„Damit sie klüger werden als wir.“ - College Leiterin Dr. Michaela Wieandt im Porträt

22.01.2024 Seit Herbst 2023 ist Dr. Michaela Wieandt Leiterin des Leuphana College. Im Porträt erzählt sie, was das Bachelor-Studium besonders macht.

„Wenn wir eines auf jeden Fall sagen können, dann dass wir nicht zu einer vermeintlich sicheren Welt zurückkehren werden. Besser ist es zu akzeptieren, dass wir mit all diesen Herausforderungen konfrontiert sind und es deswegen wichtig ist zu lernen, damit umzugehen – persönlich und als Gesellschaft.“ ©Leuphana / Ciara Charlotte Burgess
„Wenn wir eines auf jeden Fall sagen können, dann dass wir nicht zu einer vermeintlich sicheren Welt zurückkehren werden. Besser ist es zu akzeptieren, dass wir mit Herausforderungen konfrontiert sind und es wichtig ist zu lernen, damit umzugehen – persönlich und als Gesellschaft“, sagt College-Leiterin Dr. Michaela Wieandt.

Beim Studieren geht es um Erkenntnis – darum, Denkprozesse in Gang zu bringen und engagiert zu kommunizieren und nicht etwa, Referate in Credit Points einzutauschen. Michaela Wieandts eigenes Studium gab ihr eine Vorstellung davon, wie das am besten funktionieren kann: „Was ich als Studentin toll fand, waren Seminare, in denen die Lehrenden den Lernenden nahe waren, bei denen es Feedback gab und man wirklich intensiv über Texte diskutieren konnte. Als Student*in hat man ihnen einfach angemerkt, wenn sie mit Begeisterung bei der Sache waren und Lust hatten, den Studierenden etwas beizubringen.“ Es gelte, Studierende dabei zu unterstützen, selbstständig zu handeln: „In der Schule bekommt man viel vorgegeben, an der Uni dagegen kann und muss man seinen Lernprozess selbst organisieren, Seminare auswählen und absolvieren, seine Zeit selbst einteilen, zurechtkommen und viel lernen, besonders Dinge, von denen man vorher nicht wusste, dass man sie nicht weiß.“

Die gebürtige Bremerhavenerin studierte in Göttingen Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie. Sie schloss an der TU Berlin mit einer Promotion über Macht in internationalen IT-Beratungsprojekten ab und absolvierte einen Zertifikatsstudiengang in Erwachsenenpädagogik an der Humboldt Universität. Nach beruflichen Stationen in verschiedenen Forschungseinrichtungen und Universitäten wechselte sie zur ESCP, einer französischen Business School mit Standorten in Berlin, London, Paris, Madrid, Turin und Warschau. In diesem internationalen Kontext baute sie den Bereich „Karriereberatung und Unternehmenspartnerschaften“ auf, während die Organisation in Berlin stark wuchs und sich immer mehr internationalisierte. Im Herbst 2023 kam sie an die Leuphana. Lüneburg war ihr klares Ziel: „Ich wollte an einer Institution arbeiten, die es mit Nachhaltigkeit wirklich ernst meint und für sich den gesellschaftlichen Auftrag definiert hat, die Welt über die Ausbildung von Menschen im Rahmen von Klimawandel und Demokratieverständnis zu verbessern.“
 

Selbsterkenntnis als Teil und Wirkung des Studiums

Lange bevor sie ihre neue Aufgabe antrat, lernte Michaela Wieandt Ehemalige der Leuphana als Kolleg*innen kennen und schätzen. Dabei stellte sie fest, dass Leuphana-Studierende etwas Besonderes sind. Dieser Eindruck hat sich seitdem bestätigt: „Ich sehe, dass viele Studierende, die hierherkommen, Themen der Verbesserungen an ganz verschiedenen Stellen in der Welt tatsächlich sehr wichtig finden. Sie haben sich sogar explizit aus diesem Grund beworben. Die College-Studierenden sind aufgeweckt.“
Weltverbesserung funktioniert nicht ohne Selbsterkenntnis. „Selbsterkenntnis als Teil und Wirkung des Studiums ist eine essenzielle Bedingung dafür, andere Dinge zu lernen. Man kann die Welt nicht verbessern, wenn man nicht sich selbst und den eigenen Lernprozess gemeistert hat. Wenn man die Welt besser machen will, muss man sie erst einmal kennenlernen.“ Für dieses Kennenlernen sind starke, relevante Major-Programme wichtig.

