Rolf Großmann

reality tv und reality computing -
von der wundersamen Vermehrung der Realität

Als Norbert Wiener in "The Human Use of Human Beings" [1] seine Vision einer zweiten industriellen Revolution skizzierte, waren in der Diskussion bereits einige Modelle der weiteren Entwicklung der elektronischen Rechenautomaten durchgespielt: Das des mächtigen Rechners, das der Steuerzentrale kybernetischer Regelkreise wie auch dasjenige der intelligenten Denkmaschine. Die beiden letztgenannten Modelle sind, anders als alle Modelle des reinen Rechnens, unmittelbar und existentiell mit der Wechselbeziehung von Realem [2] und Kalkuliertem verknüpft. Schon Alan Turing hatte die Entwicklung von denkenden Maschinen an ihre Lernfähigkeit gebunden. Turing hatte nicht nur an eine adaptive Struktur gedacht, sondern auch an die - damals völlig utopische - Möglichkeit eines selbständigen Kontakts der Maschine mit der Umgebung, um resultierende Veränderungen des Systemstatus in die automatische dynamische Organisation des Systems einzubeziehen. [3] Was heute wie eine geläufige systemtheoretische Formulierung klingt, war damals noch eine visionäre Erweiterung des kybernetischen Regelkreises, der jedoch allein in seiner Konzeption dieses Kontakts und der damit verbundenen Prozesse das Potenzial der gerade entstehenden Elektronenrechner aufzeigte. Damit war ein Grundstein für das Verständnis der Relation von realer Welt und Informationsverarbeitung gelegt, der für die weitere Entwicklung der Informationstechnik als Basismodell diente. Die inzwischen selbstverständliche Durchdringung der Alltagswelt mit programmgesteuerten Prozessen einer parallelen informationstechnischen Datenwelt, von der im folgenden die Rede sein wird, kann durchaus als Konsequenz einer nunmehr hybriden mensch-maschinellen Kybernetik verstanden werden.

Zwar stellte sich die Konstruktion humanoider Intelligenz (unter der Bezeichnung 'künstliche Intelligenz') schon aufgrund der Komplexität genau dieser Lernvorgänge – von anderen grundsätzlichen Hindernissen ganz zu schweigen - als wenig sinnvoll und aussichtsreich heraus. Ebensowenig sind Visionen von Menschmaschinen oder Maschinenmenschen ihrer Verwirklichung nahe. Das der Kybernetik scheinbar so Naheliegende wie Spektakuläre, die Konstruktion von Androiden und Cyborgs trat nicht ein. Ein solches Bild von Menschmaschinen erweist sich heute als naiv. Science-Fiction Autoren oder Techno-Propheten wie Hans Moravec irren, wenn sie von Robotern, Androiden und Cyborgs als hybriden Protagonisten einer neuen Phase technischer Evolution träumen. In solchen Szenarien zeigt sich eine verständliche kulturelle Systemblindheit: Autonome Individuen nach dem Menschenbild westlicher Kulturtradition sollten nun auch die hybride Welt bevölkern. Dass künftige Kontrollmechanismen keiner individuellen oder gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen, dass also Big Brother weder für ein Individuum noch für eine Elite-Klasse stehen könnte, sondern für die immanenten Gesetze einer erweiterten Realität im Zusammenspiel von 'natürlichen' und künstlichen Regelkreisen, war bisher wenig greifbar und lag jenseits der gängigen Science-Fiction. [4] Nicht irgendein Beobachter kontrolliert die arrangierte Realität, sondern Beobachter, Beobachteter und technisches Medium sind Teil des Gesamtsystems. Als aufschlußreich erweist sich das Konzept des kybernetischen Regelkreises damit weniger in der Vermenschlichung von Maschinen als in der kalkulatorischen Organisation menschlicher Umgebung und damit auch der kulturellen Existenz des Menschen selbst. Es ist in den Zeiten des cyberspace, von "Cybernet", "Cybercash", "Cybershop" und Cyberetc. ... an der Zeit, sich die Basis der cybernetics ins Gedächtnis zu rufen.

