Terror der Hamas in Israel: „Alle stellen sich auf einen längeren Krieg ein“

20.10.2023 Seit den brutalen Angriffen der palästinensischen Terror-Organisation am 7. Oktober ist in Israel nichts mehr, wie es war. Kann der Nahen Osten jemals Frieden finden? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Tobias Lenz, Professor für Internationale Beziehungen.

©Leuphana/Gregor Jaap
„Das meiner Meinung nach größte Hindernis ist die Frage wie der Weg zur Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung gestaltet werden könnte: Wer macht den ersten Schritt bei der Umsetzung? Im gegenwärtigen Klima wechselseitigen Misstrauens will niemand diesen ersten Schritt gehen.“
Wie ist die Lage in Israel?

Ich habe mit einem Kollegen von der Hebräischen Universität Jerusalem telefoniert.Eigentlich sollte wie an deutschen Universitäten jetzt auch die Vorlesungszeit in Israel beginnen. Die Universitäten und Schulen sind geschlossen. Frühestens in drei Wochen sollen sie wieder öffnen. Aber damit rechnet niemand. Das Land ist heruntergefahren. Es herrscht eine gespenstische Ruhe, die nur durch Bombenalarm durchbrochen wird. Alle stellen sich auf einen längeren Krieg ein.

Der nicht mehr abzuwenden ist?

Es gibt ein tiefes Gefühl der Unsicherheit. Alle in Israel sind sich einig, dass die Angriffe der Hamas eine Zeitenwende markieren. Im Sinne von: Es ist nichts mehr, wie es davor war. Alle sind schockiert ob der Brutalität und Unmenschlichkeit dieser Angriffe; und verunsichert ob der Unfähigkeit der Regierung, seine Bürger zu schützen. Jetzt geht es darum, die militärische Abschreckungsfähigkeit des Landes, die durch den Angriff massiv gelitten hat, wiederherzustellen. Selbst sehr linksgerichtete Israelis sind der Ansicht, dass das notwendig ist, um die Existenz des Landes zu sichern. Wie das jedoch genau zu bewerkstelligen ist, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten.

Wie ist das völkerrechtlich zu bewerten?

Das Völkerrecht erlaubt die Selbstverteidigung, die aber dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit unterliegt. Damit ist gemeint, dass die Selbstverteidigung nur dem Ausschalten des Angriffs dienen darf und verhältnismäßig sein muss in Hinblick auf den erlittenen Schaden. Was das im konkreten Falle bedeutet, darüber wird viel gestritten. Unabhängig davon gibt es das humanitäre Völkerrecht, das weder Angreifende noch Angegriffene kennt. Dazu gehört der Schutz von Zivilisten und das Verbot von Vertreibungen. Palästinenser kritisieren deshalb die Aufforderung Israels, den nördlichen Gazastreifen zu räumen. Es wird eine Vertreibung vermutet.

Israel wurde am 14. Mai 1948 gegründet. Noch am gleichen Tag erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem jungen Staat den Krieg. Seitdem gab es immer wieder Konflikte. Wird die Region je Frieden finden?

Noch bis vor 20 Jahren wurde unter anderem eine Ein-Staaten-Lösung diskutiert, um die Region zu befrieden. Argumente hierfür waren die Größe Israels: Die Fläche sei zu klein, um sie sinnvoll zu teilen, und der Gazastreifen als einzelnes Land nicht lebensfähig. Die Idee war ein föderaler Staat mit starken Selbstbestimmungsrechten für die Palästinenser. Aber diese Option ist tot. Keiner kann sich vorstellen, mit dem Feind auf der jeweils anderen Seite in einem Staat zusammen zu leben. Der Hass und die gegenseitigen Verletzungen sitzen zu tief.

Ist eine Zwei-Staaten-Lösung möglich?

Auch eine Zwei-Staaten-Lösung wie sie die Oslo-Friedensverhandlungen anstrebten, ist schwierig. Es gibt viele offene Fragen: Was passiert mit den Flüchtlingen, die vor den verschiedenen Kriegen in andere Gebiete geflohen sind? Was passiert mit den Siedlern im Westjordanland? Die aktuelle Regierung hat den Siedlungsbau massiv ausgeweitet und duldet selbst den Ausbau illegaler Siedlungen. Ohne eine vollständige Räumung der Siedlungen im Westjordanland ist eine Friedenslösung aber nicht vorstellbar. Ein souveränes Palästina dürfte eine Armee besitzen; Israel wird das nicht wollen. Diese Schwierigkeiten könnten jedoch im Rahmen von Verhandlungen durch Kompromisse von beiden Seiten gelöst werden. Das meiner Meinung nach größte Hindernis ist jedoch die Frage, wie der Weg zur Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung gestaltet werden könnte. Wer macht den ersten Schritt bei der Umsetzung? Im gegenwärtigen Klima wechselseitigen Misstrauens will niemand diesen ersten Schritt gehen. Geschweige denn sich für Verhandlungen an einen Tisch zu setzen.

Kann sich der Konflikt über die Grenzen Israels ausbreiten?

Bisher hat sich die Hisbollah relativ zurückgehalten. Aber was passiert, wenn die Israelis tatsächlich mit Bodentruppen im Gazastreifen stehen? Für Israel ist die Hisbollah gefährlicher als die Hamas, weil sie militärisch besser ausgerüstet ist. Beide Terrororganisationen werden vom Iran unterstützt, aber es ist leichter Waffen in den Libanon zu schmuggeln als in den abgeriegelten Gazastreifen. Gefahr besteht auch, dass die Israelis von syrischer Seite angegriffen werden.
Weniger gefährlich, aber wahrscheinlicher, sind Angriffe im und aus dem Westjordanland heraus. Offen ist auch, wie lange die arabischen Bürger Israels ruhig bleiben. Es könnte also zu Auseinandersetzung innerhalb des Landes kommen.

In einigen Talkshows wird die Gefahr eines Weltkriegs diskutiert.

Nein, das sehe ich nicht. Ich halte die Gefahr eines Weltkriegs nicht für besonders hoch. Alle Parteien über diesen Konflikt hinaus sind daran interessiert, den Konflikt einzudämmen. Das ist auch die Politik von Olaf Scholz, richtigerweise zu schauen, dass es zu keiner weiteren Eskalation kommt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Kontakt

  • Prof. Dr. Tobias Lenz