„Damit sind wir auf einem guten Weg!“ Ethik im Gespräch zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes

31.05.2024 75 Jahre Grundgesetz. Das war der Anlass der jüngsten Veranstaltung in der Reihe ETHIK IM GESPRÄCH am 22. Mai 2024, dem Vortag des Verfassungsjubiläums. Dazu begrüßte PD Dr. Thomas Kück vom Institut für Ethik und Theologie den Lüneburger Professor für das politische System der Bundesrepublik, Dr. Michael Koß: In zwei Impulsreferaten stellten der Kirchenhistoriker und der Politikwissenschaftler Thesen zur Bedeutung des Grundgesetzes in ethischer Perspektive auf, setzten sie in Beziehung zu Immanuel Kant und öffneten anschließend das Gespräch für Impulse und Fragen aus dem Publikum. Dieses Format fand im gut besuchten Raum der Stille im Zentralgebäude regen Zuspruch.

„Damit sind wir auf einem guten Weg!“ ETHIK IM GESPRÄCH zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes ©Thomas Kück
„Damit sind wir auf einem guten Weg!“ ETHIK IM GESPRÄCH zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes ©Thomas Kück
„Damit sind wir auf einem guten Weg!“ ETHIK IM GESPRÄCH zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes ©Thomas Kück

Thomas Kück machte den Aufschlag: Er blickte historisch auf die Entstehung des Grundgesetzes, dessen Unterzeichnung in der Pädagogischen Akademie in Bonn, die in ihrem lichten Bauhaus-Stil der feierlichen Szene eine leichte Note gab, und stellte dabei die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) besonders heraus: „Dieses Grundrecht bleibt eine dauernde Aufgabe. Dranbleiben lohnt sich!“

Der Mensch im Mittelpunkt

Die Entstehung des Grundgesetzes prägte der historische Hintergrund. Die furchtbaren Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sollten sich niemals wiederholen können. Dieser Terror und Totalitarismus ablehnende Geist durchwehe das gesamte Grundgesetz: Nie wieder! Und daher: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 GG). Nicht der Staat und seine Aufgaben stehen an erster Stelle, auch nicht Nation oder Volk, sondern der Mensch und seine unveräußerlichen Rechte.

Damit kam die Sprache auf einen – neben dem Grundgesetz – weiteren Jubilar in diesem Jahr: 300 Jahre Immanuel Kant. Er wird als Vordenker der menschlichen Würde gesehen, wenn er im Beschluss seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) sagt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Dieses moralische Gesetz erhebe den Wert eines Menschen durch Intelligenz und Persönlichkeit. Es ist dieses Verständnis von der intelligenten Persönlichkeit eines jeden Menschen, das es schließlich über Umwege als unantastbare Würde ins Grundgesetz schafft. Wer dieser Vernunft begründeten Würde des Menschen folgt, der wird mit Kant ein moralisch verantwortbares Leben führen, so schließt Kück.

Diese Lobeshymne auf den Artikel über die unantastbare Würde des Menschen stellte Michael Koß in seinem Impulsreferat in den aktuellen politischen Kontext – und setzte ein großes Fragezeichen dahinter. „Ist die gegenwärtige Migrationspolitik mit dem Postulat von der Würde aller Menschen vereinbar?“ Das Grundgesetz spreche nicht von der Würde der Deutschen, sondern aller Menschen; selbst wenn die Mitglieder im Parlamentarischen Rat das Grundgesetz als ein Provisorium formuliert haben, welches die gegenwärtigen Herausforderungen, zu denen die Migrationsbewegungen zählen, nicht adressieren konnte. Dennoch habe dies in Zusammenwirken mit der Ewigkeitsklausel die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes bedingt: „Man kann Gutes tun, auch wenn man es gar nicht so stark erstrebt“, so Koß.

