Course Schedule


Lehrveranstaltungen

Schulden als soziale Form (Seminar)

Dozent/in: Aaron Sahr

Termin:
14-täglich | Montag | 10:00 - 14:00 | 02.04.2024 - 05.07.2024 | C 14.204 Seminarraum
Einzeltermin | Mo, 08.04.2024, 10:00 - Mo, 08.04.2024, 14:00 | C 6.320 Seminarraum

Inhalt: Schulden haben kein gutes Image. (Zahlungs-)Verpflichtungen sind selten Grund zur Freude oder Anlass für Stolz. In Geschichten und Berichten kommen Schulden vornehmlich als individuelle Schicksalsschläge vor und ihre Überwindung wird als persönlicher Reifungsprozess im Boulevardfernsehen inszeniert (…von Charles Dickens bis Peter Zwegat, sozusagen). Wer sich verschuldet, gerät unter Rechtfertigungsdruck, gilt als risikofreudig und ungeduldig; warum nicht erst erarbeiten und ansparen, was man benötigt, anstatt sich heute in finanzielle Verpflichtungen zu verstricken, die man morgen womöglich bereut? Verschuldung, so die geltende Norm, sollte vermieden, jedenfalls nicht leichtsinnig angestrebt werden. Im besten Fall scheinen wir bereit zu sein, Schulden als notwendiges Übel anzuerkennen. Das schlechte Image der Darlehen und Forderungen gilt für Personen und Gemeinschaften: Die Bundesrepublik Deutschland könne sich „uferlos neue Schulden schlicht nicht erlauben“, erklärte Finanzminister Christian Lindner bei der Vorstellung der Haushaltsplanung der Bundesregierung für das Jahr 2024. Man plane nun, die grundgesetzlich verankerte ‚Schuldenbremse‘ wieder einzuhalten, die Kürzungen bei Klima und Sozialem setzten sofort ein. Obwohl sie unter solchen Kürzungen leiden, sind sich die Leute bei wenig Themen so einig, wie in ihrer Ablehnung von (Staats-)Schulden. Trotz dieser ablehnenden Haltung ist alle Welt verschuldet. Regelmäßig schockieren die Überschriften der Presse mit Rekordständen globaler Verbindlichkeiten: Ende letzten Jahres schuldeten sich alle Menschen weltweit mehr als 300.000.000.000.000 US-Dollar, weit mehr als das Dreifache der jährlich insgesamt erwirtschafteten Leistungen. Diese Rekorde sind das Ergebnis vieler Jahrzehnte der Ausdehnung kommerzieller Schuldgeschäfte, gefördert und gefordert von der Politik. Manche sprechen hier nüchtern vom Prozess der „Finanzialisierung“, der Philosoph Maurizio Lazzaroto etwas blumiger vom Aufbau der „Fabrik des verschuldeten Menschen“. Aber Schulden sind keineswegs ein Gegenwartsphänomen. Ihrem schlechten Image zum Trotz sind sie aus soziologischer Perspektive etwas ganz Fundamentales: Eine Form sozialer Beziehungen – denn was ist eine Schuld, wenn nicht eine auf Zeit angelegte Verbindung von Gläubiger:in und Schuldner:in? – , die für menschliche Koexistenz fast schon als universell zu bezeichnen ist. Schuldverhältnisse begleiten die Menschheit durch ihre gesamte Geschichte. Der Anthropologe David Graeber popularisierte die archäologische Entdeckung, dass erste Zeichen menschlicher Schrift Tontafeln mit Verbindlichkeiten waren; vielleicht, sagen manche, entstand die Schriftkultur sogar vor allem, um Schulden festzuhalten. Stets haben sich Menschen beieinander verschuldet, auch im europäischen Mittelalter war das Leihen, Anschreiben, Versprechen, Vorstrecken von Geld genauso Alltag wie heute. Wir wollen uns in diesem Seminar mit dieser fundamentalen sozialen Form beschäftigen, quer durch die Geschichte und aus konkurrierenden Perspektiven. Das Ziel kann nicht die Vermittlung eines abgeschlossenen Lerninhaltes sein, vielmehr versteht sich das Seminar als gemeinsame Übung im Theoretisieren: Was zeichnet Schulden als eine soziale Form aus, wie sollten, könnten, müssten wir über Schulden nachdenken und sprechen? Das wollen wir rausfinden.