Innovationen haben ihre Zeit
15.01.2024
Der Start ist geglückt – das Projekt in vollem Lauf: Das wissenschaftliche Netzwerk „Disruptive Innovationsprozesse und Zeitlichkeit“ widmet sich der Rolle des Faktors Zeit bei der Suche nach dem „völlig Neuen“. Disruptive Innovationsprozesse, die das Denken, Handeln oder die Lösung von Problemen bei Einzelnen, in Firmen und Organisationen auf radikal andere Weise zulassen, verlaufen immer mit einem Zeitbezug. Diese Wechselwirkung wird untersucht.
Es geht darum die Implikationen von verschiedenen zeittheoretischen Linsen „Zeit als Ressource“, „Zeit als Struktur(geber)“ oder „Zeit als Prozess“ im Innovationsprozess zu verstehen. Die zweijährige Förderung lief Ende 2023 an. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte internationale Forschungsprojekt läutet nach Aussage der wissenschaftlichen Leiterinnen eine „neue Agenda für Forschung und Praxis“ ein. „Denn der Faktor Zeit wird als ein wesentliches Kriterium im Innovationsgeschehen verstanden und untersucht. Lösungen für Praxisfragen können Firmen sowie Organisationen daraus ableiten“, erklären die Lüneburger Wissenschaftlerinnen Sarah Stanske und Stefanie Habensang.
Das Thema passt in die Zeit. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte kürzlich den Handlungsrahmen der bundeseigenen Agentur für Sprunginnovationen - SPRIND - rechtlich vergrößert. Damit wurde eine Grundlage geschaffen, die praktische Suche nach den Durchbruchinnovationen in Deutschland auszubauen. Ergänzend dazu laufen 2024 die Vorbereitungen zur Entwicklung der DATI – der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation – auf Hochtouren. Trotz Haushaltsengpässen im Bund hat das Feld Innovation Vorfahrt. Davon profitiert auch die Forschung in der Fakultät Management und Technologie in Lüneburg, aus der heraus das internationale Netzwerk koordiniert wird.
Wechselwirkungen der Temporalität
Dr. Sarah Stanske, Betriebswirtin, Postdoktorandin am Institut für Management und Organisation der Leuphana Universität und Antragstellerin des Projektes, erklärte im Rahmen der Auftaktveranstaltung in Lüneburg: „Nach über zwei Jahren Arbeit von Stefanie Habersang, Katharina Scheidgen (Universität Göttingen), Blagoy Blagoev (Technische Universität Dresden), und mir, war es ein Bilderbuchstart mit dem Kick-Off und Teilnehmenden aus Deutschland, Europa und den USA. Wir erarbeiten in den kommenden internationalen Fachgesprächen die Wechselwirkung von Temporalität und disruptiver Innovation und übersetzen den Bedarf aus der Praxis von Unternehmen und Organisationen in eine strukturierte Forschung.“
Matthias Wenzel, Professor für Organisation an der Leuphana Universität Lüneburg, hielt die Key Note. Er ergänzte: „In einer Ära ständiger Disruptionen wird die Zukunft als eine offene, zeitliche Kategorie erlebt, die nicht selbstverständlich ist. Inmitten anhaltender Krisen ist die Zukunft für Akteure in Organisationen und der Gesellschaft zu einem `Problem´ geworden: Statt aus der Vergangenheit projiziert zu werden, muss sie aktiv `gestaltet´ werden. Ein Fokus auf `Praktiken der Zukunftsgestaltung´ hilft uns, besser zu verstehen, wie Zukünfte entstehen. Disruptionen sind ein konstitutives Merkmal von diesen zukunftsgestaltenden Praktiken.“
Die begleitenden Fragen des Projektes behandeln eine große Bandbreite von Themen: Was bedeutet zum Beispiel Disruption? Sind darunter große Sprünge oder doch kleine disruptive Ereignisse zu verstehen, die sich in der Rückschau zu einer großen Disruption zusammensetzen? Wie hängen die Wahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen in der Gestaltung von disruptiven Innovationsprozessen? Und wie können Praktiken des „Zukunft-Gestalten“ empirisch erforscht und Lösungen abgeleitet werden?
