Vorlesungsverzeichnis

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Lehrveranstaltungen

Die Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Erkenntnistheorie und Politik zwischen den Weltkriegen (Seminar)

Dozent/in: Patrick Stoffel, Christina Wessely

Termin:
wöchentlich | Dienstag | 14:15 - 15:45 | 01.04.2019 - 05.07.2019 | C 5.019 Seminarraum

Inhalt: Die Zwischenkriegszeit sah eine Erschütterung aller epistemologischen Grundfesten, die von zahlreichen Intellektuellen als eine „Krise der Wirklichkeit“ wahrgenommen wurde. Die Ausläufer des Bebens, mit dem Quantenphysik und Relativitätstheorie, die ‚neue‘ Physik von Max Planck und Albert Einstein, die (natur-)wissenschaftliche Ordnung ins Wanken brachten, erreichten endlich auch die gesellschaftliche Mitte und rissen deren geteilte Wirklichkeit in Stücke. Diese ‚geteilte Wirklichkeit‘ mag zwar immer schon eine Illusion gewesen sein, aber weil überdies die in den frühen 1920er Jahren sich zuspitzende „Krise des Historismus“ die Möglichkeit der historischen Erkenntnis überhaupt zur Disposition stellte und in ideologische Grabenkämpfe versunkene Politiker den Wissenschaftlern in nie dagewesenem Ausmaß die Deutungshoheit über die Wirklichkeit streitig machten, wurde ihr Verlust doch als schmerzhaft empfunden. Unter dem Eindruck dieser Krise konstatierte der junge Bakteriologe und Mediziner Ludwik Fleck 1929: „Jedes denkende Individuum hat […] seine eigene Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit.“ Im Seminar beschäftigen wir uns mit den wichtigsten Positionen (u.a. von Ernst Troeltsch, Karl Mannheim und Ludwik Fleck) des in der Zwischenkriegszeit mit Verve ausgetragenen Kampfes um die ‚Zuständigkeit‘ für die Wirklichkeit zwischen Politik, Wissenschaft und (medialer) Öffentlichkeit. Wir fragen nach den historischen Möglichkeitsbedingungen der Krise und nach den Programmen, mit denen die Wissenschaften, aber auch die Künste auf die krisenhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit zu reagieren suchten (u.a. Historische Epistemologie, Wissenssoziologie und Neuer Roman). Zu guter Letzt beschäftigt uns das Verhältnis, in dem diese historische Krise der Wirklichkeit zur aktuellen Lage steht, in der erneut massive Spannungen zwischen erlebter politischer Wirklichkeit und von den Wissenschaften entworfener Realität sowie eine Vielzahl divergierender Wirklichkeiten auszumachen sind.

Vom Reflexbogen zum ›Capture‹-Kapitalismus: Zur Genealogie des Verhaltens. (Seminar)

Dozent/in: Erich Hörl

Termin:
wöchentlich | Dienstag | 12:15 - 13:45 | 02.04.2019 - 02.07.2019 | C 5.325 Seminarraum

Inhalt: Profilierte Diagnostiken der heutigen Existenz- und Regierungsweise unter medientechnologischen Bedingungen der großen Verdatung weisen auf die absolute Zentralität des Verhaltensproblems hin. So ist etwa vom „Daten-Behaviorismus“ (Antoinette Rouvroy) der Gegenwart die Rede, der eine vorgreifende Beschlagnahme potentiellen Verhaltens und damit eine riesige Reduzierung des Möglichen ins Werk setzt oder von der fiktiven Ware des „Verhaltens“ (Shoshana Zuboff), die die Wirklichkeit selbst vereinnahmt und nunmehr nach den fiktiven Waren von Rente, Arbeit und Geld die kommende kapitalistische Akkumulationslogik bestimmt. Die Erfassung und die Kontrolle, die Vorhersage, das Management und die Steuerung des Verhaltens stehen im Zentrum eines neuen Vereinnahmungsapparates des »Capture«-Kapitalismus, der sich um das Verhaltensproblem gruppiert. Doch was heißt „Verhalten“? Auf welchen Schauplätzen formiert sich das Wissen vom Verhalten? Wie wird dieses Wissen hergestellt, was sind die konkreten Anordnungen seiner Formierung und wo wird dieses Wissen seinerseits operativ? Das Seminar nimmt die enorme Virulenz des Verhaltensproblems zum Anlaß, um die Wissens- und Mediengeschichte der Verhaltensfrage seit dem 17. Jahrhundert aufzurollen und damit mindestens ein Stück weit die Gewordenheit dieser Zentralkategorie der zeitgenössischen Macht-Wissens-Formation offen zu legen. Philosophie, Physiologie, Psychologie, Psychiatrie, Kriminologie, Ethologie, Kybernetik, Ökonomie, Recht und Informatik sind zentrale Felder der Entfaltung und Ausdifferenzierung dieser Problematik, die im Seminar freilich nur exemplarisch entfaltet werden können. Es werden u.a. Texte gelesen von Michel Foucault, Gilles Deleuze und Felix Guattari, Georges Canguilhem, Norbert Wiener, John B. Watson, Burrhus F. Skinner, Gary Becker, Antoinette Rouvroy, Shoshanna Zuboff.