Promovierende

Die Doktorand*innen der interdisziplinären Forschungsinitiative befassen sich mit der sozio-historischen Erfahrung von Disruption, die globalisierte Gesellschaften in ihrer polykrisenhaften Verfasstheit insgesamt charakterisiert. Wenn diese auf unterschiedlichsten Ebenen und in je lokalen Formen und Intensitäten mehr und mehr mit Brüchen und drohenden Zusammenbrüchen konfrontiert sind, so sind auch deren Weisen des Agierens, Reagierens und Produzierens selbst zunehmend durch Logiken des Bruchs bestimmt. Die Stipendiaten-Gruppe der insgesamt sechs Doktorand*innen speist sich aus dem Fächerspektrum der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Promovierende

Milan Stürmer
Promotionsprojekt "Schulden erben"

Schulden sind eine Technik der Übertragbarkeit und Übertragung verbindlicher und verbindender Beziehungen. Die Übertragung der Schulden von einem Moment auf den nächsten, von einer Lebensphase auf die nächste, oder von Generation zu Generation, produziert Kontinuität in zunehmend diskontinuierlichen und bruchhaften Biografien und Gesellschaften. Über prekäre und intermittierende Arbeits- und Einkommensverhältnisse, unsichere und unstete politische Bedingungen, ja über die ganze Logik des permanenten Bruchs hinweg, werden durch die Schulden (vermeintlich) verbindende Beziehungen übertragen. 

Vor dem Hintergrund der Proliferation der Formen der Schulden seit dem de facto Ende des Bretton-Woods-Systems und dem Aufstieg neoliberaler Wirtschaftsordnungen sowie, und das ist entscheidend, über ihr Ende hinaus, verhandelt meine Arbeit die Möglichkeit einer explizit medienphilosophischen Kritik zeitgenössischer politischer Ökonomie. Nicht erst seit John Maynard Keynes, so hat Geoff Mann jüngst gezeigt, ist der Erhalt des modernen Zivilisationszusammenhangs in vollster Anerkennung seiner Bruch- und Krisenhaftigkeit die Raison d’Être der politischen Ökonomie als Staatswissenschaft. Stellt man die Frage der Schulden und ihrer Übertragung, in ihrer gleichsam kontinuitätsstiftenden und jede Kohärenz suspendierenden Funktion, als philosophische Frage, lässt sich ein genuin medienphilosophischer Zugriff auf die politische Ökonomie entwickeln. Dies ist das Kernargument, das meine Arbeit avancieren möchte.

Hiba Naeem 
Doctoral project "Floods, Debris, and Mangroves: Ecological Warfare in South Asian Anglophone Literature"

This doctoral research will then investigate; the representation of disruption(s) or crises through instances of specific and local ecologies in South Asia. The cross-disciplinary research methodologies between literary and ethnographic study will examine the indigenous Sindhi and Baloch people and their close ties with the land and its environment. I contend that sites of abandonment, such as infrastructural plans like flyovers and plazas, enable a reconvention in how these spaces are used. From informal economies of standby trucks, street hawkers and dhabas, local cafes, and small-scale fishing to the recreational use of debris, canals and viaducts by street children, the ecological degradation and the methods of recycling make for a significant understanding of how we can redefine disruptions and their unconventional use.

Konstantin Mitrokhov 
Promotionsprojekt "Games Agents Play: On Game-like Simulations and the Possibility of Generalist Artificial Intelligence"

I propose a study of modelling and simulation practices in artificial intelligence research, focusing on game-like environments designed by the means of video game engines. Machine learning in game-like environments is a novel approach that encodes manifold assumptions about the real world as playable virtual models. Such environments are used in artificial intelligence research and often rely on commercial game engines, third-party components, and readymade assets. These software toolkits prescribe what is cognisable to artificial agents that learn from them without human supervision. The playable simulations are modelled to fulfil the agency to learn, acting as testbeds for algorithmic modelling of intelligence. These techniques anticipate the shift from historical to synthetically generated datasets, thus disrupting existing concepts of agency and creating the conditions of possibility for open-ended modes of knowledge production. By asking how game-like simulations for machine learning are designed, I set out to explore the consequences of this paradigmatic shift for what we understand as “learning” and “intelligence”.

Benedikt Kuhn 
Promotionsprojekt "Ästhetik der Disruption. Temporale Subjektivität nach Kant, Marx und Stiegler"

