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Musikalische und klangliche Erinnerungsräume in der Post-Witness Ära

Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus in Niedersachsen

Wie klingt das Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus heute? Welche Klänge und Geräusche finden sich beim Besuch einer Gedenkstätte, einer Gedenkveranstaltung oder in digitalen Medien? Welche Rolle spielt Musik für Erinnerungskultur? Und wie lassen sich Musik und Klänge künftig für das Erinnern einsetzen, wenn es keine Zeitzeug*innen mehr gibt, die vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust berichten können?

Dieses Forschungsprojekt untersucht auditive Erinnerungskultur. Hierzu verbindet es die Disziplinen Musikwissenschaft, Sound Studies und Cultural Memory Studies. Diese Synthese bildet die Grundlage für die Datenerhebung des Projektes und den praktischen Einsatz von (musik-)wissenschaftlicher Forschung für die aktuelle Erinnerungsarbeit.

In Kooperation mit zentralen Akteur*innen der Erinnerungskultur auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene schafft das Projekt Möglichkeiten für Vernetzung und Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis.

In den folgenden Abschnitten erhalten Sie detaillierte Informationen zum Hintergrund des Projektes, zur Arbeitsweise sowie zu aktuellen Ergebnissen und Praxisbeispielen.

Libeskind-DALL_E-1 ©thopuls
Bibliothek ©Leuphana/Brinkhoff/Mögenburg
Kopfhörer, Zeitzeug*in, Gedenkstätte Bergen Belsen ©Thomas Sebastian Köhn

Auditive Erinnerungsräume

Ob wir Stimmen von Zeitzeug*innen in einer Ausstellung begegnen, Musik bei einer Gedenkveranstaltung hören oder uns beim Betrachten eines historischen Fotos eine Klang- oder Geräuschkulisse vorstellen: Die auditive Dimension von Erinnerungskultur ist vielfältig. Wichtig ist daher eine theoretische Grundlage, mithilfe diese Vielfalt untersucht werden kann. 

Zentral ist für uns das Konzept des Erinnerungsraums. Das kann ein Erinnerungsort sein, wie ein Mahnmal oder eine Gedenkstätte. Es kann sich aber auch um eine Veranstaltung, z.B. ein Konzert, einen urbanen oder digitalen Raum handeln. Wir orientieren uns an dem Konzept des sozialen Raums der Soziologin Martina Löw. Dies besagt, dass Räume entstehen, wenn Dinge - oder nach Löw: soziale Güter - durch Subjekte miteinander verbunden werden. Da Räume nach diesem Verständnis aktiv konstruiert werden, sind sie in der Folge immer politisch und historisch. Neben der Erhebung der klanglichen Aspekte von Räumen, sind dementsprechend Machtdiskurse ein zentraler Aspekt bei den Analysen.

In diesem Forschungsprojekt legen wir den Fokus auf Räume, die mit Erinnerungen an die NS-Zeit verbunden sind. Erinnerungen verstehen wir dabei als einen weiten Begriff, der verschiedene Bedeutungen haben kann: Es kann sich u.a. um individuelle oder um kollektive Erinnerungen handeln; es kann sich auch um Erinnerungen handeln, die sich über die Zeit und über Generationen hinweg verändern. So kann beispielsweise eine Innenstadt durch ein Mahnmal, einen Stolperstein oder eine Gedenkveranstaltung zum Erinnerungsraum werden. Durch die Verwebung sozialer Güter entsteht ein komplexes Raumgefüge mit verschiedenen Bedeutungsebenen. 

Mit dem Begriff des musikalischen und klanglichen Erinnerungsraums fokussieren wir uns besonders auf jene sozialen Güter, die auditiv sind. Wir erforschen demnach, wie z.B. Klänge, Geräusche und Musik verschiedene Arten von Erinnerungsräumen mit konstituieren.

Methodik

Um die auditive Ebene von Erinnerungskultur zu erforschen, werden Methoden aus den Sound Studies, Musikwissenschaften und (Musik-)Ethnologie kombiniert. 