Wiener definiert Grundbegriffe wie Information, Kommunikation, Nachricht etc. weder mathematisch - wie etwa Claude Shannon in der Theorie der Signalübertragung - noch metaphorisch, wie Warren Weaver und unzählige Nachfolger der Kommunikationsschwemme in den Sozial- und Geisteswissenschaften der 1970er. Sein Konzept verknüpft Datenerhebung, Zustandsveränderung und Kontrolle im direkten, funktionalen Sinne:

"In giving the definition of Cybernetics in the original book, I classed communication and control together. Why did I do this? ... When I control the actions of another person, I communicate a message to him, and although this message is in the imperative mood, the technique of communication does not differ from that of a message of fact." [5]

Während McLuhans (späterer) Gedanke der technisch-medialen extensions of man eher als ein perspektivischer Wechsel einer medienphilosophischen Position zu verstehen ist, in der die anthropologische und kulturelle Verfaßtheit des Menschen zentraler Orientierungspunkt bleibt, ist bei Wiener die 'kalte' hierarchische Informationswelt der Daten und Befehle hybrider Mensch-Maschine- Kommunikation das vorherrschende Denkmodell.

"When I give an order to a machine, the situation is not essentially different from that which arises when I give an order to a person. ... To me, personally, the fact that the signal in its intermediate stages has gone through a machine rather than through a person is irrelevant and does not in any case greatly change my relation to the signal." [6]

Die beiden Zitate sind nicht nur Wieners Credo, auf dem seine Kybernetik aufbaut. Eine gleichartige symbolische Struktur von Daten und Befehlen einerseits und die Konzeption der Mensch-Maschine-Kommunikation auf arbiträren Symbolen sind allgemeine Grundbedingungen der IT-Entwicklung. Die ausschließliche Repräsentation von 'Welt' durch allein auf Vereinbarung beruhenden Zeichen ist ihre 'Natur', d.h. eine 'Parallelwelt' entsteht, deren Zeichenvorrat und –struktur ein Ergebnis rationaler Konstruktion ist und die durch nichts anderes als durch Vereinbarung (und nicht durch Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen etc.) mit ihrer Umgebung verbunden ist.

Wieners weiterer Gedankengang ist einfach: der einfachen maschinellen Rückkoppelungsschleife der Maschine entspricht der bedingte Reflex des Tieres. Bereits hier wirkt die steuernde Kraft nicht mehr unmittelbar physisch, der elektrische Weidezaun wird nach einer kurzen schmerzhaften Phase der Konditionierung gemieden, ohne einem Ausbruch des eingezäunten Stieres standhalten zu können. Das Tier erhält – mit Wieners Worten – einen "Wechsel in der Programmierung“ [7] . Komplexe kybernetische Systeme kommunizieren dagegen sowohl untereinander wie auch mit ihren menschlichen Operatoren über sprachliche Strukturen und erlauben eine gemeinsame Teilnahme an Regelkreisen. Die letzte Stufe dieser Konzeption bildet das Primat der Information, "der Mensch - eine Nachricht". Die Bedingungen seiner physischen Existenz und damit alles, was - etwa als individuelle Gehirnstruktur - darauf aufbaut, läßt sich danach arbiträr codieren und so in einer vernetzten Datenwelt kommunizieren. Das daraus ableitbare Bild einer 'Informationsgesellschaft' im Sinne der zweiten industriellen Revolution Wieners ist das der totalen globalen Kontrolle.

Der vertraute umgangssprachliche Begriff von Information, bei dem manche Zeitgenossen an die vielen Informationen im Internet oder multimediale Präsentationsformen denken, deren größte Gefahr darin vermutet wird, in einer unüberschaubaren Informations'flut' zu ertrinken, ist aus dieser Sicht Mißverständnis, Verharmlosung und Verniedlichung zugleich. Information schlägt hier um in nicht mehr anthropozentrierte vernetzte Daten einer erweiterten Realität, deren Macht als Verknüpfung von Daten, Kalkül und Kontrolle der physischen Welt im direkten Wortsinn grenzenlos wird.

