LIAS Lecture: Ein foucault‘scher Marxismus für das 21. Jahrhundert
Senior Fellow Alex Demirović über Marx und Foucault
06.11.2024 Michel Foucault behauptete von sich, weder Freudianer zu sein, noch Strukturalist noch Marxist. Dennoch setzte sich der französische Philosoph mit dem Werk von Karl Marx auseinander. „Foucault’scher Marxismus“ nennt LIAS Senior Fellow Alex Demirović den Beitrag des französischen Philosophen zu einer kritischen und innovativen marxistischen Theorie. Bei seiner LIAS Lecture stellte er die Frage: Wie kann Marx auch für das 21. Jahrhundert immer wieder aktualisiert werden?
Demirović geht von einer Interpretation Michel Foucaults als Kritiker einer traditionellen, autoritären Kultur des Marxismus aus. Foucault lehnt sowohl die Engführung von Macht auf Staatsmacht als auch auf eine rein ökonomisch verstandene Macht ab. Stattdessen fokussiert er Machttechnologien und Machttechniken. „Philosophie wird [bei Foucault] ersetzt durch die systemische Analyse von Macht und Wissen“, sagt Demirović.
Alex Demirović, außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., wies auf die zentrale Rolle von Foucaults Auseinandersetzung mit dem Konzept der Reproduktion von Kapital bei Marx hin. Jenseits von Staat und Ökonomie gelinge es Foucault, Analysen der Macht als positive Mechanismen zu konstituieren. „Macht“ stünde nicht im Singular, sondern sei stets als „Mächte“, mit je eigenen Funktionsweisen, aufzufassen. Dann sehe man, so Demirović, dass Macht nicht durch Recht und Ideologien ausgeführt werde und insofern keine Verinnerlichungen von Unterdrückung und Gewalt sei, sondern sich aus Machttechnologien zusammensetze, die immer und für alle gelten. Unter den Mechanismen des Kapitalismus sind wir praktisch alle gleich – auch jenseits von Hierarchien oder Klassen.
Kapitalismus und kein Ende
Foucaults Auseinandersetzung mit Techniken der Macht, so Demirović weiter, hätten nichts mit politischem Aktivismus zu tun. Vielmehr zeige der Philosoph den immanenten Prozess einer ausgedehnten stetigen Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft. „In einer sich verändernden kapitalistischen Gesellschaft“, so Demirović, „entwickeln Akteure innerhalb ihrer Bedingungen Praktiken, die diese reproduzieren.“
Foucault zeige, so Demirović, dass die ökonomische Macht („mute compulsion“), die sich aus dem Kapitalismus ergebe und Subjekte zu bestimmten Handlungen und Entscheidungen zwinge, nicht neu sei. Er richte dagegen sein Augenmerk eben auf die Ausübung und Reproduktion bürgerlicher Macht, die ihre eigene Materialität in Taktiken und Institutionen habe.
Letztlich stelle Foucault die Identitätspolitik in Frage, indem er das Ringen um Differenzen und Individualität einerseits sowie die zur Entfremdung führende Ausgrenzung von Individuen andererseits thematisiere, worin er Marx‘ Intention einer endgültigen Abschaffung aller Klassen folge.
Emanzipation von Macht
Diese Überlegungen sind Anlass für Demirović, die Grauzone zwischen „Legalität und bürgerlicher Illegalität“ auszuarbeiten, wo Foucault im Anschluss an Marx die Reproduktion im Kapitalismus auf informelle wirtschaftliche Prozesse und Gewalt erweitere. Denn nur diese Konstruktion mache es historisch möglich, kriminelle Handlungen als Verbrechen gegen eine bürgerliche Gesellschaft aufzufassen und diese so als „Feinde der Gesellschaft“ zu sehen, die wiederum Institutionen der Disziplinierung begründen.
Illegalität entstehe dort, so Demirović, wo Machttechniken als Teil einer Disziplinarmacht zu einer Art Normalität werden, so etwa Gewalt gegen Frauen, Kinder, Polizisten, Journalisten, Sicherheitskräfte usw. Auch in anderen Bereichen – etwa Betrug, Korruption, Steuerhinterziehung oder Drogengeschäfte – können sich Gesetzesübertritte als eine generelle Praktik erweisen, denn jenseits von Recht und Gewalt könnten Individuen nicht kontrolliert werden, es gebe immer etwas Unberechenbares im Verhalten von Individuen, die stets die Grundlagen des Rechts herausforderten. Disziplin werde in Bereichen der Gesellschaft ausgeführt, die quer zu den vertikalen Unterscheidungen zwischen Staat und Gesellschaft verlaufen – also etwa Schulen, dem Militär, Fabriken, Gefängnissen usw. Daher sei die Reproduktion von Macht eigentlich eine Kontinuität der Verhältnisse und ihre Stabilisierung, die immer neue Reproduktionen ihrer selbst hervorbringe.
„Es führt zu nichts“, so Demirović, „sich gegen diese Strukturen aufzulehnen, da sie alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen.“ Sie betreffen die Familie ebenso wie wirtschaftliche Analysen, Medien wie politische Reden, sozialwissenschaftliche Forschung, den Arbeitsmarkt und das Gesundheitswesen. Geradezu politisch prophetisch fragte Alex Demirović am Ende seiner Vorlesung: „Wie können sich die Menschen von der Idee emanzipieren, geführt zu werden?“
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- Dr. Christine Kramer