Workshop: Disruption, Verschwörung, Revolte

17. Jan

Workshop mit Donatella di Cesare (Rom), Christine Achinger (Warwick), Leo Roepert (Hamburg), Astrid Séville (Lüneburg)

14.00 - 18.00h. Raum C 40.704

Anmeldung erforderlich

Die disruptive Bedingung konfrontiert uns mit einer paradoxalen Verschränkung von Bruch und Kontinuität. Während Figuren des absoluten Bruchs mit den Verhältnissen seit langem unglaubwürdig geworden sind, erfreut sich der Aufruf zum Bruch mit Lebensweisen und Sinnzusammenhängen zugunsten der Erhaltung und Reproduktion bestehender ökonomischer Ordnungen großer Beliebtheit. Die darin sich bekundende disruptive Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität ruft dabei immer stärkere kognitive wie emotionale Dissonanzen hervor, die sich bisweilen in Resignation, aber auch in Ressentiments und Vorurteilen entladen, und deren gesellschaftlicher Ausdruck seine historischen Vorgänger in den faschistischen Bewegungen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat. Angesichts des stetig steigenden Organisationsgrad kapitalistischer Vergesellschaftung und dem sich verringernden individuellen Gestaltungsspielraum besteht eine Zuflucht darin, die Rückkehr zu traditionellen Herrschaftsformen und die von diesen gewährleistete Freund-Feind-Identifizierung zu suchen. Dabei spielen Verschwörungstheorien eine zentrale Rolle. Gleichzeitig verbreiten sich aber auch aufständische Bewegungen, in denen die Revolte gegen das Bestehende, nicht die Identifikation von Strippenziehern im Vordergrund steht. Wie verhalten sich diese unterschiedlichen Formen der Dissidenz, der Disruption, zueinander? Wie hängen Verschwörungstheorien und politisches Handeln im Umgang mit und Versuchen der Veränderung der disruptiven Bedingung zusammen? Welche Bedeutung kommt der Verschwörung bei der vermeintlichen Auflösung der Widersprüche heutiger Gesellschaften zu?

14:00-15:00 Donatella di Cesare: Das Gestell der Macht, die Entpolitisierung, die Revolte
15:00-15:45 Astrid Séville: Mikropolitiken des Antikomplottismus
15:45-16:15 Kaffeepause
16:15-17:00 Leo Roepert: Konformistische Revolte. Zur Dialektik von Anpassung und Destruktivität
17:00-17:45 Christine Achinger: Politik der Nichtidentität?
17:45-18:00 Schlussdiskussion

Moderation: Nicolas Schneider (Leuphana)

Workshop in deutscher Sprache.

Um Anmeldung per Email wird gebeten.

Kontakt: Nicolas Schneider (nicolas.schneider@leuphana.de)

Kurzbeschreibungen

Donatella di Cesare: Das Gestell der Macht, die Entpolitisierung, die Revolte

Wir wissen, dass die Ausweitung der oiko-nomia, die bereits von Hannah Arendt angedeutet und von Giorgio Agamben wieder aufgegriffen wurde, mit einer tiefgreifenden und zunehmenden Entpolitisierung einhergeht, welche die Krise der Moderne kennzeichnet. Dieses Phänomen ist auf das Dispositiv der Macht zurückzuführen, und zwar auf die Art und Weise, in der die Macht als ein autonomes Getriebe gesehen wird, als Teil eines großen Komplotts dunkler Kräfte, das die Bürger verarmt und entmachtet. Die politische Machtlosigkeit ist auch die Unmöglichkeit der Revolte.

Astrid Séville: Mikropolitiken des Antikomplottismus

Im Angesicht von Populismus und einem angeblich grassierenden Verschwörungsdenken gibt es zahlreiche Analysen nicht nur darüber, was genau diese Phänomene ausmacht und warum sie eine Gefahr für liberale, demokratische Gesellschaften darstellen können, sondern auch Überlegungen dazu, wie man ihnen begegnen kann. Wie kann man populistische und verschwörungstheoretische Ansichten, Mythen, Narrative, ja sogar noch kleiner: Sätze auseinandernehmen, dekonstruieren oder einfach konfrontieren? Ist das überhaupt ein adäquates Ziel? Und wo finden wir in dieser Auseinandersetzung Brüche, wo Kontinuitäten? In meinem Beitrag möchte ich diesen Fragen nachgehen und so etwas wie Mikropolitiken eines gegenwärtigen Antipopulismus und Antikomplottismus (Di Cesare) herausarbeiten.