'Alte' und 'neue' Medienrealitäten

Bereits das elektronische Massenmedium Fernsehen generiert eine Realität, die sich aus dem begrenzten Raum des Abgebildeten mit seiner arrangierten Realität in die Alltagsrealität ausbreitet. Dies läßt sich kaum deutlicher zeigen als am gerade aktuellen Beispiel "Big Brother" (RTL II, Frühjahr 2000), dessen Gattung zwischen reality tv, gameshow und soap ('Real-Life-Soap' schreibt die Fernsehzeitschrift) einzuordnen wäre. Doch "Big Brother" ist schon ein wenig mehr als Fernsehen. Es ist nicht nur eine Serien-TV-Produktion, sondern etwas, was man im Kunstbereich 'Installation' nennen würde. Teil dieser Installation ist das ständige video streaming im Internet (inkl. Kamerasteuerung). Erst in diesem weiteren Übertragungskanal gibt es die Möglichkeit zur - im Gegensatz zu Orwells "1984" - öffentlichen Dauerüberwachung des arrangierten real life.

Diese Art von reality tv ist die letzte, extremste Stufe einer vorgeblichen Abbildung der Wirklichkeit durch Medien. Die Wirklichkeit der Massenmedien [8] ist bereits eine Erweiterung der Realität im Sinne der McLuhanschen extensions, deren Möglichkeitsraum jedoch noch auf menschlicher Wahrnehmung und soziokulturellen Faktoren beruht. Kommunikation in den Massenmedien folgt dem Modell einer 'als-ob-Kommunikation' oder, wie einer der Ansätze lautet, der para social interaction. Die Konstruktivität des Mediums, die spätestens seit "Big Brother" auch für den unkritischen Betrachter offensichtlich wird, wirkt in ihren realen Konsequenzen noch indirekt als Folge der Rezeption, nur die steuerbare Internetkamera gibt eine Vorahnung, was folgen könnte.

Reality computing formt dagegen über Sensorik und Interfaces direkt die hybride Realität menschlicher Umgebung, der Umweg über die Imagination ist überflüssig. Seine Simulationen sind keine Phantasmen, seine Semantik ist nicht die Ecoscher kultureller Einheiten, sondern enthält funktionsfähige Modelle von Teilaspekten einer uns nur vermittelt zugänglichen Realität. Eine seiner Grundfunktionen ist die remote control, wie sie der Telekunst-Klassiker "Telegarden" vorführt: der Roboterarm zur Telegartenarbeit bewegt sich gleichzeitig in der Realität wie in einem Datenmodell, das die Kontrolle per Internet ermöglicht. [9] Auch dort gibt es tele-vision: eine Internetkamera liefert Bilder des Pflanzenwachstums, an denen sich die Gärtnerinnen und Gärtner erfreuen können. Notwendig für die Funktion der Installation ist die Kamera allerdings nicht, sie ließe sich auch durch andere feedback-Informationen ersetzen.

(http://telegarden.aec.at/cgi-bin/gard-control/G?). Das linke Teilbild zeigt eine Simulation des Roboterarms, das rechte Teilbild wird durch eine am Roboterarm angebrachte Kamera erzeugt.

Pflanzen wachsen langsam und sind Teil der menschlichen Erfahrungswelt. Das Bild wandelt sich, wenn Aspekte der physischen Welt ins Spiel kommen, die jenseits der menschlichen Wahrnehmung und ihrer Verarbeitungsgeschwindigkeit liegen. Dass der Mensch die souveräne Kontrollinstanz in solchen kybernetischen Systemen bleibt, ist nicht nur in der philophischen Diskussion (etwa bei Paul Virilio) längst fraglich geworden. Bereits in den 1960er Jahren enthalten militärische Systeme aufgrund ihrer Geschwindigkeit und Komplexität Steuerungseinheiten, die den Menschen als Teil des Steuerungsmechanismus integrieren. In der Planung entsprechender Systeme werden kybernetische Modelle des Menschen als Systembestandteil implementiert. [10] Bei den Strahlflugzeugen ersetzt der 'Instrumentenflug' mehr und mehr die wahrgenommene Außenrealität des Piloten durch die interne Realität des Systems und ist in Schlechtwettersituationen faktisch die einzige Orientierungsmöglichkeit des menschlichen Operators, der die 'Freiheit' hat, aufgrund der ihm gezeigten Datenrepräsentation Entscheidungen zu fällen, die aufgrund der Fluggeschwindigkeit oder falscher Meßwerte bereits Makulatur sein können.

