Vorlesungsverzeichnis
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Lehrveranstaltungen
ENTFÄLLT! Vertreibung aus dem »Walled Garden«: Datentheoretische Überlegungen zu den europäischen Digitalstrategien (Seminar)
Dozent/in: Ulf Wuggenig, Cheryce von Xylander
Inhalt: KI und Big Data gehen Hand in Hand. Das eine ermöglicht das andere. In diesem Seminar, das in das Forschungsprojekt »Commodified Agency« eingebunden ist, welches sich den mit der Digitalisierung einhergehenden gesellschaftlichen Transformationen widmet, denken wir diese zwei Vektoren des digitalen Wandels zusammen. Ihre vereinte Reichweite ist global, doch ihr Wirken bleibt auch immer in einem beträchtlichen Ausmaß lokal. Eines der großen Versprechen von Brexit war die sich mit dem Austritt aus der EU ergebende Aussicht, die digitalen Regulierungsgesetze nach britischen »common sense« Vorstellungen anzupassen. Während die Vereinheitlichungstendenzen der digitalen Dienstleistungen und die Abwehr von Monopolbildungen am digitalen Markt viele Schlagzeilen machen, bleiben das national Spezifische, Idiosynkratische, Partikularistische der Infrastrukturen, IT-Ausstattungen, Vertragsausgestaltungen, Datenverwaltungsmodi und Vorstellungen von Intelligenz als solche meist unkommentiert. Dabei prägt diese Divergenz im Kleinen die Entwicklung der Weltvernetzung im Großen. In diesem Seminar werden wir die von der EU Kommission und dem EU Parlament konzipierten bzw. beschlossenen Regulierungsmaßnahmen – Digital Markets Act, Digital Services Act und Artificial Intelligence Act – betrachten und dabei auch ein Augenmerk auf das Zusammenspiel zwischen supranationaler und nationaler Ebene (nationale Digitalstrategien) richten. Wir wollen die in Gang gesetzten und noch geplanten Maßnahmen erfassen – einschließlich ihrer auf sozialwissenschaftliche Forschung gestützten Vorbereitung und Begleitung (z.B. spezielle, Technologie- bzw. KI-Akzeptanz erfassende Eurobarometer-Studien) – sowie ihre zu erwartenden Auswirkungen untersuchen. Welche bzw. wessen Interessen werden hier primär berücksichtigt? Die Anliegen der großen Tech-Firmen stehen etwa den Belangen der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) entgegen. Der Schutz der Nutzer*innen steht wieder auf einem anderen Blatt. Regulierungsforderungen (seitens der EU-Kommission und der Regierungen sowie der Verbraucherorganisationen) kollidieren mit Deregulierungsansprüchen (seitens der Industrie), Risikoaversion steht Disruptions-Bereitschaft entgegen. Mit dem Cultural Theory Ansatz von Mary Douglas – berühmt für ihre Studie »Risk and Culture« (gemeinsam mit Politikwissenschaftler Aaron Vildavsky) – möchten wir dieser Vielfalt der Positionierungen im Feld digitalen Handelns eine strukturelle Logik entnehmen. So soll, z.B., die Sängerin Grimes als Grenzgängerin zwischen Hipster Chic, einerseits, und Muttertier (im Frauengestüt) für den »Tech-Monarchen« Elon Musk, andererseits, in ihrem Handeln besser zu verstehen und einzuordnen sein. Auch die kürzlich verhängte Milliarden-Strafe gegen Apple und die Google auferlegte Geldbuße werden vor dem Hintergrund der Digitalstrategie der Europäischen Kommission untersucht. Ein weiterer theoretischer Bezugspunkt für das Seminar sind die aktuellen Diskurse um die adäquate Einordnung der zu beobachtenden gesellschaftlichen Dynamiken. Haben wir es zu tun mit Online-Kapitalismus, digitalem Kapitalismus oder gar einer Refeudalisierung des Kapitalismus? Eine besondere Qualität dieses Seminars besteht in der Intermedialität der Forschung. Im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten zukunft.niedersachen Projekts »Commodified Agency: Social Space and the Digital Data Value Chain« entsteht derzeit ein Film, der mit einschlägigen Philosophen und Sozialwissenschaftler*innen 2023 auf der Insel von La Palma gedreht wurde und sich mit den Fragen des Seminars beschäftigt. Sie werden die einmalige Gelegenheit erhalten, an den Diskussionen um die Gestaltung dieses Films insgesamt und des Rohschnitts im Besonderen mitzuwirken. Die praktische Prüfungsleistung wird darin bestehen, dass Sie Film-Segmente bearbeiten und das Wesentliche für die Fragestellungen des Seminars nach Ihrem Ermessen markieren. Die Film-Segmente zeigen Interviews in zwei Kamera Ansichten, das laufende Gespräch der Film-Protagonist*innen in Echtzeit und die vollständig transkribierten Dialoge. Am Fließtext können Sie an der editorische Filmbearbeitung mitwirken. Sie sind herzlich eingeladen, die Vermittlung von Ergebnissen der Forschung möglichst publikumsfreundlich und generationsübergreifend aufzubereiten.
