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Veranstaltungen von Prof. (apl.) Dr. habil. Ulf Wuggenig


Lehrveranstaltungen

Individuum, Interaktion, Gesellschaft: Kultur- und Sozialwissenschaftliche Perspektiven (Seminar)

Dozent/in: Ulf Wuggenig

Termin:
wöchentlich | Freitag | 14:15 - 15:45 | 17.10.2025 - 30.01.2026 | C 5.310 Seminarraum

Inhalt: Am Anfang der Begründung der Soziologie als einer eigenständigen Disziplin im deutschen Sprachraum standen Arbeiten, die sich auf Antonyme stützten, in denen der Begriff Gesellschaft mit entgegengesetzten Begriffen konfrontiert wurde. So trugen die Werke, die mit zu den bekanntesten der „Gründungsväter“ der Soziologie stehen, folgende Titel: Ferdinand Tönnies, „Gemeinschaft und Gesellschaft“, Max Weber „Wirtschaft und Gesellschaft“, oder Georg Simmel „Grundfragen der Soziologie. Individuum und Gesellschaft“. Das Seminar geht von Georg Simmels Begründungsversuch der Soziologie aus, der sich nicht nur auf das Begriffspaar Individuum und Gesellschaft stützt, sondern in kritischer Absetzung davon auch auf den Begriff der „Wechselwirkung“ bzw. dessen Synonym „Interaktion“. Simmel meinte, in sozialen Wechselwirkungen zwischen Individuen das Wesentliche der Gesellschaft bestimmt zu haben. Von Anfang an gab es jedoch auch andere Versuche, die Soziologie zu begründen, etwa in Frankreich. Dort erklärten Emile Durkheim und Marcel Mauss „soziale Tatbestände“ im Sinne überindividueller Muster, in welche Individuen hineingeboren werden und durch welche sie geformt werden, worauf sich auch deren Begriff der „Institution“ bezieht, zum zentralen Gegenstand der Soziologie. Sowohl die Linie Simmels als auch die Linie von Durkheim und Mauss führten zur Ausbildung von Traditionen von Denkstilen, welche das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in zunehmend differenzierter Form theoretisch wie empirisch noch genauer zu bestimmen versuchten. Simmel wiederum reagierte wie auch Durkheim auf historisch frühere Versuche das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu bestimmen, die noch in der Philosophie angesiedelt waren. U.a. auf Kant, auf Marx sowie auf den britischen Utiliarismus (Adam Smith, Jeremy Bentham, John Stuart Mill), den Wurzeln der Wirtschaftswissenschaften wie auch kognitivistischen Spielarten der Psychologie. Einen eigenen Weg ging Sigmund Freud, der nicht von Gesellschaft sprach, sonderen für überindividuelle Prägungen statt dessen den Begriff der Kultur gebrauchte. Für das Seminar sind an neueren einschlägigen Zugängen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aus Soziologie und Kulturwissenschaften insbesondere die "Kritische Theorie" von Adorno und Habermas, Feld-Habitus-Kapital Theorie von Pierre Bourdieu, die Theorie der „vier Kulturen“ bzw. Denkstile von Mary Douglas und die Theorie der Interaktionsrituale von Erving Goffman und Randall Collins interessant. Außerdem noch die spezielle Ausformung der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Individuellem und Kollektivem, die in Gestalt der „Sozialpsychologie“ eine eigenständige disziplinäre Form gewonnen hat. All diese Traditionen unterscheiden sich wiederum von wissenschaftlichen Zugängen, wie man sie vornehmlich in den Wirtschaftswissenschaften findet und die sich dadurch auszeichnen, dass sie den Begriff der Gesellschaft für eine „fiktionale Entitiät“ (Murray Rothbard) halten, oder in ihm nichts anderes als eine Aggregation von Individuen sehen. Diese Vorstellungen, welche keine emergenten Effekte von Wechselwirkungen von Individuen und auch keine Prägungen durch überindividuelle Muster berücksichtigen, dienen als Kontrastfolie. Label, unter denen die radikaleren Varianten solcher Theorien heute firmieren sind Libertarismus, Paläolibertarismus oder auch Anarcholibertarismus, Denkstile, die eine Renaissance in jüngerer Zeit nicht zuletzt in den USA erfuhren. Ihre historischen Wurzeln liegen bei einem Ökonomen wie Ludwig von Mises.