Antibiotika, grüne Pharmazie, grüne Chemie, nachhaltige Chemie und nachhaltige Pharmazie

cum tempore (c.t.): Das Dossier für Wissenschaft, Forschung und Lehre an der Leuphana

25.03.2024 Mit unserem Dossier cum tempore (c.t.) setzen wir Forschungsberichte, Nachrichten, aber auch Porträts in größere Zusammenhänge: Wie profitierten etwa wirtschaftliche Akteur*innen im globalen Süden von den Forschungserfolgen des Instituts für Nachhaltigen Chemie? Warum kann eine nachhaltige Betriebswirtschaftslehre für ein stabileres Finanzsystem sorgen? Was macht das originäre Studienmodell der Leuphana zu einem Erfolgskonzept? An dieser Stelle finden Sie in Zukunft ausführliche Darstellung der Forschung, Lehre und des akademischen Lebens an der Leuphana Universität Lüneburg. Berichte werden in Zusammenhang gesetzt – in Wort, Bild und grafisch.

Stilisiertes Foto einer Hand, die Reagenzgläschen greift und deren Arm mit einem Kittel bekleidet ist ©Leuphana/Mia Niekamp
CUM TEMPORE (C.T.): DAS DOSSIER FÜR WISSENSCHAFT, FORSCHUNG UND LEHRE ZUM THEMA „CHEMIE“

Eine gute Nachricht für Mensch und Natur: Forschenden der Leuphana gelang es 2017 mit Methoden der nachhaltigen Chemie, Antibiotika der Wirkstoffgruppe Fluorquinolone zu verbessern. Die Antwort des wissenschaftlichen Teams auf die massive Umweltverschmutzung durch ausgeschiedene Antibiotika heißt „Benign by Design“. Bei diesem Ansatz werden neue Moleküle so konstruiert, dass sie umweltverträglicher sind als bisherige Substanzen – und zwar von Anfang an. Denn besonders problematisch ist die Wirkung von Antibiotika in Abwässern und der Umwelt: Kläranlagen, Oberflächengewässer und Böden können zu Inkubatoren für resistente Bakterien werden.

Umweltfreundlichere Antibiotika

Mittlerweile sind die neuen Moleküle patentiert und die Forschungsergebnisse international publiziert. Das Team um Entwickler Dr. Klaus Kümmerer, Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen, hat gezeigt, dass umweltfreundlichere Antibiotika entwickelt werden können.

Der Weg dorthin war nicht leicht: Allein fünf Mal reichte das Team um Klaus Kümmerer den Antrag für Forschungsgelder bei verschiedenen Programmen ein - bis die Deutsche Bundesstiftung Umwelt 2014 die Förderung mit etwa 460 000 Euro übernahm. Schon drei Jahre später lieferte das wissenschaftliche Team um Klaus Kümmerer Ergebnisse. Was lag also näher als Benign by Design auch auf Chemikalien anzuwenden. Auch dies geschah zwischenzeitlich erfolgreich. Aber nur die Abbaubarkeit von Stoffen in der Umwelt zu verbessern ist noch keine vollumfassende nachhaltige Pharmazie oder Chemie, lediglich grüne.

Der Chemiker möchte seine Erkenntnisse nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft teilen. Nachhaltige Chemie und Grüne Pharmazie gehören für ihn in Politik, Wirtschaft und Lehre, um gesellschaftlich etwas zu bewegen. Klaus Kümmerer war unter anderem von 2016 bis 2019 Mitglied des Managing Board of United Nations Environmental Program (UNEP) Global Chemical Outlook II. „Global Chemical Outlook“ ist ein Gremium der UNEP, dem Umweltzweig der UN. Das Gremium beschäftigt sich etwa mit den Herausforderungen der Chemikalienproduktion und des -managements. Seit 2021 ist er Mitglied des High Level Round Table der EU zur Safe and Sustainable by Design-Strategie.

Im September 2017 gründete das Bundesumweltministerium das ISC3. Die Abkürzung steht für International Sustainable Chemistry Collaborative Centre. Klaus Kümmerer und die Leuphana sind Teil des internationalen Kompetenzzentrums, das nachhaltige Chemie weltweit vorantreiben möchte. „Es geht nicht nur um Deutschland, Europa oder die westliche Welt, sondern um alle Länder, denn Produkte der chemischen Industrie werden überall angewendet und können überall zu Problemen führen - nicht nur in der Umwelt.

