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Lehrveranstaltungen
Konflikt, Kritik und Zensur (Seminar)
Dozent/in: Ulf Wuggenig
Termin:
wöchentlich | Montag | 14:15 - 15:45 | 14.10.2024 - 31.01.2025 | C 5.311 Seminarraum
Inhalt: Seminar, Kritik, Zensur, Konflikt Kritik Kritik gehört zu Wissenschaft, wie auch zu jedem anderen Feld der kulturellen Produktion (u.a. Musik, Literatur, Kunst, Medien), ist sie doch Teil ihrer Dynamiken. Sie sichert Selbstreflexion und sorgt für Wandel. Kritik meint im allgemeinsten Sinn die Fähigkeit zu unterscheiden, zu prüfen, zu beurteilen (das Griechische „kritein“). Sie impliziert somit die Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, Moral oder Ästhetik (im Anschluss an Kant) und erstreckt sich auf die Anwendung von Wertstandards, die prüfende Beurteilung von Worten (Aussagen, Hypothesen, Meinungen etc.), von visueller und akustischer Kultur (Kunstwerke), aber auch von Personen, Kollektiven, Systemen. Bei Autor*innen, die zu den meistzitierten der Kulturwissenschaften zählen, findet sich der Begriff der Kritik angesichts seiner Bedeutung deshalb im Titel oder Untertitel ihrer Hauptwerke (z.B. Kant, Kritik der reinen Vernunft; Kritik der Urteilskraft; Marx, Kapital. Kritik der politischen Ökonomie; Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft; Horkheimer und Adorno, Traditionelle und kritische Theorie). Zu beachten ist, dass sich Kritik nicht nur sprachlich artikuliert – Albert Hirschmans „voice“ –, sondern auch über Verhalten zum Ausdruck gebracht werden kann. Für letzteres steht der Begriff „exit“, Praktiken von die Nicht-Konsum, Nicht-Teilnahme oder Nicht-Wahrnehmung von Angeboten (Gütern, Veranstaltungen wie Ausstellungen oder Konzerten). Der Kritik werden unterschiedlichste Funktionen zugeschrieben. So wird sie einerseits als eine destruktive Intervention betrachtet, andererseits aber auch als etwas besonders Wertvolles erkannt: Sie ermöglicht die Korrektur von Vorurteilen und Irrtümern, ist als eine Voraussetzung für Lernprozesse anzusehen. Eine kulturwissenschaftliche Forschungsmethode wie die Kritische Diskursanalyse beschreibt ihr grundsätzliches aufklärerisches Interesse etwa damit, sowohl undurchsichtige als auch transparente strukturelle Beziehungen von Dominanz, Diskriminierung, Macht und Kontrolle zu analysieren, wie sie sich in der Sprache manifestieren: „ ‘Kritisch‘ bedeutet“, so heißt es bei einem Hauptvertreter wie Norman Fairclough, „verborgene Zusammenhänge und Ursachen aufzuzeigen.“ Zensur Freiheiten, sich wissenschaftlich oder kulturell kritisch zu artikulieren, sind auch Grenzen gesetzt. Kulturelle Felder unterliegen Regulierungen formeller (juristischer) ebenso wie informeller Art, somit „Zensur“ und „Selbstzensur“. Als Praktiken oder Prozesse von Grenzziehung sind Zensurphänomenen mehr oder weniger umstritten bzw. umkämpft. Daran erinnern in jüngerer Zeit in Zusammenhang um große Kunst-Events (u.a. documenta Kassel, Ruhrtriennale Bochum, Berlinale, ESC, Oscar) aufgeflammte Diskussionen um Kunst- und Meinungsfreiheit und deren Grenzen, oder auch die Versuche, die Anwendungen Künstlicher Intelligenz bzw. die entsprechenden Konzerne zu regulieren. (u.a. AI Act, Digital Services ACT der EU, Ruschenmeyer 2023) In den Sozialwissenschaften drehen sich Auseinandersetzungen um Zensur bzw. Regulierung nicht selten um die Legitimität von Werturteilen, speziell um die von moralischen oder politischen Bewertungen. Können sie legitimerweise Teil von Wissenschaft sein? Oder sollte sich Wissenschaft auf die Analyse der sozialen Bedingungen und Effekte von Werturteilen, oder auch aktivistischen Praktiken beschränken, also sich als Wissenschaft von Kritik, aber nicht als kritische Wissenschaft in einem normativen Sinn verstehen? (vgl. die Auseinandersetzungen um Fehlschlüsse des „Sein -> Sollen“ Typs im Sinne von David Hume, in der Soziologie aktiviert von Max Weber und später primär von Philosophen-Soziologen ausgefochten im sog. Positivismus-Streit, mit Beteiligten wie u.a. Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Karl Popper, in jüngerer Zeit als Disput zwischen „Soziologie der Kritik“ à la Luc Boltanski und Bruno Latour und Vertreter*innen kritischer Soziologie in der Tradition von Pierre Bourdieu ausgetragen). In den Geisteswissenschaften wiederum spielt in Zusammenhang mit Grenzziehungen die Frage nach den Linien zwischen Texten etwa der Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft und andererseits solchen von Literatur-, Kunst- und Musikkritik eine erhebliche Rolle, zumal es fließende Übergänge zwischen diesen Textsorten gibt. Konflikt Sowohl Kritik, als auch Zensur stehen in engem Wechselverhältnis mit Konflikten. Sie können durch Konflikte ausgelöst werden, oder solche nach sich ziehen. Ähnlich wie der Kritikbegriff wird auch der Konfliktbegriff in einer Reihe von Bedeutungen gebraucht. Gemeinsam ist vielen seiner Bestimmungen jedoch, dass von Widersprüchen, Unvereinbarkeiten, Spannungen, Dissonanzen oder Antagonismen ausgegangen wird, seien diese intra-personal angelegt, oder als Interaktion zwischen zwei oder mehr individuellen oder kollektiven Akteuren. So lautet eine gängige Definition etwa: “Conflict . . . is conceptually defined as a form of intense interpersonal and / or intrapersonal dissonance (tension or antagonism) between two or more interdependent parties based on incompatible goals, needs, desires, values, beliefs/or attitudes.“ (Ting-Toomey, Toward a theory of conflict and culture. 1985, S. 72). Zu unterscheiden ist u.a. zwischen der Intensität von Konflikten, die von sprachlichen Auseinandersetzungen und „symbolischen Aggressionen“ (Bourdieu) bis hin zu physischer Gewaltanwendung bzw. Vernichtung von Gegnern reichen kann. Unter prozessualen Gesichtspunkten zu beachten sind Konfliktdynamiken wie Eskalation und De-Eskalation und deren Bedingungen sowie Strategien von Konfliktmanagement und -mediation. Das Seminar widmet sich zunächst der Bestimmung der Begriffe Kritik, Zensur und Konflikt in maßgeblicher philosophischer und soziologischer Literatur. Es behandelt in nächsten Schritten exemplarische Beispiele für epistemische Kritik, für Sozialkritik, für Künstlerkritik sowie für Musik- bzw. Kunstkritik. Es folgt die Beschäftigung mit tatsächlicher oder wahrgenommer bzw. vermeintlicher Zensur in kulturellen Feldern bzw. im Feld der Datenökonomie und Reaktionen auf reale oder imaginiere Zensurmaßnahmen. Schließlich widmet sich das Seminar der aktuellen Debatte um gesellschaftliche Polarisierungen (u.a. Andreas Jäger, Hyperpolitik 2023; Steffen Mau u.a., Triggerpunkte 2023, Richard Münch, Polarisierungen. Die postmodernen Kämpfe um Teilhabe und Anerkennung 2023). Sofern solche Polarisierungsdiagnosen zutreffen sollten können sie als ein Symptom von Komplexitätsreduktion angesehen werden. Dies gemäß Hypothesen der Konflikttheorie von Johan Galtung: „Konflikte im wirklichen Leben sind meist sehr komplex, elementare Konflikte gibt es nur in Lehrbüchern…. In der Hitze der Konfliktspannung ist eines der ersten Opfer die Konfliktkomplexität. Die Komplexität wird dann durch den Prozeß der Polarisierung reduziert.“ (Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln 1997, S. 146)