Dieses Promotionsprojekt beabsichtigt die begrifflichen Grundzüge einer Ästhetik der Disruption nach Kant, Marx und Stiegler zu entwickeln. „Disruption“ ist der Titel einer Diagnose, mit der Bernard Stiegler eine, zunehmend als permakritisch erlebte, subjektive und kollektive Erfahrung der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts beschreibt. Stiegler bezieht sich dabei insbesondere auf die Effekte digitaler Netzwerkkulturen und eines neoliberalen Kapitalismus. Das Projekt „Ästhetik der Disruption“ fokussiert konkret eine zentrale Frage, die sich in Bezug auf diese Erfahrung stellt: Wie ist die komplexe Mediation und Synchronisation sinnlicher Wahrnehmung heute, in einer globalisierten, in real time verschalteten, durch Affektpolitiken und koexistierende Gegenwarten geprägten Welt, denkbar? Die (post-)kantische Ästhetik scheint wertvolle Ressourcen zur Beschreibung der Struktur sinnlicher Wahrnehmung (aisthesis) und deren diskursiver Realität (ästhetische Urteile) zu bieten. Karl Marx’ kritische Theorie sozialer Reproduktion wiederum, soll als Grundlage eines Verständnisses der Vermittlung von individueller und kollektiver Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften untersucht werden. Eine Hypothese des Projekts ist dabei die, dass dies am besten in Anschluss an die werttheoretische Tradition der Marx-Interpretation möglich ist. Stieglers Denken einer unhintergehbaren Technizität der Wahrnehmung schließlich, soll als Reartikulation von Kernaspekten der Subjekttheorien bei Kant und Marx rekonstruiert werden. Das Projekt folgt der grundsätzlichen These, dass alle drei Philosophien sich durch eine in ihnen zentrale Verbindung von Subjektivität und Temporalität auszeichnen. Entsprechend besteht sein Ziel in einer Konstellation der drei Positionen am Leitfaden eines Begriffs „temporaler Subjektivität“. Im Rahmen der Erarbeitung begrifflicher Grundzüge einer kritischen Ästhetik der Gegenwart sollen sie sich gegenseitig ergänzen und wechselseitig illuminieren.

Julian Jestadt 
Promotionsprojekt "Eine Politische Ökonomie der Depolitisierung: Neoliberalismus, Post-Politik und Notwendigkeit"

In den letzten Dekaden wird westlichen Demokratien zunehmend eine Tendenz zur Depolitisierung attestiert. Diese post-politische Entwicklung wird der neoliberalen Wende zugeschrieben, die in den 1970er-Jahren begann und heute in zahlreichen Phänomenen der Anti-Politik kulminiert. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose eröffnen radikale Demokratietheorien und ihr Konzept der politischen Differenz eine kritische Perspektive auf eine Politik zweiter Ordnung. Politik ist nicht nur ein Streit um bestimmte Politiken, sondern auch ein vorgelagerter Streit darüber, was überhaupt als Objekt politischer Auseinandersetzung gelten kann. Insbesondere im ökonomischen Kontext jedoch scheint die Politik zweiter Ordnung von einer Politik der Notwendigkeit stillgelegt worden zu sein, die damit einer Schlüsseleinsicht radikaler Demokratietheorien widerspricht: der Kontingenz jeder sozialen Ordnung. Auf der Folie demokratischer Kontingenz würde eine politische Ökonomie der Depolitisierung ein analytisches Vokabular zur Verfügung stellen, mit dem die Politik der Notwendigkeit im Feld der Politik zweiter Ordnung dekonstruiert werden kann. Indem sie die diskursiven und institutionellen Mechanismen der Depolitisierung freilegt sowie vermeintliche ökonomische Notwendigkeiten mit Alternativen konfrontiert, trägt eine politische Ökonomie der Depolitisierung zur Revitalisierung des demokratisch Imaginären bei und öffnet dadurch den Horizont politischer Möglichkeit und Veränderung in der neoliberalen Ära.

Maxi Wallenhorst 
Promotionsprojekt "Im Umbruch der Vergeschlechtlichung. Dissoziative trans Politik"

Trans und queere Leben finden sich mitten in der sozio-historischen Erfahrung von Disruption wieder: Sie werden damit konfrontiert, dass ihre bloße Gegenwart in liberalen wie reaktionären Diskursen für gesellschaftliche Brüche steht, für Aufbruch wie Zusammenbruch gesellschaftlicher Kontinuität. (Disruptor Elon Musk z.B. begründet seine Übernahme des Kurznachrichtendiensts Twitter sowohl mit Transition und politischen Radikalisierung seiner Tochter als auch mit seinem Glauben an eine multi-planetarische Zukunft der Zivilisation, im Namen derer “wokeness” gestoppt werden muss.) Das Promotionsprojekt fragt in diesem Zusammenhang: Unter welchen Bedingungen wird ausgerechnet die Veränderbarkeit von Geschlecht zu einer Allegorie für die Unmöglichkeit von Geschichte? Die Arbeit macht sich dabei zur Aufgabe, trans Leben weder als Bild noch als Gegenbild aktueller Krisen gesellschaftlicher Reproduktion zu verstehen, sondern als einen Umgang, der sich inmitten ihrer Diskontinuitäten entfaltet: inmitten der Krise heterosexueller Familienformen seit spätestens den 1970er Jahren, in Lücken biomedizinischer Forschung, in informellen Ökonomien von DIY-Gesundheitsversorgung und Sexarbeit, etc. Gegenstand sind dabei dissoziative Poetiken. Ausgehend vom Begriff Dissoziation – einem klinischen Modell für Diskontinuitäten des Denkens – sollen dabei psychoanalytische, dekoloniale und materialistische Ansätze kontrastiert werden, um zu beschreiben, wie Vergeschlechtlichung als Bruch erfahren wird. Konkret arbeitet das Projekt ästhetische Praxen durch, vom lyrischen Versbruch bis zum Noise-Signal, die Dissoziation selbst zum diskursiven oder formalen Register machen. Ohne Integration zu fordern oder Desintegration zu romantisieren, so die These, nähern sie sich Umbrüchen der Vergeschlechtlichung unter Bedingungen einer kapitalistischen Gegenwart – und wie sich mit ihnen brechen lässt.