Sieben neue Bücher in Critical Studies und Digitale Kulturen

09. Apr

16:15 - 17:45 Uhr, C40.704

Zu Beginn des Sommersemesters 2024 laden das Center for Critical Studies und das Center for Digital Cultures zu einer Veranstaltung ein, bei der sieben neue Bücher vorgestellt werden, die von Mitgliedern der beiden Zentren geschrieben oder herausgegeben wurden.

Jedes Werk wird von den Autor*innen bzw. Herausgeber*innen kurz vorgestellt um einen Einblick in die Heterogenität der Forschung und des Schreibens innerhalb der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana University zu geben.

Konkat: ben.trott@leuphana.de

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Timon Beyes. 2024. Organizing Color: Toward a Chromatics of the Social. Stanford University Press.

We live in a world that is saturated with color, but how should we make sense of color's force and capacities? This book develops a theory of color as fundamental medium of the social. 

Constructed as a montage of scenes from the past two hundred years, Organizing Color demonstrates how the interests of capital, management, governance, science, and the arts have wrestled with color's allure and flux. Beyes takes readers from Goethe's chocolate experiments in search of chromatic transformation to nineteenth-century Scottish cotton mills designed to modulate workers' moods and productivity, from the colonial production of Indigo in India to globalized categories of skin colorism and their disavowal. Tracing the consumption, control and excess of industrial and digital color, other chapters stage encounters with the literary chromatics of Pynchon's Gravity's Rainbow processing the machinery of the chemical industries, the red of political revolt in Godard's films, and the blur of education and critique in Steyerl's Adorno's Grey.

Contributing to a more general reconsideration of aesthetic capitalism and the role of sensory media, this book seeks to pioneer a theory of social organization—a "chromatics of organizing"—that is attuned to the protean and world-making capacity of color.
 

Christina Wessely. 2024. Liebesmühe. Hanser

Wenn Freundinnen sie nach ihrem Befinden fragen, verstummt sie. Seit der Geburt ihres Sohnes fühlt sie sich verloren, radikal fremdbestimmt und abgeschnitten von der Welt und ihrem alten Leben. Das winzige Kind ein Fremder, den zu lieben ihr kaum gelingen will. Warum scheint plötzlich all das, wovon sie – als Wissenschaftlerin, als Feministin, als Frau – überzeugt war, nicht mehr gültig zu sein? Christina Wessely erzählt die berührende Geschichte einer Mutterwerdung und verbindet dabei eindrucksvoll persönliche und essayistische Erkundung. Mit Intelligenz und Zärtlichkeit umreißt sie ihr Selbstverständnis als emanzipierte Frau – in Kollision mit gängigen Vorstellungen von Mutterschaft, Weiblichkeit und Liebe.
 

Anna Kipke, Mimmi Woisnitza u.a. (Hg.) 2023. Ins Bild kommen. Spielräume der Kunstkritik. Brill | Fink

Wie lassen sich die Vielfalt und Vielstimmigkeit der gegenwärtigen Kunstkritik erfassen? Der Band gibt Antworten in 35 paradigmatischen Kritiken. Die Autor:innen greifen die Stimmen, Perspektiven und Schreibweisen anderer prominenter Kritiker:innen auf und entfalten in kurzen experimentellen Formen die Potenziale der Kunstkritik. Wie würde der Aufklärer Denis Diderot über eine Ausstellung der Kunst des 21. Jahrhunderts schreiben? Wie könnte eine nie geschriebene Kritik von Caroline Schlegel zu Schillers Gedichten klingen? Was erfahren wir in einer Ausstellung Gauguins mit den Werken Franz Fanons im Gepäck? Der Band schafft in fiktionalen und transhistorischen Dialogen Spielräume, in denen sich das Schreiben performativ entfaltet, in denen Identitäten entstehen, ohne festgeschrieben zu werden, in denen Urteile gefunden und situiert werden. Weit davon entfernt, in eine angebliche Krise zu verfallen, zeigt sich, wie Kunstkritik Diskurse prägen und kritisch mitgestalten kann.
 