Fragen an…
Professorin Stefanie Habersang und Dr. Sarah Stanske, Institut für Management und Organisation der Leuphana Universität Lüneburg.
Warum passt das Forschungsprojekt gerade jetzt so gut zu den Fragen, die Organisationen und Unternehmen zur Mitte des Jahrzehnts umtreiben?
In einer Zeit rasanter technologischer Fortschritte und globaler Unsicherheiten sind Organisationen mehr denn je darauf angewiesen, sich schnell und effektiv an Veränderungen anzupassen. Die Fähigkeit, disruptive Innovationen zu erkennen, zu verstehen und natürlich selbst zu entwickeln, ist entscheidend. Der Fokus des Forschungsprojekts auf zeitliche Aspekte innerhalb dieser Prozesse hilft die Dynamik dieser Veränderungen im Kern zu verstehen. Im Fokus steht ein Erkenntnisgewinn über die Geschwindigkeit und zeitliche Abfolge von disruptiven Innovationen, aber auch deren Entstehungsprozess im Kontext von vergangenen Ereignissen, gegenwärtigen Herausforderungen und zukünftigen Lebenswelten.
Und das bedeutet…?
…dass in einer Welt, die zunehmend komplexe soziale und ökologische Herausforderungen bewältigen muss, beispielsweise das Konzept der „slow Innovation“ ein Verständnis dafür fördert, wie Innovationen nachhaltig gestaltet und implementiert werden können, ohne dabei die Dringlichkeit des Wandels zu ignorieren. Letztlich passt das Forschungsprojekt in die aktuelle Debatte, da es hilft, ein ausgewogeneres Bild davon zu zeichnen, wie Innovationen in einer sich schnell wandelnden Welt sowohl effizient als auch verantwortungsbewusst vorangetrieben werden können.
Worin unterscheidet sich die Arbeit des internationalen Netzwerkes von anderen Kooperationen?
Dieses Netzwerk hebt sich durch seine spezifische Ausrichtung auf die zeitliche Dimension disruptiver Innovationen ab. Während viele Forschungsgruppen sich auf die technologischen oder wirtschaftlichen Aspekte von Innovation konzentrieren, untersucht dieses Netzwerk die Rolle der Zeit – sowohl als Ressource als auch als strukturierendes Element. Dieser Ansatz ermöglicht es, die Dynamik von Innovationsprozessen in einem neuen Licht zu sehen und bietet somit neue Perspektiven für Forschung und Praxis.
Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen bedacht werden, damit Unternehmen oder öffentliche Organisationen die Potenziale der Zeitlichkeit von Disruptionen erkennen und umsetzen können?
Es ist wichtig, die Rolle von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Dies beinhaltet Fragen der Regulierung, der Finanzierung von Innovationen, des Bildungssystems und der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Veränderungen. Unternehmen und Organisationen müssen verstehen, wie diese Faktoren die Geschwindigkeit und Richtung von Innovationen beeinflussen können. Die rasante Entwicklung und Zulassung der Corona-Impfstoffe beispielsweise stellten eine der größten disruptiven Innovationen unserer Zeit dar.
Was folgt daraus?
Die Pandemie schuf ein Umfeld, in dem wissenschaftliche Durchbrüche in Rekordzeit erzielt werden konnten. Jedoch hat die Schnelligkeit dieser Entwicklung auch massive Herausforderungen mit sich gebracht. Viele Menschen waren von der Geschwindigkeit der Entwicklung dieses Impfstoffes überfordert, was unter anderem zu Misstrauen und Unsicherheit führte.
Die gesellschaftliche Akzeptanz und das Verständnis für den Prozess der Innovationsentwicklung sind ebenso wichtig wie die technologische Entwicklung selbst. Für die erfolgreiche Umsetzung disruptiver Innovationen ist es entscheidend, die öffentliche Kommunikation und Bildung zu stärken.
Prof. Dr. Stefanie Habersang, Dr. Sarah Stanske