Die Vermessungsmission der Nasa (1999), bei der ein 3D-scan der Weltkugel erstellt wird, produziert schließlich als Simulation eine virtuelle Welt, die für extrem niedrig fliegende Kampfjets oder cruise missiles Operationsgebiet wird. Diese virtuelle Welt ist insofern realer als die menschlich erfahrbare 'reale' Welt, als sie menschliche Wahrnehmung übersteigt und mächtiger und unmittelbarer mit der physischen Welt in Kontakt steht als die langsame Erfahrungswelt menschlicher Realität. Betriebsunfälle wie die Kappung von durch das Raster gefallenen Seilbahntrassen oder die Kollision mit fliegenden Hindernissen fallen dabei unter das sogenannte Restrisiko.

Die Erfassung der Autobahnnutzung mit Hilfe des GPS (Global Positioning System) als aussichtsreichstes Modell zur Berechnung der indivuellen Nutzungsgebühren ist die scheinbar harmlose Entsprechung im alltäglichen Bereich. Die Datenbasis für Wieners zweite industrielle Revolution dehnt sich aus. Vom individuellen Aufenthaltsort bis zur Genstruktur ist im Potenzial der Daten-Parallelwelt alles enthalten, zur Zeit noch fragmentiert in nach Ziel, Nutzung etc. getrennte Datensysteme, jedoch mit der Option der Vernetzung. Der individuelle Ort ist grenzenlos geworden. Drinnen ist draußen und draußen ist drinnen. Die Öffnung des privaten Raums durch Massenmedien wie das Fernsehen erfolgte aus der Sicht des Nutzers von drinnen nach draußen, beobachtet wird das außerhalb der individuellen Sphäre liegende. Die neue Technologie öffnet diesen Raum von draußen nach drinnen, die Elemente der individuellen Sphäre werden connected und vernetzt, ihre Daten verarbeitet. Telefonumfragen werden unnötig, wenn jeder Umgang mit vernetzten Entertainment- und Haushaltssystemen Nutzerprofile generiert.

Eine auf den ersten Blick paradoxe Situation entsteht: Die 'alte' körperliche wie auch mediale Realität ist für das menschliche Individuum virtueller (im Wortsinn: ihrer Möglichkeiten nach) als die neue hybride Realität der vernetzten Regelkreise. Der 'alte' Raum ist ein in seiner individuellen Konstruktion geschlossener, jedoch der Möglichkeit nach offener Raum, der neue Raum ist im Sinne weiterer Vernetzung und funktionaler Optionen vollständig offen, jedoch in seiner strengen und hierarchischen Gliederung ein für menschliche Aktion zwangsrealer Raum mit eng begrenzten Freiheitsgraden.

Visionen, alles könnte sich in einer körperlosen vernetzten virtuellen Welt auflösen, in der das menschliche Individuum als datenkommunizierende Monade zurückbleibt, drücken zwar die aktuelle Furcht vor der Fremdheit und Wirksamkeit neuer Technologien aus, sind jedoch wenig wahrscheinlich. Sie lenken eher ab von der unmerklichen Diffusion der vertrauten Umgebung zu einer augmented reality mit ihren zunächst unverständlichen kulturellen Konsequenzen. Das, was die Siegener Forschungsgruppe unter dem Eindruck hybrider Systeme und Artefakte als "Hybridkultur" [11] zu beschreiben suchte, könnte sich als ein in seiner Unmittelbarkeit temporäres Phänomen erweisen: Hybride Kunstwelten sind bereits von der Alltagsrealität überholt, die ihren hybriden Charakter gegen ein neues unbemerktes Künstlichkeitsniveau ihrer 'Natur' eingetauscht hat.