Andreas Bernard. 2024. Der Trost der Flipper. Klett-Cotta.

Funkelnde Flipperautomaten stehen im Mittelpunkt von Andreas Bernards autobiografischer Erzählung. Die Entdeckung der Geräte in der Kindheit. Die Streifzüge durch die Lokale des Viertels, in denen sich das Gespür für die Standorte der Maschinen ebenso herausprägt wie das innere Bild der Heimatstadt. Und das Flippern als Linderungsmittel gegen Einsamkeit und Langeweile und später als Vehikel einer ersten Liebe.

Flipperautomaten standen zwischen den 1960er und 1990er Jahren in fast jeder Kneipe, jeder Bar, jedem Spielsalon. In den Filmen der Nouvelle Vague und des neuen deutschen Kinos von Wenders und Fassbinder, in den frühen Romanen von Modiano, Murakami und Rainald Goetz hatten sie ihren festen Platz. Ausgehend von den Spielautomaten erzählt Andreas Bernard die Geschichte einer Jugend und einer Stadt im Wandel. Denn im Aussterben der Flipper Ende der neunziger Jahre spiegeln sich weitaus größere Veränderungen, die etwa die Gestalt der Städte betreffen und das Ende der Industriearbeit in Deutschland. Ähnlich wie sein Vorgängerbuch »Wir gingen raus und spielten Fußball« ist »Der Trost der Flipper« gleichermaßen zeitgeschichtlicher Kommentar und literarische Erinnerung.
 

Catharina Berents. 2023. Contessa di Castiglione. Die Femme Fatale des Second Empire. Schirmer/Mosel Verlag

Unter Napoleon III. (1808-1873), der sich 1851 per Staatsstreich zum Kaiser "von Volkes Gnaden" proklamierte, wurde die Photographie zum beliebten "Spielzeug" der Reichen, Schönen und Mächtigen. Sein Hof bediente sich systematisch des neuen Mediums, u.a. in Form von Sammelalben, und brachte zwei Persönlichkeiten hervor, die je auf ihre Art Photogeschichte schrieben. Catharina Berents und Wolfgang Kemp stellen diese beiden Protagonisten des Second Empire vor, eine photogene Femme fatale und einen begnadeten Amateur." La Castiglione" (1837-1899), eine umworbene Schönheit aus dem italienischen Hochadel, wurde berühmt als Modell, als Verkleidungskünstlerin im höfischen Festereigen und als Agentin mit dem geheimen Auftrag, den Kaiser zu verführen und für die italienische Unabhängigkeit zu gewinnen. Die Rollen zu wechseln wie ihre Roben war der Lebensinhalt der Contessa di Castiglione, die von 1856 bis 1857 tatsächlich die Geliebte Napoleons III. war. Über 400 selbst inszenierte Portraits ließ sie von Pierre-Louis Pierson anfertigen, dem Mitbesitzer des Ateliers Mayer & Pierson, das auch der Kaiser und der ganze Hof häufig frequentierten. Die berühmte Aufnahme der Contessa mit einem kleinen Bilderrahmen vor dem Gesicht sollte später zu einer feministischen Ikone werden.
 

Ben Trott und Mike Laufenberg (Hg.) 2023. Queer Studies. Schlüsseltexte. Surhkamp

Seit drei Jahrzehnten untersuchen Queer Studies die Macht geschlechtlicher und sexueller Normen – und wie diese infrage gestellt werden. Sie erforschen die komplexen Zusammenhänge von Sexualität, Geschlecht, Rassismus, Klasse und Nation. Dieser Band versammelt klassische und neuere Schlüsseltexte der anglophonen Queer Studies in deutscher Sprache, von Judith Butler und Eve Kosofsky Sedgwick bis Cathy Cohen und José Esteban Muñoz. Er führt in die wichtigsten theoretischen Positionen ein, macht mit den zentralen Entwicklungslinien des Diskurses vertraut und präsentiert wegweisende queere Analysen zu Kapitalismus, Migration, Geopolitik, Behinderung, Aktivismus, Kultur und Subkultur.
 

