Kunst in Schulen: Die Energie von Meer-Rassel und Tintenklecksen
28.01.2025 Gespräche über Kunstkritik gibt es in der Schule selten. Beim didaktischen Workshop „Energie: Ja! – Qualität: Nein!“ lernen Schüler*innen der IGS Lüneburg über Kunst zu reflektieren: Finde ich eine Arbeit nur schön oder fasst sie mich auch emotional an? Die Idee entwickelte der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn. Er ist zurzeit Gastwissenschaftler am Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung und besuchte mit Lehramtsstudierenden den Kunstunterricht in Kaltenmoor.

Tintenkleckse wie Pfützen, Kugelschreiber-Kritzeleien und Neon-Kringel. Dazwischen stecken im Papier drei leere Spielzeugpatronen. „Sie stehen für die Attentate der vergangenen Wochen, das in Magdeburg und die beiden in Amerika“, erklärt ein Junge. Er geht in die siebte Klasse der IGS Lüneburg. Mit den Händen fährt er über das zerknitterte Blatt: „Die Welt ist nicht perfekt“, sagt er. Seine Klassenkameraden müssen entscheiden: Hat das Bild Energie oder nicht? Die Schüler sind sich einig: Das Bild macht sie nachdenklich, sie wollen darüber reden und sich austauschen über aktuelle Nachrichten. Das Bild hat Energie.
„Krass, mit wie viel Gewalt Kinder in der siebten Klasse bereits konfrontiert sind“, urteilt Bennet Schultz. Der Masterstudent ist einer der angehenden Lehrer*innen, die das Seminar „Critical Workshop: Energy: Yes! Quality: No!“ besuchen und mit Kindern und Jugendlichen über deren Kunst sprechen: „Meist wird im Unterricht etwas gestaltet. Gespräche über die Ergebnisse kommen oft zu kurz“, sagt der Student. Grundlage der Kritik ist das künstlerische Konzept des international renommierten Installationskünstlers Thomas Hirschhorn, der unter anderem in Paris, New York und Wien ausstellt: „Ich verwende den Begriff ,Energie‘ als positiven Begriff, weil er das Andere einschließt, er ist jenseits von gut und schlecht – selbst schlechte Energie ist Energie. Ich verwende den Begriff ,Qualität‘ als negativen Begriff, weil er andere ausschließt und weil er die Unterscheidung zwischen gut und schlecht trifft. Qualität ist exklusiv, luxuriös und basiert auf Tradition, Identität und Partikularismus. Ich brauche heute ein anderes Kriterium“, erklärt Künstler.
Zum ersten Mal wird das Konzept von angehenden Lehrkräften umgesetzt: „Am Kunstmarkt können nur Reiche teilnehmen. Auch Museen und Galerien sind nicht für jeden erreichbar. Aber zur Schule muss jeder gehen. In unserem Projekt ist Kunstkritik anti-hierarchisch. Die Schüler*innen reden miteinander, die Erwachsenen hören nur zu“, sagt Prof. Dr. Jordan Troeller, Juniorprofessorin für Kunstwissenschaft. Über jedes Objekt wird gleich lang gesprochen und es erfährt damit die gleiche Wertschätzung wie jedes andere Kunstwerk der Schüler*innen – energiereich oder nicht.
Ein anderer Schüler hat seine „Meer-Rassel“ mit in die Schule gebracht. So nennt er die Papprolle, die er mit Reiskörnern befüllt und mit bunten Papierbändern beklebt hat: Blau, Gelb und Orange stehen für die Farben des Wassers und der Sonne. Seine Klassenkameraden in der Runde werden ruhig und lauschen: „Der Klang weckt Erinnerungen an Ferien, Meer und Regen. Deswegen hat das Kunstwerk Power“, urteilt einer.
Beim nächsten Objekt - einem Gipskopf - spüren die Jungen erst Energie, als der Siebtklässler es auf den Boden wirft: „Du als Künstler darfst dein Werk zerstören. Aber niemand anderes“, erklärt Masterstudent Bennet Schultz.
Ehrlichkeit und Offenheit sind wichtige Bausteine von „Energie: Ja! – Qualität: Nein!“: „Kritik ist immer etwas Positives“, argumentiert Thomas Hirschhorn: „Ich bin Künstler, das ist schön, aber auch nicht immer einfach. Man muss sich mit der Welt konfrontieren.“
Auch den Studierenden gibt er Rückmeldung für ihre Kunst und das Unterrichten: „Er hat keinen didaktischen Filter. Das sorgt für mehr Offenheit“, sagt die Masterstudentin Louisa Haake. Für den Künstler auch klar: Einige Schüler*innen haben an diesem Tag wirklich etwas über Kunst gelernt.
Jorge Ponce Muñoz, selbst Künstler und Fachbereichsleiter für Kunst an der IGS, sieht den Besuch des Leuphana-Seminars an seiner Schule als Gewinn: „Wir erkennen in den Schülerarbeiten oft keine Kunst mehr, weil wir nur noch Kriterien anlegen. Heute war das anders.“
„Das Schlimmste, was Kunstlehrer*innen tun können, ist vorzuschreiben, wie Kunst aussehen soll“
Professor Dr. Jordan Troeller lud den Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn ein, eng mit Lehramtsstudierenden zusammenzuarbeiten. Seine Anwesenheit auf dem Campus während des Wintersemesters ist Teil umfassender Maßnahmen, die Kunstausbildung an der Leuphana und ihre Beziehung im Austausch zum Masterprogramm „Kritik der Gegenwart“ (Fakultät Kulturwissenschaften) und dem Kunstraum neu zu gestalten. Dort etwa hielt Thomas Hirschhorn einen Vortrag. Für Jordan Troeller bietet Kunst die Möglichkeit, unsere Welt neu zu gestalten. Schulen spielen eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung dieser Botschaft. „Das Schlimmste, was Kunstlehrer*innen tun können, ist vorzuschreiben, wie Kunst aussehen soll. Es ist eine Katastrophe, dass die Abiturprüfung in Niedersachsen den Lehrplan auf kanonische Figuren wie Caspar David Friedrich und Van Gogh ausrichtet. Das tötet die Kreativität. Kinder und Jugendliche müssen von diesen überragenden Figuren befreit werden. Sie brauchen Freiraum, um ihren eigenen künstlerischen Weg zu finden und über ihre Bewertungskriterien nachzudenken – das macht sie nicht nur zu besseren Denkern, sondern auch zu besseren Menschen. Indem sie Wege findet, diesen Ansatz zu verwirklichen, wird die Leuphana das Kunst-Curriculum der Zukunft beeinflussen.“
Leuphana-Studierende von Bundesfamilienministerin ausgezeichnet
Mehr als 200 Bewerbungen aus ganz Deutschland sind beim „Bündnis für die junge Genration“ eingegangen. Die Bundesfamilienministerin Lisa Paus hatte junge Menschen aufgerufen, ihre Projekte und Initiativen vorzustellen. Die Leuphana-Studierenden Clara Borchmann, Luisa Thorwarth, Bennet Schultz und Pia Dittmer auf dem Fachbereich Kunst punkteten mit ihrer Idee „Zwischenraum – Kunst zwischen Museum und Schule“. „Wir versuchen zeitgenössische Kunst an Kinder zu vermitteln und dabei ihre persönlichen Wahrnehmungen ins Zentrum zu stellen“, erklärt Luisa Thorwarth.
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- Prof. Dr. Jordan Troeller