"Die digitale Revolution ist vorbei" ist entsprechend von Nicholas Negroponte zu hören. "Wie Luft und Trinkwasser wird die Digitalwelt bald nur noch bemerkt, wenn sie fehlt." [12]

Der Hybridisierung folgt die technische Augmentation der Lebenswelt, beide Begriffe sind - mit jeweils eigenen Akzenten - Formulierungen für die aktuelle Umbruchphase technikkultureller Entwicklung. Die deutlichen Symptome der Vermengung disparater Welten werden abgelöst von einer neuen Vertrautheit mit einer erweiterten Realität, in der die fremde Unwirklichkeit virtueller Datenräume verschwindet. Für die avancierte Sicht des "Computers als Medium" [13] , die zu den Zeiten des rechnenden Werkzeugs den Blick für die digitale 'Unterwanderung' der elektronischen Massenmedien und die Optionen interaktiver Hypermedien öffnete, ergibt sich damit eine Verlagerung der Aufmerksamkeit. Wenn inzwischen Computer und Multimedia synonym zu werden beginnen und das Internet als globales interaktives Fernsehen gehandelt wird, gilt es, den kybernetischen Charakter vernetzter Simulationen in der medialen Mensch-Maschine-Relation neu zu entdecken und zu reflektieren. Zwar sind die simplen Modelle einer Istwert-Sollwert-Kybernetik längst (etwa in der second-order Kybernetik Heinz von Foersters) revidiert. Der zentrale Aspekt der symbolischen Prozesse vernetzter Informationstechnologie ist jedoch im Sinne der eingangs zitierten Passagen Norbert Wieners weiterhin gülig: Ihr Charakter ist die Verarbeitung arbiträrer (im Gegensatz zu motivierten) Zeichen mit ihrer spezifischen Relation zur 'Realität' und der Mensch-Maschine-Kommunikation. Der hier etwas plakative Rekurs auf Wieners Kybernetik soll u.a. ein Beitrag zur Erinnerung daran sein, dass die Erweiterung des Realen durch vernetzte Datenräume in einer spezifischen Tradition steht, die einen wesentlichen Teil der sogenannten Neuen Medien ausmacht.

Medienkunst und computer game

Wie stets in Phasen des Umbruchs sind es zunächst die Künstler, die McLuhansche Sensorien auf solche Veränderungen richten. Die künstlerisch-experimentelle Sondierung des Terrains hat bereits stattgefunden. Wie etwa das Grammophon oder der Tonfilm in ihren Anfangsjahren den Experimenten László Moholy-Nagys oder Oskar Fischingers unterzogen wurden, hat das künstlerische Experiment für die aktuelle digitale Welt seinen Zenit schon überschritten. Arbeiten wie Jeffrey Shaws "Legible City" (1989) oder die Telepräsenzinstallationen Paul Sermans (etwa "Telematic Dreaming", 1992) haben bereits historisch musealen Charakter. Eben noch von "Pionieren interaktiver Kunst" [14] geschaffen, sind sie in Museen des ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe) oder des AEC (Ars Electronica Center, Linz, Österr.) installiert. Die künstlerische Qualität der aktuellen Arbeiten in den caves bleibt weit hinter den einfachen, aber sensiblen und reflexiven Arbeiten der frühen 1990er zurück. Das ästhetische Niveau von Geisterbahnfahrten liegt gespenstisch nahe, Spektakel verkauft sich als Kunst. Ziel ist die Aufwertung und Präsentation von kostspieliger kommerzieller Technologie, mediaart als showcase für fachfremde Investoren und das interessierte Management. In einer künstlerisch aussichtsreichen Experimentierphase befinden sich nur noch wenige Konzepte, darunter Versuche zur augmented reality fiction, eine Nutzung des informationstechnisch erweiterten Raums zur avancierten Verschmelzung alter ästhetischer Praxis des Erzählens und virtuell-realer Orte. [15]