Andreas Bernard. 2023. Die Kette der Infektion. Zur Erzälbarkeit von Epidemien seit dem 18. Jahrhundert. S. Fischer Verlag

Ein völlig neuer Zugang, um u. a. die Corona-Pandemie besser zu verstehen: Der Wissenschaftshistoriker Andreas Bernard geht in seinem Buch »Die Kette der Infektionen« von der Hypothese aus, dass die Bekämpfbarkeit von Epidemien an ihre Erzählbarkeit gebunden ist. Neben dem dezidiert medizinischen Anteil am Kampf gegen Seuchen – der Entwicklung von Impfstoffen, der Erforschung von Immunität – erscheint die Frage, wie Epidemien und ihre Ausbrüche abgebildet werden, ob sie überhaupt abbildbar sind, für den Erfolg der Eindämmung zentral. Andreas Bernard macht diesen Zusammenhang, der im Hinblick auf die Corona-Pandemie seit dem Frühling 2020 immer wieder deutlich wurde, in seinen Studien zur Geschichte der Pocken, der Cholera, der Influenza, der Poliomyelitis oder der Frühzeit von Aids sichtbar. Er untersucht, inwiefern der Siegeszug der Bakteriologie im späten 19. Jahrhundert eine neue Darstellung der Ansteckungsprozesse durchgesetzt hat, deren Erzählformen und Sprachbilder heute noch gültig sind. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Ursprung und dem Ende von Epidemien, als zwei neuralgischen Punkten der Seuchenerzählung, arbeitet die Begleitnarrative von »Immunität« seit dem 18. Jahrhundert heraus und analysiert die Bedeutung von Kommunikationsmedien wie dem Brief, dem Telegramm und den aktuellen Tracking-Apps, deren Nachrichten über die Epidemie in einen Wettlauf mit dem Voranschreiten der Krankheit treten. Andreas Bernards Buch »Die Kette der Infektionen« verbindet medizinhistorische und erzähltheoretische Forschung und schafft einen bislang kaum beachteten Zugang zur Geschichte der Epidemien, der auch einen neuen Blick auf die Corona-Pandemie der letzten Jahre ermöglicht. 
 

Anne Gräfe. 2024. Langeweiel aushalten. Kontingenzerfahrung in der Gegenwartskunst. Kulturveralg Kadmos

Spricht man über das Verhältnis von Publikumserwartung und Kunstwerk, zumal vor der Folie eines Wandels in der Zeit, berührt man immer wieder auch die Frage nach dem gesellschaftlichen Stand der Kunst. Mit welchen Erwartungen ist die Kunst seitens der Ausstellenden, der Betrachtenden, der Schaffenden selbst und der Gesellschaft im Ganzen konfrontiert? Soll Kunst unterhalten, kritisieren, die Welt erklären, das Subjekt sich selbst verstehen lassen? Wird Kunst als kollektives, kommunikatives und identitätsstiftendes Moment verstanden? Oder ist Kunst gar nur eine abgehobene Spielwiese und Distinktionsmerkmal der Reichen? Nicht zuletzt mit Theodor W. Adorno stellt die Kunst eine »gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft« dar: Und das bedeutet, dass sich die Kunst sowohl aus der Gesellschaft zu ergeben, ihr dabei aber auch zu widersprechen habe. Die in diesem Buch besprochene, gegenwartspezifisch ästhetische Langeweile er­möglicht eine radikale Kontingenzerfahrung in der Gegenwartskunst. Radikal ist diese Erfahrung aufgrund des widerspenstigen, weil in sich gegenwendigen Charakters der Kunst: Hier zeigt sich, dass, wo eine andere Geschichte geschrieben, eine andere Ordnung imaginiert werden kann, auch eine andere Gegenwart und Zukunft möglich sind.