Zunächst geht es um eine Erhebung dessen, was in den verschiedenen Erinnerungsräumen klingt. Dieses wird dokumentiert, kategorisiert und analysiert. Doch auch Sprache und Bilder sind Bestandteil auditiver Erinnerungskultur. So thematisieren beispielsweise Zeitzeug*innenberichte und Tagebucheinträge Klänge der Konzentrationslager und ihrer Umgebung. Ausgestellte Fotos und Presserezensionen berichten von kulturellen Veranstaltungen vor dem Zweiten Weltkrieg und kurz nach der Befreiung. Dazu zählen z.B. Konzerte und Theaterveranstaltungen in Bergen-Belsen zur Zeit des Displaced Persons Camp oder Unterrichtssituationen in der jüdischen Gartenbauschule Hannover Ahlem vor dem zweiten Weltkrieg. Mit Hilfe von Diskursanalysen können hier Klangbilder und -szenarien (re)konstruiert werden.

Auditive Erinnerungsräume werden aktiv durch verschiedene Aktuer*innen konstruiert: Besucher*innen verbinden verschiedene Elemente der Räume in unterschiedlicher Art und Weise mit einander und setzen diese in einen Kontexten zu eigenen Erfahrungen, Assoziationen und Erinnerungen. Leitungspersonal erstellt Konzepte für Ausstellungen, in denen Klang eine Rolle spielt. Techniker*innen installieren Kopfhörer, Lautsprecher und Trennwände; Sound Designer*innen und Klangkünstler*innen produzieren für unterschiedlichste Erinnerungsräume Klänge und Musik. Um diese verschiedenen Perspektiven der Raumkonstruktion erforschen zu können, verwenden wir ethnographische Methoden von Interviews bis hin zu selbst dokumentierten Soundwalks. 

Viele Erinnerungen im Kontext der NS-Zeit sind nur sehr schwer oder gar nicht verbalisierbar. Um auch dieses Nicht-Sagbare in den Fokus zu rücken, greifen wir auf Methoden der Artistic Research zurück. Hierbei geht es darum,  Erinnerungen nicht zuerst in Sprache zu übersetzen, sondern vielmehr in verschiedene Kunstformen. So folgen wir der Frage, was künstlerische Praxis bei der Erforschung von Erinnerungskultur offenlegen kann.

Projektziele

Neben der Erforschung auditiver Erinnerungskultur ist es das Ziel des Projekts, Wissenschaft und Erinnerungsarbeit miteinander zu verbinden. Dies geschieht über zwei Perspektiven:

Erstens bildet das Projekt ein Netzwerk zwischen verschiedenen Akteuren der Erinnerungskultur. Dazu gehören unter anderem die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die Gedenkstätte Moringen, Hannover Ahlem und die Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel. Es dient dem Austausch von Erfahrungen, Perspektiven und Möglichkeiten zur Verwendung von auditiven Elementen in verschiedenen Erinnerungskontexten. Weitere Kooperationen werden aktuell mit Gedenkstätten, Künstlern und weiteren Akteuren der Erinnerungskultur in Niedersachsen, Deutschland und international aufgebaut.

Zweitens werden in enger Zusammenarbeit mit den Projektpartner*innen auditive Medien produziert, die künftig in verschiedene Erinnerungsräume eingebunden werden. Dazu gehören unter anderem Produktionen für Audio- und Multimediaguides sowie für Podcasts. Hierfür fungieren die Ergebnisse der Forschungen als Grundlage, die künstlerisch-praktisch umgesetzt wird. Erstellte Produktionen dienen anschließend wiederum als Teil der auditiven sozialen Güter in Erinnerungsräumen. Diese konstituieren als soziale Güter den Raum mit und werden widerum kritisch in den Forschungsprozess einbezogen und reflektiert.

Aktuell: Call for Abstracts and Multimedial Submissions

Aktuell haben wir einen Call for Articles and Multimedial Submissions zum Thema auditive Erinnerungskulturen ausgeschrieben. Wir freuen uns über Abstracts sowohl zu wissenschaftlichen Artikeln als auch zu musikalischen, künstlerischen und pädagogischen Projekten. Die Deadline ist am 31.03.2024. Für Detail siehe den unten angefügen Call.