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Lehrveranstaltungen

Theorien und Praktiken der "Postkritik" (Seminar)

Dozent/in: Christoph Brunner

Termin:
wöchentlich | Dienstag | 14:15 - 15:45 | 05.04.2022 - 05.07.2022 | C 40.108 Seminarraum | C 40.108

Inhalt: Kritik gilt als die harte Währung der Geisteswissenschaften. Sie ist die selbstauferlegt Aufgabe und Legitimation kulturtheoretischer Arbeit. Mittels Kritik werden gesellschaftliche Verhältnisse befragt, Meinungen widerlegt, vermeintliche Wahrheiten überprüft. Insbesondere in Zeiten vermehrter Krisen und zunehmender Unsicherheiten nimmt Kritik eine zentrale Rolle ein, indem sie dazu anhält Gegebenes oder Behauptetes zu hinterfragen. Kritik ist somit eine Denkbewegung und zugleich ein machtvolles Instrument, das im Zuge immer vielseitiger Aneignungen selbst in Frage gestellt wird. So waren ehemals spezifische Individuen qua ihrer Expertise zur Kritik befähigt, Intellektuelle, Kunstkritiker*innen, oder Fachexpert*innen. Heute sehen sich dieser „Autoritäten“ mit einer Vielzahl von Meinungen und ihren medialen Verbreitungen konfrontiert, die Zurückweisung des „Establishments“ als kritische Instanz wird zur Leitfigur radikaler sozialer Kräfte unter dem Deckmantel der Kritik, die diese Salonfähig machen soll. Während diese Bewegungen meist zutiefst anti-demokratische Züge haben, lässt sich zugleich fragen, woher sich das Selbstverständnis von Kritik speist, das einige Wissensformen und -praktiken und ihre Kenner*innen zur Kritik befähigt und zugleich andere delegitimiert und ausschließt? Kritik und das kritische Denken wurden seit der Aufklärung immer auch instrumentalisiert, um bestimmte Wissensformen zu legitimieren und andere zu delegitimieren. Eine solche epistemische Gewalt weitet sich auch auf das Menschenbild aus, so galt z.B. gemeinhin das "männliche" als rational und kritikvermögend, das "weibliche" als emotional und daher für Kritik eher ungeeignet. Gleiches wurde geltend gemacht für Unterscheidungen zwischen vernunftbegabten und kosmopolitischen – sprich männlichen, weißen und europäischen – Subjekten und den „Anderen.“ Mit dem Fokus auf den Begriff der Postkritik möchte das Seminar eine wissenskritische Genealogie der Kritik aufzeigen. Einsatzpunkt ist die Aufklärung und insbesondere Immanuel Kants drei Kritiken (reine Vernunft, praktische Vernunft, Urteilskraft) die als Zäsur eines bestimmten Kritikverständnisses gesehen werden können. Hieran schließen sich in zweiter Instanz insbesondere Kritiken dieser rationalistischen Fassung von Kritik an, wie sie im späten 19. und 20. Jahrhundert erkennbar werden (u.a. Nietzsche, Adorno/Horkheimer, Arendt, Cixous, Foucault, Butler). In dritter Instanz wendet sich das Seminar insbesondere feministischen, queeren und post-/dekolonialen Diskursen der Gegenwart zu, um die zumeist heteropatriarchale Herrschaftlichkeit eurozentrischer Kritik zu dezentrieren. Postkritik meint hier nicht, jenseits jeder Kritik und somit eine totale Beliebigkeit der neoliberalen Gegenwart. Viel mehr befragt der Begriff der Postkritik, wie Kritik selbst ein zu hinterfragender Begriff und eine teils gewaltvolle Praxis ist und welche Alternativen sich bieten. Das Seminar wird begleitet mit Praxisbeispielen gegenwärtiger sozialer und künstlerischer Bewegungen und Protestformen, die ihre Politiken jenseits eines oppositionellen Kritikverständnisses entwickeln – sprich postkritische arbeiten.