Von den Elementen der Kunst bleibt eines in zentraler Position: das Spiel. Aufschluß über Innovation und Potenzial der digitalen Medien werden kaum mehr von künstlerischen Arbeiten erwartet, sondern von state of the art(!) -Techniken und Interfaces des computer game. Es korrespondiert besser als jede Kunst mit den Tendenzen, die eine nach-experimentelle kybernetische Besetzung der Lebenswelt vorgibt. [16] Computerspiele sind die Protagonisten einer neuen Technikkultur, in der die harten Regelkreise des remote control, der virtuellen Finanzplätze und der Kampfmaschinen antizipiert werden.

Vernetzte digitale Ballerspiele ('ego-shooter') wie "Doom" oder "Quake" bieten multi-user realtime environments mit im wahrsten Wortsinn beängstigender Schnelligkeit, Funktionalität und Immersion. Auch diese Spiele sind im 'harten' Sinne kybernetisch: Der Regelkreis aus Maschine und Mensch bestimmt 'der Möglichkeit nach' die Aktionen, der am besten an die maschinellen Vorgaben adaptierte Spieler bestimmt das Spiel; solange, bis die Spielpartner blutig zerstückelt über die virtuellen Wände verteilt aufgeben müssen. Der Mensch trainiert in solchen Umgebungen nicht das Töten oder ähnliche kriminelle Aktivitäten, er trainiert die lustvolle Ankoppelung an die virtuelle Realität einer erweiterten Welt. Der "angewachsene Fernseher", den Monika Elsner et al. in McLuhanscher und Luhmannscher Tradition des Ankoppelns noch plakativ-metaphorisch beschreiben [17] , ist jetzt mehr als ein metaphorisches Bild, hier beginnt das Training der reflexhaften intuitiven (Inter)-Aktion mit dem Medium. Wie immer über die ethisch-moralische Seite solcher 'Spiele' geurteilt wird, der hohe technische Standard solcher Entwicklungen steht außer Frage. Er gibt die Meßlatte für künftige Arbeitsumgebungen vor, die kritische reflexive Avantgarde des künstlerischen Experiments weicht der technosozialen Avantgarde des vernetzten Spiels.

Auch die kommerzielle Musikproduktion könnte Aufschluß über die nachfolgenden Phasen geben. Mit dem bedroom producer, der professionell klingende Produktionen zuhause in seinem Kämmerchen erzeugt und seine Ergebnisse im MP3-Format im Web zur Verfügung stellt, ist die Phase des künstlerisch vernetzten Spiels längst erreicht. Der Traum von Ruhm und big money in den 'alten' Medien bleibt dabei im Hinterkopf haften. Der große Hit in den charts ist jedoch professionellem Marketing vorbehalten. Mit MP3-Portalen und "Guerilla-Marketing" werden unterdessen virtual communities zu Marketingzwecken unterwandert. Die Beobachtung (incl. Logfileanalyse) und noch verdeckte kommerzielle Okkupation der virtuellen Kommunikation folgt den Strategien der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums, der hier der virtuelle der Netze ist. Die Verfügbarkeit der Produktionsmittel, als Demokratisierung teilweise euphorisch begrüßt [18] , hat - wieder einmal - eine neue Stufe der Kommerzialisierung und Kontrolle angestoßen. Allerdings, das haben die zunächst unbeholfenen Reaktionen der Tonträgerindustrie auf die veränderte Situation gezeigt, haben Strategien zur Kontrolle eines global vernetzten kybernetischen Mediums eine andere Dimension als die der kulturindustriellen Besetzung der etablierten Massenmedien. Wer künftig der kleine und wer der große Bruder sein wird, bleibt - ganz im Sinne der eingangs diskutierten Visionen - ungewiß.

