Research >> Freedom ©Jan-Bennet Voltmer/Leuphana
„Wir alle müssen uns zu diesem Thema mehr Gehör verschaffen. Universitäten, Hochschulen, Studentenvereinigungen, Regierungen und NGOs - wir alle müssen uns bewusst sein, wie schwerwiegend und weit verbreitet die Angriffe auf die akademische Freiheit sind.“
Warum ist akademische Freiheit überhaupt wichtig? Würde es nicht ausreichen, den Akademiker*innen eine Liste von Fakten zu geben, die sie auswendig lernen sollen – und das war's?
Maureen Macoun: Wenn es so eine vorgegebene Liste gäbe, so wäre die ziemlich unveränderlich; wissenschaftlicher Fortschritt wäre dann nicht möglich. Menschen würden immer das Gleiche lernen. Fortschritt und Veränderung entsteht durch Vielfalt – eben, weil viele unterschiedliche Menschen viele unterschiedliche Ideen und Forschungsinteressen haben. Wenn man zum Beispiel in die Vergangenheit guckt, hat auch die Kirche Wissenschaftsfreiheit sehr begrenzt, indem etwa religiöse Lehren gepredigt wurden, denen Erkenntnisse nicht widersprechen durften. Freiheit zu garantieren ermöglicht uns allen, und auch der Gesellschaft als Ganzes, sich zu entwickeln und sich zu wandeln. Deswegen ist es sehr wichtig, dass der Staat Wissenschaftsfreiheit als Institution ermöglicht, wo Einzelne nach Interessen und Fähigkeiten neue Erkenntnisse gewinnen können.
Asli Olcay: Die akademische Freiheit ist auf verschiedenen Ebenen bedeutsam. Sie ist natürlich für die*den einzelne*n Wissenschaftler*in wichtig, denn als Einzelpersonen haben wir das Recht auf Rede- und Gedankenfreiheit, so dass wir als Wissenschaftler*in in der Lage sein sollten, unsere Rechte auszuüben. Aber sie hat auch eine öffentliche Dimension. Akademiker*innen produzieren Wissen, das der Menschheit und der Welt zugute kommt. Für uns alle als Menschen ist es zentral, dass die akademische Freiheit geschützt wird, so dass Akademiker*innen dieses Wissen frei produzieren und die Wissenschaften voranbringen können. Und die akademische Freiheit ist natürlich auch für Studierende relevant, aber nicht nur für sie. Es gibt viele Nutznießer*innen der akademischen Forschung - man denke etwa an Patient*innen, die von der medizinischen Forschung profitieren, an Arbeitnehmer*innen, die von der Forschung über ihre Arbeitsbedingungen profitieren, oder an Studierende im Hinblick auf die Freiheit in Bezug auf Lehre und Lernen. Diese Bedeutung für Studierende ist auch eng mit dem Recht auf Bildung verbunden. Bei der akademischen Freiheit geht es also nicht nur um die Rechte von Akademiker*innen, sondern auch um das Recht auf Wissenschaft und das Recht auf Bildung für andere.
Wie ist der aktuelle Stand der akademischen Freiheit?
Asli Olcay: Derzeit wird die akademische Freiheit in der ganzen Welt angegriffen - nicht nur in Ungarn, der Türkei oder Russland. Sie ist bedroht - auch wegen des zunehmenden Nationalismus und der Unfreiheit, die wir überall auf der Welt beobachten. Die Website Scholars at Risk, ein in den USA ansässiges Netzwerk zum Schutz der akademischen Freiheit, hat einen Monitor für akademische Freiheit eingerichtet. Allein im vergangenen Jahr wurden dort 238 Angriffe auf die akademische Freiheit registriert. Die jüngsten Angriffe wurden in Griechenland, Bangladesch, Marokko und Indien verzeichnet. Es handelt sich also wirklich und leider um ein weltweites Phänomen. Und die Angriffe bestehen nicht nur in der Einschränkung der Gedanken- und Redefreiheit: Wir sehen Gewalt gegen Akademiker*innen, Verlust von Arbeitsplätzen, Reisebeschränkungen, Schließung von Universitäten - es gibt also weit verbreitete und unterschiedliche Arten von Angriffen.
Maureen Macoun: Wir sehen, dass in verschiedenen Ländern Wissenschaftsfreiheit eingegrenzt oder beschnitten wird, dass der Staat praktisch wieder Kontrolle darüber bekommen möchte, was geforscht und gelehrt wird und was Ideen sind, die dem Verständnis des Staates entsprechen und nicht widersprechen. Das ist natürlich eine bedrohliche Entwicklung für die Wissenschaftsfreiheit. Insgesamt geht das oft einher mit der Verletzung von anderen Menschenrechten wie zum Beispiel Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit. Da sind Menschenrechte unteilbar und häufig sehen wir Verletzungen in verschiedenen Bereichen. Das trifft auch auf Russland, Ungarn und die Türkei zu. Wir erleben, dass viele junge Wissenschaftler*innen diese Länder dann auch verlassen, um irgendwo anders forschen zu können. In Deutschland dagegen sehe ich die Herausforderungen eher im Zugang zur Wissenschaft. Es reicht nicht, dass sich der Staat da nicht einmischt – der Staat sollte auch gewisse Grundlagen bereithalten und gleichmäßigen Zugang für Menschen garantieren. Der Staat muss garantieren, dass der Zugang zur Forschung nicht so stark wie bisher vom akademischen Hintergrund der Eltern und deren finanziellen Ressourcen abhängt.
