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Lehrveranstaltungen

Geopolitik. Zur Geschichte des staatsbiologischen Denkens (spätes 19. Jahrhundert bis heute) (Seminar)

Dozent/in: Patrick Stoffel

Termin:
wöchentlich | Dienstag | 14:15 - 15:45 | 06.04.2020 - 10.07.2020 | C 14.001 Seminarraum | digitale Veranstaltung

Inhalt: Um 1900 entwickelten der deutsche Geograph und Zoologe Friedrich Ratzel und der schwedische Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén eine neue Perspektive auf politische Entitäten. Indem sie in der Politischen Geographie evolutionsbiologische Modelle zur Anwendung brachten, machten sie aus politischen Entitäten biologische: Staaten betrachteten sie als Lebewesen, als Superorganismen, die wie alles Leben den Gesetzen der Evolution unterworfen sind. Sie müssen ihre ökologische Nische bestmöglich nutzen und gestalten, um im Kampf ums Dasein der Staaten untereinander zu bestehen. Diese staatsbiologische Perspektive interessierte sich nicht länger für das Individuum, sondern für das „lebendige Volk“, arbeitete sich nicht länger am Gesellschaftsvertrag ab, sondern an den Gesetzmäßigkeiten der Evolution des Staates als Lebensform. Diese Perspektive blieb zuerst randständig, gewann aber im Verlauf des Ersten Weltkrieges rasant an Bedeutung. In der Zwischenkriegszeit schließlich nahm sie insbesondere in Deutschland eine geradezu hegemoniale Stellung ein, was die Deutung der (welt-)politischen Lage betraf. Unter der Führung des deutschen Offiziers und Geographen Karl Haushofer und getragen von einem unverhohlenen Revanchismus wurde die unter dem Begriff „Geopolitik“ gebündelten staatsbiologischen Überlegungen in der Zwischenkriegszeit institutionalisiert, popularisiert und zu einer angewandten Wissenschaft umgeformt, die sich dem NS-Regime als Hilfsinstrument andiente und die Expansionspolitik im Osten vorantrieb. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sah sich die Geopolitik für lange Zeit diskreditiert, aktuell taucht sie unter den Bedingungen einer konstatierten ökologischen Krise in gewandelter Form wieder zutage. Das Seminar arbeitet in einem ersten Teil mittels (auszugsweiser) Lektüre der einschlägigen Werke die Geschichte des staatsbiologischen bzw. geopolitischen Denkens auf (1897–1945). Ein zweiter Teil widmet sich mit der Lektüre von Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ (1855) und Bruno Latours Gifford-Lectures „Facing Gaia“ (2013) der literarischen Vorgeschichte des geopolitischen Denkens und seinem Nachleben im Zeitalter des Anthropozäns.