In ethischer Perspektive hob Michael Koß einen anderen Artikel des Grundgesetzes hervor. In Artikel 77 Absatz 2 findet er einen oft unterschätzten, aber bedeutsamen Mechanismus zur Konfliktregulierung, den Vermittlungsausschuss. Finden Bundestag und Bundesrat in einem Gesetzgebungsverfahren keine Einigung, dann tritt der in Artikel 77 beschriebene Automatismus in Kraft, der am Ende einen Kompromiss hervorbringt. Und dieser Kompromiss sei ein ethischer Wert an sich, „folgenreich, elegant und minimalinvasiv“.

Keine rechtsfreien Räume

„Gibt es auch faule Kompromisse?“, fragte Thomas Kück. „Wenn ein Kompromiss zu Lasten Dritter ausgeht, dann sprechen wir von einem faulen Kompromiss“, entgegnete Michael Koß. Mit dieser Definition lasse sich in der gegenwärtigen Migrationspolitik einiges in Frage stellen. Darauf reagierte das Publikum angeregt und sprach das jüngste Beispiel einer Rückführung von russischen Asylbewerbern aus einer Kirche im benachbarten Bienenbüttel an. Einen rechtsfreien Raum gebe es nicht, auch nicht in den Kirchen, so der Theologe. Aber es sei eine bisher tolerierte Praxis gewesen, dass bei schwer zu entscheidenden Grenzfällen Ausnahmen gemacht würden, bis eine sechsmonatige Frist abläuft und eine Duldung in Deutschland möglich wird. Einige Reaktionen stellten die Fristen und das Verfahren bei schwierigen Asylanträgen in Frage und positionierten sich gegen die Entscheidung, das sog. Kirchenasyl in Bienenbüttel polizeilich zu beenden. Andere erkannten an, dass „die Landesinnenministerin auch keine leichte Position hat. So eine Lücke im System kann schnell ausgenutzt werden.“ Michael Koß meint: „Man muss manchmal groß scheitern und einen Anspruch haben, welchen man nicht halten kann.“

Zuletzt richtete der Theologe Kück den Blick auf das Verhältnis von Kirche und Staat im Grundgesetz und verwies auf den früheren Richter am Bundesverfassungsgericht, Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der hatte eine für das Rechtsverständnis der Bundesrepublik wegweisende Theorie aufgestellt, die als das – nicht unumstrittene - Böckenförde-Diktum in die deutsche Rechtsgeschichte eingegangen ist. Demnach lebe der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Vielmehr sei er darauf angewiesen, dass seine Bürgerschaft ein moralisches Ethos teile, das in einer gemeinschaftlichen Kultur gelebt werde. Sicher sei das nicht. Es bleibe immer ein Wagnis.

Kück leitet daraus die These ab, dass der Staat auf die Kirchen als Sozialform von Religion angewiesen sei: „Ohne Religion ist kein Staat zu machen!“ Dem konnte Michael Koß zwar nicht voll zustimmen, wollte aber auch nicht ganz widersprechen. Das Böckenförde-Diktum sei in der weiteren deutschen Rechtsgeschichte kontrovers diskutiert worden. Aufklärung und Humanismus haben ebenso zur freiheitlichen Kultur beigetragen, wie die Kirchen durch ihre Rituale einen gewissen Vorteil haben, Menschen zu erreichen und moralisch sowie ethisch zu sensibilisieren. Auch hier gab es eine Reihe von zustimmenden und fragenden Reaktionen aus dem Publikum, von denen einige Lehramtsstudierende auf die bleibende Bedeutung des Unterrichtsfaches Religion abzielten.

75 Jahre Grundgesetz – gibt es ein Resümee? So fragte Thomas Kück am Ende. Und Michael Koß reagierte spontan: „Ein Anspruch verliert seine Gültigkeit nicht, auch wenn er noch nicht erfüllt ist. Damit sind wir auf einem guten Weg!“

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  • PD Dr. Thomas Kück