Forschungsprogramm

Recht und Transformation

Vielfältige Konflikte, divergierende Zielvorstellungen, widerstreitende Interessen sowie kollidierende Wertvorstellungen, die mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen einhergehen, führen zu großen Herausforderungen für ein friedliches und kooperatives gesellschaftliches Zusammenwirken. Die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften im 21. Jahrhundert liegt vor diesem Hintergrund insbesondere in ihrer Fähigkeit, Disruptionen und sich daraus ergebende Transformationen gut zu bewältigen. Dem Recht kommt in dieser Hinsicht eine zentrale Rolle zu. Es ist Voraussetzung für die Legitimität und Leistungsfähigkeit von Demokratien und Voraussetzung für Freiheit und Wohlstand, gerade auch im Hinblick auf tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen.

Hieran schließen sich Fragen nach den Möglichkeiten, Grenzen und der Legitimität politisch-gesellschaftlicher Steuerung, Stabilisierung und Ermöglichung an, die insbesondere im Spannungsfeld von Verrechtlichung und demokratischer Willensbildung zu sehen sind. Diese Fragen stehen im Fokus des neuen Joachim Herz Promotionskollegs, dessen Forschungsprojekte und Dissertationen wichtige Beiträge zur Zukunftsfähigkeit demokratischer Gesellschaften leisten werden. Das Programm wird dabei bewusst über eine klassisch-dogmatische Perspektive in der Rechtswissenschaft hinausgehen, indem Recht im Kontext analysiert wird. Die Akzentuierung von Transformationsfragen in den Forschungsarbeiten der Promovierenden, zum Beispiel durch die juristische Betrachtung der Dekarbonisierung, Digitalisierung oder internationaler Konflikte, zahlt auf den universitätsweiten Profilschwerpunkt „Transformation“ ein.

Klimawandel/Dekarbonisierung und Recht

Die Klimakrise ist heute allgegenwärtig und es wird immer häufiger von neuen wetterbedingten Katastrophen, Ernteausfällen und Hungersnöten, der Zerstörung und sogar Versteppung von Gebieten oder der Abholzung des Regenwaldes berichtet. Gleichzeitig verlangt es die Menschen überall auf der Welt, vor allem aber in den bereits industrialisierten Ländern und in den wohlhabenden Mittelschichten der Schwellenländer, beständig nach Konsum, Wohlstand und neuen Technologien - und dieser Durst nimmt sogar noch immer weiter zu. Die Aufrechterhaltung des Status Quo, eines möglichst sorglosen und angenehmen Lebensstils, ist daher ein Faktor, der direkt mit den Bemühungen um einen Übergang zu einer umweltfreundlichen und nachhaltigen Zukunft kollidiert.

Wie Alexandra R. Harrington, Professorin an der Albany Law School, in ihrer Abhandlung "Just Transitions and the Future of Law and Regulation" (Springer Int. Publishing, 2022) feststellte:

[…] the history of innovation can often be seen as working parallel to or in conflict with the wish of multiple actors to retain the status quo in order to preserve current jobs, social structures and sources of economic power. As has been noted, ‘[a]ny transition away from the current fossil fuel-based energy systems will not only involve massive changes in energy production and infrastructure but will also impact workers in these industries, their families, and the communities in which they live'.1

Die unbedingte Notwendigkeit, unseren Lebensstil, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft den Erfordernissen der ökologischen Verträglichkeit und der Nachhaltigkeit anzupassen, um den Planeten und sein Ökosystem für künftige Generationen erhalten zu können, kollidiert daher mit Wirtschafts- und Machtinteressen, mit dem Wunsch nach Wohlstand und Bequemlichkeit und nach dem Streben nach Erhalt des bisher bekannten Modus vivendi. Eine Veränderung der gegenwärtigen Situation und die Einführung einer nachhaltigen Lebensweise kann folglich nur gelingen, wenn die Gesellschaften als Ganzes zusammenarbeitet, Entscheidungen im Zuge akzeptierter und etablierter demokratischer Verfahren trifft und auf der Grundlage von Recht, Legalität und Legitimität handelt. Wie diese Veränderungen stattfinden und rechtlich ausgestaltet werden können, ist einer der Kernaspekte der Forschungsagenda des Joachim Herz Promotionskollegs.

1 Sandeep Pai, A Systematic Review of the Key Elements of a Just Transition for Fossil Fuel Workers (Smart Prosperity Institute, Clean Economy Working Paper Series, 2020), S. 2.

Relevante Literatur

  • Alexandra R. Harrington, Just Transitions and the Future of Law and Regulation (Springer Int. Publishing, 2022)
  • Jonas Ebbesson, Ellen Hey (eds.), The Cambridge handbook on the sustainable development goals and international law (Cambridge University Press, 2022)
  • Felix Ekardt, Sustainability: Transformation, Governance, Ethics, Law (Springer, 2020)

Digitalisierung/ Digitalität und Recht

In der Entscheidung Cengiz (u.a.) gegen die Türkei (Urteil vom 1. Dezember 2015, Nr. 48226/10 und 14027/11) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Hinblick auf die fortschreitende Digitalisierung Folgendes festgestellt:

The Internet has now become one of the principals means by which individuals exercise their right to freedom to receive and impart information and ideas, providing as it does essential tools for participation in activities and discussions concerning political issues and issues of general interests.

