Neu an der Leuphana: Prof. Dr. Maud Meyzaud – Ende einer großen Erzählung
19.05.2025 Ist der aufgeklärte Westen der islamischen Welt überlegen? In verschiedenen Konstellationen hinterfragt die neue Heisenberg-Professorin das Narrativ des vermeintlich dominierenden Europas und lädt mit ihrer literaturwissenschaftlichen Forschung zu einem radikalen Perspektivwechsel ein: „Aufklärung ist ein Produkt transkultureller Begegnungen.“

Anfang des 8. Jahrhunderts eroberten die Muslime die iberische Halbinsel. Die fast 1000 Jahre dauernde muslimische Herrschaft gilt als Blütezeit für Kultur, Wissenschaft und friedliches Zusammenleben verschiedener Religionen. Bereits im 12. Jahrhundert entstand die Erzählung „Der Philosoph als Autodidakt“. Autor war der Andalusier ʿAbū Baker ibnṬufail. Die lateinische Übersetzung wurde um 1700 in Nord- und Westeuropa zum Bestseller. „Dennoch kennt das aufklärerische, islamische Werk kaum noch jemand“, sagt Maud Meyzaud. Dabei sei der Einfluss des Werkes auf unsere moderne, westliche Welt größer als gedacht, wie die Professorin für Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft erklärt: „Ohne dieses Buch wäre die europäische Aufklärung nicht möglich gewesen“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. Sie forscht zu Transkulturalität, also der Vermischung kultureller Einflüsse und erteilt dem Narrativ einer überlegenen, westlichen Aufklärung eine Absage: Nicht allein der Protestantismus, so ihre These, sondern die von ihm gesuchte Kontaktzone mit einer ‚islamischen Aufklärung‘ habe der ‚europäischen Aufklärung‘ entschieden zum Durchbruch verholfen.
In ihren - vom Heisenberg-Programm der DFG geförderten Forschungsprojekten - hinterfragt Maud Meyzaud die große Erzählung der Säkularisierung kritisch. Insbesondere die Idee eines linearen und homogenen Prozesses, der im Christentum verwurzelt sei, zweifelt sie an. Vielmehr betont sie die konstitutive Rolle transkultureller Verflechtungen für europäische Literatur und Kultur. „Westliches hegemoniales Denken, das nach innen Vernunft predigt, aber nach außen unterwirft, ist schwer zu halten. Aufklärung ist ein Produkt transkultureller Begegnungen“, sagt die Forscherin.
Methodisch verfolgt sie Weg und Rezeption einzelner Texte über transkulturelle Grenzen hinweg. In einem weiterenProjekt erforscht sie Werke europäisch-jüdischer Intellektueller, die vor dem Nazi-Deutschland nach Lateinamerikaflohen. Namentlich beschäftigt sie sich mit Anatol Rosenfelds und Anna Seghers’ anti- und postkolonialer Schreibpraxisund untersucht, wie Kosmopolit*innen auf der Flucht einen Halt in der Heimatlosigkeit finden. Durch die Begegnung mit den Folgen von Kolonialismus und Sklaverei „lernen die Exil-Autor*innen zwei Gewaltgeschichten zu verflechten – und erfinden damit gewissermaßen die methodologischen Grundlagen heutiger kulturwissenschaftlicher Forschung“, erklärtMaud Meyzaud.
Das Verhältnis des Gedächtnisses von der Shoah zu anderen Gewaltgeschichten, die auch von Europa ausgehen, sei eine zentrale Herausforderung unserer Zeit, so die Forscherin.
Maud Meyzaud studierte Philosophie an der Université Marc Bloch, Strasbourg und wurde an der Universität Konstanzpromoviert. Von 2009 bis 2011 war sie Postdoktorandin an der Universität Erfurt, anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FernUniversität in Hagen und an der Goethe-Universität Frankfurt. Während der Postdoc-Phase war sie u.a. auch Visiting Assistant Professor des German Department an der Northwestern University (Evanston). 2020 habilitierte sie an der Goethe-Universität Frankfurt (Venia legendi in Allgemeiner und vergleichender Literaturwissenschaft und in Germanistik). 2021/22 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programmbereich Weltliteratur des Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Nach zwei Professurvertretungen in Konstanz und München und einem Fellowship in São Paulo, Brasilien kam sie 2024 nach Lüneburg. 2024 war sie Fellow am Leuphana Institute forAdvanced Studies (LIAS) in Culture and Society und nahm 2025 den Ruf für die Heisenberg-Professur für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an die Leuphana an.
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- Prof. Dr. Maud Meyzaud