[1] Norbert Wiener: The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society. (New York 1988; OA 1950)

[2] Philosophische und medientheoretische Implikationen des Konzepts des 'Realen' können hier nicht diskutiert werden. Nicht zuletzt an den häufigen Anführungszeichen im Text sollte jedoch erkennbar sein, dass Begriffe wie 'Realität' und 'Natur' keineswegs naiv ontologisch verstanden werden sollen.

[3] S. a. Martin Warnke: "Das Medium in Turings Maschine" in: ders., Wolfgang Coy, Christoph Tholen (Hgg.), HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. (Basel 1997) 69-82

[4] Die Durchsicht der Plots von Science-Fiction Texten ergibt i.d.R. Projektionen vergangener Mythen in fremde zukünftige Welten. (S. a. Gerd Hallenberger: Macht und Herrschaft in den Welten der Science Fiction. Meitingen 1986, sowie Heinrich Keim: New Wave. Die Avantgarde der modernen anglo-amerikanischen Science Fiction?. Meitingen 1983.) Immerhin enthält George Orwells "1984" mit einer verselbständigten Bürokratie (grotesk übersteigert im Film "Brazil", Terry Gilliam, GB 1985) ein verwandtes Motiv. Mit William Gibsons Beschreibung einer parallelen Datenwelt (etwa in "Neuromancer", München 1987, OA 1984) - die nicht umsonst "Cyberspace" heißt - beginnt allerdings eine neue Epoche der Fiktion im Bereich der Informationstechnologie. Neal Stephensons erzählerisch komplexeres und mit ironischen und karikaturhaften Zügen auch distanzierteres "Snow Crash" (New York 1992) breitet eine ganze Palette von Ansichten einer informationstechnologisch dominierten Realität aus.

[5] Wiener 1988, 16

[6] ebd.

[7] Wiener 1988, 63

[8] S. etwa Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg: Die Wirklichkeit der Medien (Opladen 1994)

[9]telegarden.aec.at; Installation der University of Southern California (1995) im Ars Electronica Center in Linz (Österr.)

[10]S. dazu Rolf Großmann: "'Hybride Systeme' in der Musikproduktion - technische Anfänge und ästhetische Konsequenzen", in: Christian W. Thomsen, Irmela Schneider (Hgg.): Hybridkultur. (Köln 1997) 285f.

[11]Sonderforschungsbereich 240 "Bildschirmmedien" der Universität-GH Siegen, Teilprojekt "Hybridkultur"

[12]Zit. nach "Das Futur des Computing" in: Computer Zeitung Nr.8, 24.2.2000, 8.

[13] Bereits die gemeinsame Jahrestagung der "Association for Literary and Linguistic Computing" und der "Association for Computers and the Humanities", 'ALLC-ACH 90', Universität-GH Siegen, 1990, trägt den von Helmut Schanze geprägten programmatischen Titel "The New Medium". Zu dieser Thematik s. a. Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Christoph Tholen (Hgg.): Computer als Medium. (München 1994)

[14] Söke Dinkla: Pioniere Interaktiver Kunst. Von 1970 bis heute. (Karlsruhe 1997)

[15] Stefan Schemat et al.: Augmented Reality Fiction. in: Hannes Leopoldseder, Christine Schöpf (Hgg.): Cyberarts. Katalog des Prix Ars Electronia. (Wien 1999) 90f.

[16] Eine detaillierte Beschreibung dieser Tendenzen gibt Gundolf S. Freyermuth in: Digitales Tempo. Computer und Internet revolutionieren das Zeitempfinden. in: c't 14/2000, 74-81

[17] Monika Elsner, Thomas Müller, Peter M. Spangenberg: "Der angewachsene Fernseher". in: Hans Ulrich Gumbrecht, Ludwig K. Pfeiffer (Hgg.): Materialität der Kommunikation. (Frankfurt a.M. 1988) 392-415

[18] Vgl. Rolf Großmann: "Der Bürger als Künstler? Aktionsfeld Medienkunst". in: Edelgard Bulmahn et al. (Hgg.): Informationsgesellschaft - Medien - Demokratie. Kritik - Positionen - Visionen. Forum Wissenschaft: Studien; Bd. 36. (Marburg 1996) 365-371