Das Internet, digitale Vernetzungsmöglichen und der Austausch von Ideen, Gedanken und Informationen mit digitalen Mitteln sind daher für viele Menschen zu einem festen Bestandteil ihres Lebens und ihres Alltags geworden. Aufgrund des grundlegenden Charakters der betroffenen Rechtsprinzipien - insbesondere des freien Zugangs zu Informationen, der Mitwirkungsrechte an demokratischen Verfahren, des Rechts auf ungehinderte und geheime Kommunikation - spielt ihr Erhalt und Schutz vor jeglicher Art von (unrechtmäßigen) Eingriffen eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Rechte des Einzelnen in demokratischen Strukturen.

Die Bedrohungen für diese Rechte sind im 21. Jahrhundert jedoch manigfaltig. So enthüllten führende Nachrichtenportale im Juni 2013 Details über Geheimdienstoperationen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens zur digitalen Überwachung (vgl. externe Beiträge auf Zeit.de oder theguardian.com). Bereits heute kontrollieren mehrere Regierungen den Zugang ihrer Bürger zum Internet durch nationale Gesetze und technische Auflagen (Zensur, Massenüberwachung, Geoblocking usw.). Auf der anderen Seite stehen die Menschen vor der Frage, wie sie ihre individuellen Rechte und Interessen vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung und der Verfügbarkeit aller Arten von persönlichen Informationen im Internet schützen können. Trotz der technischen Möglichkeiten der Informationsverbreitung und des ständigen unmittelbaren Zugriffs darauf müssen die Würde des Einzelnen und seine Menschenrechte geachtet werden; wie auf dem Weltgipfel über die Informationsgesellschaft 2003 vereinbart wurde, ist es daher notwendig, Folgendes zu erreichen: Eine "people-centred, inclusive and development-oriented Information Society […] respecting fully and upholding the Declaration of Human Rights". Die Rechtswissenschaft steht also vor der Herausforderung, einen Ausgleich zwischen diesen gegensätzlichen Interessen - dem Schutz der grundlegenden Freiheitsrechte und dem Recht des Einzelnen auf Privatsphäre und Kontrolle über personenbezogene Informationen - zu ermöglichen, um fundamentale Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung zu schützen und gleichzeitig mit den technologischen Entwicklungen im digitalen Bereich Schritt zu halten.

Relevante Literatur

  • Angelo Jr Golia, Matthias C. Kettemann, and Raffaela Kunz (Eds.), Digital Transformations in Public International Law (Nomos, 2022)
  • Wolfgang Hoffmann-Riem, Recht im Sog der digitalen Transformation (Mohr Siebeck, 2022)
  • Reza Montasari, Victoria Carpenter, and Anthony J. Masys (eds.), Digital Transformation in Policing: The Promise, Perils and Solutions (Springer, 2023)
  • Georg Glasze, Eva Odzuck, Ronald Staples (Eds.) Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter (transcript, 2022)
  • Marcello Ienca, Oreste Pollicino, Laura Liguori, Elisa Stefanini, and Roberto Andorno (eds.), The Cambridge Handbook of Information Technology, Life Sciences and Human Rights (Cambridge University Press, 2022)

(Inter-)Nationale Konflikte und Recht

Sowohl nationale als auch internationale Krisen können erhebliche Auswirkungen auf die innere Verfasstheit eines Landes, auf seine Außenbeziehungen und - in bestimmten Fällen - sogar auf das internationale System als Ganzes haben. (Bürger-)Kriege, Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen, Pandemien, Terrorismus und viele andere Faktoren sind dazu in der Lage, die Politik und die Stabilität eines Landes, genauso wie seine Stellung in der Völkerrechtsgemeinschaft zu beeinflussen. Staaten, die in Bürgerkriege hineingezogen werden, können sich beispielsweise von stabilisierenden Faktoren innerhalb ihrer jeweiligen Weltregionen zu Unsicherheitfaktoren und Quellen für Terrorismus und Chaos entwickeln - und damit die eigene nationale Sphäre, aber auch Nachbarländer und internationale Partner in Mitleidenschaft ziehen.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat das internationale System tiefgreifende Veränderungen durchlaufen und dieses

[…] strategic global restructuring is characterized by uncertainties, and a new balance in power relations between the main actors has yet to be achieved.1