Bei Abiturient*innen ist der Wunsch nach Sicherheit und klarer Orientierung und eindeutigen, wenig Eigeninitiative erfordernden Berufen zu beobachten. Die College-Leiterin plädiert dafür, dass Hochschulen auf diese Entwicklung reagieren: „Gerade weil die jetzige Generation so viele Verunsicherungen erfährt – mit der Pandemie, neuen und alten Kriegen, Inflation, Aufstieg der Rechten – sind Universitäten in der Verpflichtung, ihnen die Kompetenzen zu vermitteln, die es braucht, um mit dieser Unsicherheitserfahrung zurecht zu kommen. Wenn wir eines auf jeden Fall sagen können, dann dass wir nicht zu dieser vermeintlich sicheren Welt zurückkehren werden. Besser ist es zu akzeptieren, dass wir mit all diesen Herausforderungen konfrontiert sind und es deswegen wichtig ist zu lernen, damit umzugehen – persönlich und als Gesellschaft. Unsere Studierenden sollen lernen, wie man Unsicherheit positiv, konstruktiv und verantwortungsvoll entgegentritt und die eigenen Wege findet.“
 

Eine Welt, die sich ständig verändert

Das College zeigt, dass umfassende universitäre Bildung und Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt einander nicht widersprechen, sondern langfristig zusammengehören, glaubt Michaela Wieandt. „Man kommt mit dem Fachstudium oft nicht mehr so weit wie früher. Wenn man sich die Entwicklung von Karrieren und Berufen anschaut, fällt auf, wie sehr sich die Landschaft verändert. Einerseits werden Karrieren fragmentierter: Früher hat man viele Jahre beim gleichen Unternehmen gearbeitet. Man ist irgendwann eingestiegen und hat sich hochgearbeitet und war dort bis zum Ende des Berufslebens. Heute wechselt man nach drei bis fünf Jahren den Job und das wird zunehmend erwartet. Andererseits haben wir einen starken Wandel durch die Entwicklung neuer Technologien: Berufe können sich in kurzer Zeit stark verändern, Arbeit wird vernetzter, digitaler und flexibler, neue Berufe entstehen und alte Berufe verschwinden. Man kann plötzlich vor der Herausforderung stehen, dass bestenfalls der Job oder das ganze Berufsfeld einfach nicht mehr so sind, wie sie zu Beginn der Karriere waren und man völlig neues Wissen, neue Fähigkeiten und Kompetenzen braucht. Als Beispiel: Wer weiß, wo uns die Entwicklung von KI noch hinbringt? Man muss Menschen interdisziplinär ausbilden, damit sie die Chance haben, sich weiter zu entwickeln und anzupassen an eine Welt, die sich ständig verändert. Es geht also nicht nur ums Weltverbessern, sondern um die Studierenden selbst, und zwar auf der Ebene individueller Wege, das ist sehr wichtig.“ Um dies noch weiter auszubauen, plant die College-Leiterin gemeinsam mit den Fakultäten neue Minor einzuführen.

Einem manchmal zu hörenden Einwand, dass es effektiver sei, einfach konkrete Handlungsanleitungen zu lehren (wie bepflanzt man eine Wiese nachhaltig? Wie gründet man ein Unternehmen? Wie wird man Lehrer*in und wie versteht man Kunst?) und sonst nichts, hält Michaela Wieandt entgegen: „Eine konkrete Praxis braucht auch immer eine Strategie dahinter. Zu einer Strategie kommt man nicht, wenn man nicht auch Theorien und Theorieentwicklung gelernt hat. Darüber hinaus muss sich Theorie auch weiterentwickeln. Wenn man Lernenden nur Fakten präsentiert, dann lernen sie sie auswendig, aber denken nicht selbst mit. Das müssen wir ihnen aber beibringen, damit wir als Gesellschaft weiterkommen. Deswegen ist auch das Komplementärstudium mit dem fachübergreifenden Studium so wichtig. Hier lernen die Studierenden, mit anderen Disziplinen über den fachlichen Tellerrand zu schauen, ihre Wissenschaft zu reflektieren und mit Hilfe anderer Fächer weiter zu denken. Dazu bilden wir die Menschen aus: Damit sie klüger werden als wir.“