihe „Ethik im Gespräch“.

©Thomas Kück
©Thomas Kück
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„Den Schmerz der Anderen begreifen“ lautet der Titel des Buches von Charlotte Wiedemann. „Was war der Antrieb zu diesem Buch“, fragte Thomas Kück. „Ich konnte nicht verstehen, warum wir so unterschiedlich auf Menschen blicken. Warum sind uns einige näher in ihren historischen Gewalterfahrungen als andere?“ So ging es in dem Gespräch um Kolonialismus und um den Platz, den er in unserer deutschen Erinnerungskultur einnehmen sollte.

Kück zitierte aus dem Buch von Wiedemann: „Den Schmerz der Anderen zu empfinden, mag unmöglich sein, aber ihn zu begreifen und zu respektieren, ist ein realistisches und notwendiges Ziel.“ Diese ethische Forderung Wiedemanns unterstützt Awal Moussa stark. Er habe auf dem Helmut-Schmidt-Gymnasium in Hamburg einen Geschichtslehrer gehabt, der ihn zwar inspiriert habe, aber Kolonialismus sei im Unterricht nur in einer einzigen Doppelstunde vorgekommen. „Gehört der Kolonialismus nicht auch zur deutschen Geschichte und fordert uns das nicht ethisch zu einem besseren Verhalten gegenüber den Opfernachfahren heraus?“, fragt der Student.

Charlotte Wiedemann kommt gerade aus Namibia zurück und war dort mit Opfernachfahren im Gespräch. Sie bedauert, dass sich Deutschland so lange gewehrt habe, die Verbrechen an den Nama und Herero als Genozid anzuerkennen und bis heute kein ratifiziertes Versöhnungsabkommen vorliege. Es könne nicht angehen, ergänzte Susanne Leeb, dass ein finanzieller Ausgleich für die Opfernachfahren als Entwicklungshilfe deklariert werde. Der Begriff gehe immer noch von ‘oben’ und ‘unten’ aus: von den Entwickelten und denen, die zur Entwicklung Hilfe bekämen. „Hier braucht es dringend Aufklärung, damit sich etwas ändert.“ Charlotte Wiedemanns Buch leiste einen enorm wichtigen Beitrag zur Aufklärung, damit der Kolonialismus in unserem Bewusstsein ankomme und in den Schulen künftig stärker behandelt werde.

„Was bedeutet diese Weitung des historischen Blickes für die Holocaust-Erinnerung in unserem Land?“ Mit dieser Frage nahm Thomas Kück eine aktuelle Debatte auf, in der sich unter anderem auch Jürgen Habermas zu Wort gemeldet hatte mit der Frage, ob der Holocaust im politischen Selbstverständnis in der Bundesrepublik nicht an Bedeutung verliere, wenn er in die Nachfolge der Kolonialverbrechen gerückt werde. Susanne Leeb kann diesen sogenannten ‘Historikerstreit’ 2.0 nicht nachvollziehen, insofern er eine Hierarchisierung der Verbrechen nahelegt. „Das ist absurd“, so sagt sie, und Awal Moussa und Charlotte Wiedemann pflichten ihr bei. „Als Deutsche sollten wir die Erinnerung an die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus dicht bei uns behalten und als Europäer:innen uns der Auswirkungen kolonialer Gewalt bewusst sein“, so Wiedemann. Hier gehe es nicht um eine Wertung, die eine Abstufung der einen oder anderen Gewaltgeschichte mit sich bringe. Den Schmerz der Anderen überhaupt erst einmal wahrzunehmen, darauf komme es an, sagte die Public Fellow und erhielt dafür in dem gut besuchten Hörsaal 4 starken Applaus.

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  • Prof. Dr. Thomas Kück