Ereignisse wie der Ukraine-Krieg oder die COVID-19-Pandemie haben uns (erneut) die globale Dimension von Krisen vor Augen geführt und stellen die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit vor Herausforderungen. Auf nationaler Ebene sind derartige Kirsen jedoch ebenso wichtig, einflussreich und gefährlich. Die letzten Jahre haben uns z.B. sehr deutlich gezeigt, dass im Falle einer Pandemie nicht nur die Notwendigkeit und Erforderlichkeit von Maßnahmen ausschlaggebend sein dürfen. Stattdessen muss diesbezügliches staatliches Handeln auch zwingend den (nationalen) gesetzlichen, verfassungsrechtlichen und demokratischen Anforderungen an die Verabschiedung von Gesetzen und an die Vornahme von Verwaltungsakten entsprechen und die individuellen Rechte der Bürger respektieren. Der Ukraine-Krieg hingegen stellt die ukrainische Regierung auch in Bezug auf ihre eigene nationale Politik vor große Herausforderungen. Sie steht vor der Gefahr, von den russischen Aggressoren als Staat ausgelöscht zu werden; dennoch muss sie das ius ad bellum, die Rechte ihrer Bürger und demokratische Verfahren beachten, um nicht durch den Verlust des Rückhalts in der eigenen Bevölkerung innerlich gespalten zu werden.

Gerade in Krisenzeiten ist es von größter Bedeutung, dass Demokratien nicht auf die notwendigen demokratischen Verfahren verzichten, die die Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit ihres Handelns garantieren. Andernfalls gehen sie das Risiko ein, ihre Legitimität zu verlieren und in Richtung Diktatur abzudriften. Wie solchen gefährlichen und riskanten Situationen begegnet werden kann und wie man gleichzeitig den faktischen Gegebenheiten, Herausforderungen und Anforderungen gerecht werden kann, ohne die verfassungsmäßigen Strukturen und demokratischen Verfahren zu vernachlässigen und die rechtlichen Anforderungen zu verletzen, ist eine Frage, die in den kommenden Jahren überlegte, durchdachte, aber auch kritische rechtswissenschaftliche Forschung erfordert.

1 Francisco Rojas Aravena, ‘Introduction: Hazardous and Erratic Times—Greater and Deeper Conflicts’ in Francisco Rojas Aravena (ed.), The Difficult Task of Peace: Crisis, Fragility and Conflict in an Uncertain World (Palgrave Macmillan, 2020), S. 3

Relevant Literature

  • Carsten Stahn and Jens Iverson, Just Peace after Conflict: Jus Post Bellum and the Justice of Peace (Oxford University Press, 2020)
  • Isabel V. Hull, A Scrap of Paper: Breaking and Making International Law during the Great War (Cornell University Press, 2014)
  • Francisco Rojas Aravena (ed.), The Difficult Task of Peace: Crisis, Fragility and Conflict in an Uncertain World (Palgrave Macmillan, 2020)
  • Ursula Werther-Pietsch, Transforming Security: A New Balance-of-Power Doctrine (Springer Int. Publishing, 2022)

Recht als Faktor in Transformationen

Im Falle von neuen gesellschaftlichen oder technologischen Entwicklungen, Wandlungsprozessen oder Krisen (jeglicher Art) kommt dem Recht oft die Aufgabe zu, die durch diese Vorkommnisse ausgelösten Transformationsprozesse in einem rechtlichen Rahmen einzuhegen und dadurch für Stabilität zu sorgen. Doch auch das Recht kann die Rolle des wandlungsinduzierenden Faktors innehaben. In derartigen Fällen bricht es selbst mit etablierten Überzeugungen und ist Impulsgeber für Transformationen, die das Potenzial haben, zu Veränderungen oder gar Disruptionen innerhalb der Gesellschaft zu führen.

Zu beobachten sind derartige Entwicklungen u.a. in Fällen von kontroversen Gerichtsentscheidungen oder Gesetzesinitiativen. Wenn z.B. neue Denkmuster aufkommen und in der Literatur, in den Medien und/oder der Gesellschaft diskutiert werden, ohne jedoch bereits von der breiten Bevölkerungsmehrheit übernommen worden zu sein, kann die Überführung dieser Ansichten in eine juristische Realität (durch eben jene Gerichtsent-scheidungen oder Gesetze) enorme politische und gesellschaftliche Sprengkraft haben. 

In diesen Fällen ist das Recht handlungsorientierte Normwissenschaft, gestaltet Transformationsprozesse, setzt Impulse und löst selbst Veränderungen aus. Eine Untersuchung der Rolle des Rechts als Impulsgeber (statt einer rein dogmatischen Perspektive und der Rolle als Stabilisierungsfaktor verhaftet zu bleiben) wird Kernpunkt der Arbeit des Joachim Herz Promotionskollegs sein.

Relevante Literatur

  • Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays (Suhrkamp 1998)
  • Dieter Grimm, Sovereignty: The Origin and Future of a Political and Legal Concept (Columbia University Press, 2015)
  • Jörg Philipp Terhechte, Europäische Verfassungsstudien (Nomos, 2020)