Welchen Aspekt dieser Angriffe finden Sie am beunruhigendsten?
Asli Olcay: Ich denke, sie sind alle gleichermaßen besorgniserregend. Vielleicht möchte ich zwei hervorheben: Körperliche Gewalt gegen Akademiker*innen - das ist eine sehr ernste Form des Angriffs auf Akademiker*innen, und leider kommt auch das vor. Der andere ist der institutionalisierte Angriff, zum Beispiel die Schließung von Universitäten. Wir haben das in der Türkei und im Fall der Central European University gesehen, die aus Ungarn umziehen musste. Auch das ist von grundlegender Bedeutung, denn es betrifft alle Studierenden dieser Universität und hat auch eine abschreckende Wirkung auf alle anderen Universitäten. Es schafft ein Umfeld der Einschüchterung und Angst.
Maureen Macoun: Es gibt auf jeden Fall verschiedene Abstufungen der Bedrohung von Freiheit. In Deutschland droht Wissenschaftler*innen nicht die Todesstrafe. Wissenschaftler*innen werden auch nicht aufgrund ihrer Tätigkeit als Wissenschaftler*innen inhaftiert. Das heißt nicht, dass es perfekt um die Wissenschaftsfreiheit bestellt ist, aber trotzdem bewegen wir uns hier in einem relativ sicheren Rahmen, in dem wir uns auch engagieren können. Das sieht in manchen Ländern ganz anders aus. Was nicht heißt, dass wir uns in Deutschland zurücklehnen können, sondern wir sollten auch schauen, dass wir uns auch verbessern.
Was kann getan werden?
Maureen Macoun: Das kommt darauf an, in welchem Kontext man sich bewegt. Wenn ich zum Beispiel an meinen eigenen Kontext denke, gerade als Frau und als Mutter, da ist es mir wichtig, Sichtbarkeit zu schaffen. Das heißt, zu zeigen, dass verschiedene Lebenswege und Lebensgestaltungen mit der Tätigkeit als Wissenschaftlerin vereinbar sind und auch selber Vorbild zu sein für andere, um eben auch diese Hürden vielleicht ein bisschen zu senken. Vor allen Dingen, sollte man junge Menschen zu den akademischen Herausforderungen ermutigen und ihnen den Zugang zur Forschung ermöglichen. Zudem würde es helfen, die Petition von Amnesty zu unterzeichnen, um den Wissenschaftler*innen im Iran, denen gerade die Hinrichtung droht, zu helfen. Amnesty setzt sich entschieden für bedrohte und inhaftierte Wissenschaftler*innen ein. Und international ist es wichtig, eine starke Zivilgesellschaft zu etablieren und auszubauen: eine, die ihre Rechte wahrnimmt und einfordert, was auch sich positiv auf Wissenschaftsfreiheit auswirkt.
Asli Olcay: Wir alle müssen uns zu diesem Thema mehr Gehör verschaffen. Universitäten, Hochschulen, Studentenvereinigungen, Regierungen und NGOs - wir alle müssen uns bewusst sein, wie schwerwiegend und weit verbreitet die Angriffe auf die akademische Freiheit sind. Als international agierende Anwältin kann ich auch aufzeigen, wie das internationale Recht zu einem besseren Schutz der akademischen Freiheit beitragen kann. Im internationalen Recht gibt es verschiedene Menschenrechtsmechanismen, zum Beispiel im Rahmen der Vereinten Nationen oder auf regionaler Ebene. Diese können, vielleicht häufiger und proaktiv, zum Schutz der akademischen Freiheit eingesetzt werden.
Welchen Rat würden Sie neuen Master- und PhD-Studenten geben?
Asli Olcay: Studierende und auch ganz allgemein junge Menschen haben sich sehr für bestimmte Themen wie den Klimawandel oder die Bekämpfung von Rassismus eingesetzt. Ihr Aktivismus war in diesen Bereichen sehr stark und kann auch auf den Schutz der akademischen Freiheit ausgeweitet werden.
Vielen Dank!

Referentinnen

Maureen Macoun studierte Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt Europa- und Völkerrecht. Das Referendariat und zweite Staatsexamen absolvierte sie in Schleswig-Holstein. Seit 2019 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und promoviert dort im Völkerrecht zur Rolle von Frauen in Friedensprozessen.

Asli Ozcelik Olcay ist Dozentin für internationales Recht an der School of Law der Universität von Glasgow. Sie ist Co-Direktorin des Erasmus Mundus Joint Master in International Law of Global Security, Peace and Development und Gastwissenschaftlerin am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, Italien.

Graduate School Kick-off

Die Opening Days sind die gemeinsame Auftaktveranstaltung für Master Studierende und Promovierende und stehen in 2022 vom 30. September bis zum 5. Oktober unter dem Leitthema „Research >> Freedom“. Hier finden Sie weitere Infos zur Podiumsdiskussion mit internationalen Gästen am 4. Oktober.