Leo Roepert: Konformistische Revolte. Zur Dialektik von Anpassung und Destruktivität

In den anhaltenden Debatten über die Ursachen des „Rechtsrucks“ ist zu beobachten, dass gerade gesellschaftskritische Ansätze oftmals dazu neigen, den Rechtspopulismus als lediglich fehlgeleiteten Protest gegen Neoliberalismus und Postdemokratie zu verharmlosen. Rassismus und Verschwörungsmythen, die den Kern des Rechtspopulismus ausmachen, weisen jedoch eine irrationale Eigendynamik auf. Die „konformistische Revolte“ (Max Horkheimer) stellt den Versuch dar, Krisenprozesse in einer Weise zu verarbeiten, die eine Einsicht in ihre gesellschaftlichen Ursachen umgeht und es ermöglicht, die Identifikation mit dem Bestehenden aufrechtzuerhalten. Der Kampf gegen Migration und die Verschwörung der „Globalisten“ zielt darauf, die „dekadente“ Gesellschaft zu überwinden, damit alles wieder werden kann, wie es vermeintlich immer gewesen ist. 

Christine Achinger: Politik der Nichtidentität?

Politische Praxis, die nicht nur auf Emanzipation innerhalb der bestehenden Verhältnisse, sondern aus diesen heraus gerichtet wäre, sieht sich zahlreichen Hindernissen gegenüber. Eines davon ist das Erstarken von Formen von Identitätspolitik, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf Unterdrückungsverhältnisse zwischen Gruppen reduzieren und deren Überwindung als bloßen Verteilungskampf innerhalb des Bestehenden konzipieren. Dies geht häufig mit der Affirmation und Essentialisierung von Gruppenidentitäten einher, die doch selbst Produkt eben der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, gegen die diese Politik sich richtet. Zu fragen wäre deshalb, ob es möglich ist, sich über diese Beschränkungen hinauszubewegen, ohne in eine Form des abstrakten Universalismus zurückzufallen, der die Realität und materielle Gewalt gesellschaftlich konstituierter Identität(en) und Unterdrückungsverhältnisse und die Unterschiedlichkeit der durch sie konstituierten Erfahrungen leugnet und unsichtbar macht.  

Kurzbiographien

Donatella di Cesare  ist Professorin für theoretische Philosophie an der Sapienza Universität Rom. Auf Deutsch sind kürzlich erschienen: Das Komplott an der Macht (2022), Philosophie der Migration (2021), Die Zeit der Revolte (2021) und Von der politischen Berufung der Philosophie (2020). 

Astrid Séville  ist Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, am Institut für Politikwissenschaft der Leuphana. Vorher war sie Vertretungsprofessorin für Politische Philosophie und Theorie an der TU München und Akademische Rätin auf Zeit am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München. Ihre Promotion erfolgte 2015 mit einer Arbeit über die Rhetorik von Sachzwang und Alternativlosigkeit; zuvor studierte sie Politikwissenschaft, Romanistik und Historische Anthropologie in Freiburg und Paris.

Leo Roepert  ist Soziologe am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Theorie, Rechtspopulismus/Neue Rechte, Rassismus und Antisemitismus. Seine Dissertation ist unter dem Titel Die konformistische Revolte. Zur Mythologie des Rechtspopulismus (Bielefeld, 2022) veröffentlicht worden.

Christine Achinger  ist Associate Professor of German Studies an der Universität Warwick (Großbritannien). Sie arbeitet zu kritischer Gesellschaftstheorie, deutscher Literatur, Geschichte und Theorie des Antisemitismus und Konstruktionen des Jüdischen, von Rasse, Geschlecht und nationaler Identität und deren Wechselverhältnis. Relevante Publikationen u.a.: „Bilder von Geschlecht, Judentum und Nation als Konstellation – Intersektionalität und kritische Theorie“, in Karin Stögner and Alexandra Colligs (Hrsg.), Kritische Theorie und Feminismus, (Berlin, 2022), Distorted Faces of Modernity: Racism, Antisemitism and Islamophobia (London, 2015), hg. Mit Robert Fine; Gespaltene Moderne. Gustav Freytags Soll und Haben – Nation, Geschlecht und Judenbild (Würzburg, 2007).