Verborgen, versteckt, unsichtbar - Theorien der Latenz (Seminar)
Dozent/in: Serhat Karakayali
Termin:
wöchentlich | Dienstag | 14:15 - 15:45 | 02.04.2024 - 05.07.2024 | C 11.308 Seminarraum
Einzeltermin | Fr, 14.06.2024, 14:00 - Fr, 14.06.2024, 19:00 | C 11.320 Seminarraum
Einzeltermin | Fr, 21.06.2024, 14:00 - Fr, 21.06.2024, 19:00 | C 11.307 Seminarraum
Einzeltermin | Mo, 01.07.2024, 14:00 - Mo, 01.07.2024, 18:00 | C 5.109 Seminarraum
Inhalt: Der Begriff der Latenz bezeichnet in der Psychoanalyse jene psychischen Inhalte, die dem Bewusstsein nicht mehr unmittelbar zur Verfügung stehen, ins Unbewusste verdrängt wurden und von dort weiterhin auf uns einwirken. Unserer unmittelbaren Wahrnehmung und Beobachtung nicht zugängliche Instanzen spielen in unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten eine Rolle: In der klassischen Ökonomie von Adam Smith erscheint die durch Märkte vermittelte rationale Verteilung der Güter wie eine „unsichtbare Hand“, sie wird als systematisches „Ausblenden“ zur Voraussetzung sozialer Interaktion bei Luhmann, oder bezeichnet, wie in der modernen quantitativen empirischen Forschung nicht direkt beobachtete Variablen. Neben der erkenntnistheoretischen Problematik beinhaltet der Begriff auch eine temporale Dimension, nämlich einer institutionell vermittelten Faltung der Zeit. Latenz bedeutet auch, dass eine Wirkung zeitlich verschoben wird. Unter diesem Gesichtspunkt einer Verzögerung kann man unter dem Begriff auch Fragen der Geschichtlichkeit thematisieren. Als latent werden in der Fachliteratur in der Regel solche Instanzen oder Sachverhalte bezeichnet, dienicht Folge intentionalen Handelns sind, sondern deren Nebenprodukt - im Unterschied zu alltäglichen (auch institutionellen) Praktiken des Verheimlichens, der Intransparanz oder Verschwiegenheit (von Goffmann als „Hinterbühne“ bezeichnete Bereiche des Sozialen), die nur den jeweils unbeteiligten Akteuren unbekannt sind. Als latent bezeichnete Instanzen werden durch begriffliche Arbeit (re)konstruiert, d.h. auch bei wissenschaftlich nachweisbaren Kausalzusammenhängen werden diese nicht als solche erlebt sondern bleiben wissensvermittelt. In Abhängigkeit von den Verfahren (der „Wissenschaftlichkeit“), mit denen dabei vorgegangen wird, sind solche Zuschreibungen aber unterschiedlich prekär, d.h. mehr oder weniger gut begründete Vermutungen darüber, dass hinter dem, was sich uns zeigt noch andere Mechanismen am Werk sind, und vor allem welche es sind. Allem Anschein nach geben solche Instanzen nicht vor, ob und wie über sie gesellschaftlich kommuniziert wird, ob hinter einer Sache Gott, die Gene oder Gesellschaft stecken, wie am Beispiel der Verschwörungstheorien deutlich wird. Im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts erhalten Studierende die Möglichkeit, diese Überlegungen für die empirische Forschung fruchtbar zu machen. Zu diesem Zweck befassen wir uns zusätzlich mit einigen methodologischen Strategien über den Umgang mit unterschiedlichen Textformen und deren theoriegeleiteter Deutung. Wie lassen sich latente Strukturen des Erzählens und Begründens in Texten unterschiedlicher Art identifizieren, was bedeutet es, einen Diskurs zu analysieren?