Maria Muhle | Mimetische Milieus und insektoide Psychosen

07. Jan.

18:00 Uhr, C40.530

In seinem frühen, kurzen und fulminanten Text „Mimese und legendäre Psychasthenie“, der 1935 in der Zeitschrift Minotaure erscheint, widmet sich Roger Caillois Formen exzessiver Nachahmung anhand der Insektenmimese und eröffnet zugleich eine Fluchtlinie hin auf die psychische Verfasstheit menschlicher Subjekte und ihre Raumpathologien. Entgegen der These, das mimetische Anpassungsverhalten der Insekten an ihre Umwelt sei ein Abwehrmechanismus, zeigt Caillois, dass es sich hierbei keineswegs um eine Artikulation des Selbsterhaltungstriebs, sondern um einen „Trieb zur Selbstaufgabe“ handele. Mimese wird zur Pathologie, insofern sie die Unterscheidung zwischen Organismus und Umgebung zersetzt. Zugleich beschreibt Caillois die morphologische Mimese als eine „echte Photographie [...]: eine Skulptur-Photographie oder besser eine Teleplastik“, als eine Art 3D-Print avant la lettre. Der Vortrag möchte diesen Zusammenhang von (Insekten-)Mimese und Fotografie untersuchen und sich dabei auf einschlägige Caillois-Lektüren (R. Krauss, J. Lacan, K. Silverman) beziehen, die sowohl den Ästhetik- als auch den Subjektbegriff aufweichen und so Anhaltspunkte geben für die Bestimmung einer „Milieuästhetik“, die sich für eine Lektüre gegenwärtiger künstlerischer Praktiken und ihrer technoästhetischen Implikationen als produktiv erweist.

 

Maria Muhle ist Professorin für Philosophie I Ästhetische Theorie an der Akademie der Bildenden Künste München. 2007 wurde sie mit ihrer bi-nationalen Doktorarbeit „Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem“ in Paris und Frankfurt/Oder promoviert. Von 2014 bis 2020 war sie Teilprojektleiterin in der DFG-Forschungsgruppe „Medien und Mimesis“. Von 2014 bis 2020 war sie Beiratsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik und seit 2017 ist sie P.I. am Internationalen Doktorandenkolleg „Mimesis“ der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von März bis Mai 2018 war sie Fellow an der Kolleg-Forschergruppe „BildEvidenz“ der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitbegründerin und Herausgeberin des August Verlags Berlin. Seit Frühjahr 2020 ist sie Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs „Medienanthropologie“ der Bauhaus-Universität Weimar. 

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Politische Ästhetik, Medienphilosophie, Biopolitik und Lebensbegriffe seit 1800, Strategien des Reenactment, Medien und Mimesis.

Publikationen (Auswahl): 

Monographien / Herausgaben: Mimetische Milieus. Eine Ästhetik der Reproduktion, München: Fink 2023; als Herausgeberin zusammen mit Marietta Kesting, Jenny Nachtigall und Susanne Witzgall: Hybride Ökologien, Berlin/Zürich: Diaphanes 2019

Aufsätze: „‚a late-comer to the party‘ – Bewusstsein im Techno-ästhetische Überlegungen“, in: Simon Baier, André Rottmann (Hg.), Kunst ohne Bewusstsein? Beiträge zur technologischen Ästhetik der Gegenwart, Berlin: de Gruyter (im Erscheinen); „Politik und die Künste“, zus. mit Anne Gräfe, in: Judith Siegmund (Hg.), Handbuch Kunstphilosophie, Bielefeld: UTB 2022.

 

Eine Veranstaltung der Forschungsinitiative Die Disruptive Bedingung 
Kontakt: Anne Gräfe (anne.graefe@leuphana.de)