Nachhaltige Chemie weltweit voranbringen

Es sind auch soziale und ethische Aspekte zu berücksichtigen, um besser zu verstehen, warum welche Stoffe wo angewendet werden. Service und Funktion müssen die Ausgangspunkte eines Systemdenkens sein, das den gesamten Lebensweg von Produkten umfasst. Nur dann wird Chemie auf nachhaltige Weise zur Nachhaltigkeit beitragen können. Grüne Chemie ist dafür nicht ausreichend. „Wir möchten dort aber nicht etwas überstülpen, sondern mit den interessierten Menschen dort zusammenarbeiten und zwar mit allen Stakeholdern, NGOs, Behörden oder Politikern - nicht nur Wissenschaft und Wirtschaft. Das ISC3 möchte ein Forum sein, um nachhaltige Chemie weltweit vorwärts zu bringen“, erklärt Klaus Kümmerer.

Mit seinem Team hat er deshalb den berufsbegleitenden Studiengang „Sustainable Chemistry M.Sc.“ sowie ein Zertifikatsprogramm entwickelt. Die englischsprachigen Online-Angebote richten sich weltweit an Berufstätige mit abgeschlossenem Chemie-Studium oder verwandten Disziplinen: „Es gibt überall einen riesigen Bedarf an nachhaltigen Chemiker*innen. Wir gehen bewusst in die berufliche Fortbildung, denn die Probleme drängen“, erklärt Klaus Kümmerer. In Ghana etwa ist eine der größten und giftigsten Mülldeponien zu finden: Agbogbloshie. Zwar gibt es in dem westafrikanischen Land keine große chemische Industrie, aber die Menschen haben dennoch mit der Belastung zu kämpfen.

Zum gemeinsamen Lehrangebot des ISC3 und der Leuphana gehört deshalb auch die alljährliche internationale Summerschool, die nachhaltige chemische Lösungen für Umweltprobleme adressiert. Das berufsbegleitende Studienprogramm „MBA Sustainable Chemistry Management“ an der Leuphana Professional School richtet sich an internationale Fachleute aller Fachrichtungen, die Wissen im Themenfeld Nachhaltigkeit und Chemie in wirtschaftliche Entscheidungsprozesse einbringen möchten. Um aber auch andere Zielgruppen zu erreichen, führt er jährlich seit 2016 die internationale Green and Sustainable Chemistry Konferenz durch.

Wie auch die seit 2014 jährlich stattfindende Summerschool for Sustainable Chemistry ist sie interdisziplinär ausgerichtet. Beide waren die ersten ihrer Art. Kümmerer freut besonders, dass nicht nur Chemikerinnen und Chemiker aus westlichen Ländern teilnehmen, sondern überproportional viele Teilnehmer*innen aus dem globalen Süden kommen, was an dem interdisziplinären Zuschnitt der beiden Veranstaltungen liegen mag. Professor Kümmerer ist immer auch Wissenschaftler. Da es keine wirklich interdisziplinäre Zeitschrift für seine Anliegen gab, hat er 2014 mit dem Elsevier-Verlag zusammen die Zeitschrift „Sustainable Chemistry and Pharmacy“ gegründet, und aufgrund der großen Dynamik im Themenfeld 2016 eine Review Journal. Beide sind sehr erfolgreich.

Benign by Design findet den Weg in die Industrie

Ein weiterer Weg führt Kümmerer in die Wirtschaft. Bisher galt die biologische Abbaubarkeit von Medikamenten als Umweltthema. Gemeinsam mit führenden Pharmaunternehmen war die Leuphana Partner beim EU-Projekt „Priorisation and Risk Evaluation of Medicines in the Environment“ (PREMIER) tätig. „Damit hat Benign by Design endlich den Weg in die Industrie gefunden“, sagt Professor Dr. Klaus Kümmerer vom Institut für Nachhaltige Chemie. Weitere Verbesserungen, einschließlich grünere Synthese werden im EU-Projekt Transpharm bearbeitet. Im EU Projekt IRISS geht es um das gezielte Design von nachhaltigeren und sicheren Produkten am Beispiel wichtiger Wertschöpfungsketten wie z.B. Plastik, Duftstoffe, Elektronik, Mobilität oder Textil. In einem von der Volkswagen Stiftung geförderten Projekt, das zusammen mit der Universität Hannover durchgeführt wird, soll herausgefunden werden, wie Plastikabfälle aus dem Autorecycling grüner und besser recycelt werden können.

Neben anderen Preisen wurde Klaus Kümmerer mit dem Wöhlerpreis für Nachhaltige Chemie durch die Gesellschaft Deutscher Chemiker ausgezeichnet. 2024 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreicht – die einzige allgemeine Verdienstauszeichnung in Deutschland und damit die höchste Anerkennung, die die Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht. Mit der Ordensverleihung würdigt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Wissenschaftler für sein langjähriges, richtungsweisendes Engagement für eine nachhaltige Chemie.

Professur für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen ©Leuphana
Professur für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen

Kontakt

Prof. Dr. Klaus Kümmerer
Universitätsallee 1, C13.311b
21335 Lüneburg
Fon +49.4131.677-2893
klaus.kuemmerer@leuphana.de