Die Erfindung des Klimas
Koloniale Naturen und moderne Gesellschaften
05.06.2024 Das Leuphana Institute for Advanced Studies (LIAS) in Culture and Society begrüßte Simon Schaffer, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der University of Cambridge, zu einem Vortrag über die Entstehung unseres heutigen Verständnisses von Klima und dessen Wurzeln im Kolonialismus. Diskutanten waren Christina Wessely, Professorin für Kulturgeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg und LIAS Senior Fellow Richard Drayton.
Nach einer Einführung durch Richard Drayton, der die Bandbreite, der von Simon Schaffer erforschten Zeiträume und Interdisziplinarität hervorhob, sprach Schaffer über die Ergebnisse seines Projekts “Making Climate History”, an dem er beteiligt ist. Dieses Projekt befasst sich mit 250 Jahren Klimawissenschaft, sowohl aus naturwissenschaftlicher als auch aus kultureller und wirtschaftlicher Sicht.
Schaffer identifiziert drei Momente während der beginnenden Kolonialisierung, die wesentlich zu unserem gegenwärtigen Verständnis von „Klima“ beigetragen haben. Der erste ist direkt auf den europäischen Kolonialismus und die Kriegsführung zurückzuführen. Denn in den globalen Handelsnetzen, vor allem in Amerika, dem Mittelmeerraum, in China und Südasien wurde die Fähigkeit gefordert, Wettermuster zu registrieren, vorherzusagen und auf sie zu reagieren, um die wirtschaftliche und politische Expansion nicht zuletzt mit militärischen Mitteln voranzutreiben. So entwickelten sich Aufzeichnungssysteme und Beobachtungen parallel zur Entmündigung indigener Bevölkerungen. In diesem Zusammenhang fügte Schaffer hinzu, dass wir heute über diese Instrumente und ihre modernen Nachfahren nachdenken müssen, da die Klimamessung zeitgleich mit dem Klimawandel begann, der von denselben Akteuren ausgelöst wurde, und zwar schon im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert.
Diese Entwicklungen führten direkt zum zweiten Moment, den Simon Schaffer die meteorologische Periode nannte. Das Aufkommen der Naturwissenschaften im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert beförderte das Wissen über die „meteorologische Geographie“ und ermöglichte erst die Formulierung des Begriffs „Klimatologie“ auf der Bais von Chemie, Biologie, mathematische Physik Sternastronomie, Statistik, Soziologie und politische Ökonomie. Eine neue Wissenschaft war entstanden.
Das Entstehen der „Klimatologie“ ging einher mit einem ausgeprägten Eurozentrismus, so Schaffer, der Ferne mit Vergangenheit gleichsetzte und bekanntlich einen Begriff der Zivilisation von indigenen Einwohnern ferner Kontinente – den „Primitiven“ – abgrenzte, was der Erfindung des „globalen Südens“ gleichkam. Schaffer wollte hier auf den Zusammenhang zwischen Geschichte und Genealogie, Natur und Alterität sowie den expansiven, kämpferischen Vorstellungen der Akteure der Klimatologie hinaus. Für fernere Regionen verließen sich die Europäer, da sie keine Daten hatten, auf Proxies als indirekte Hinweise auf den Klimawandel, etwa Baumringe, Eiskerne, Fossilien, Sedimente und ähnliche natürliche „Archive“. Schaffer stellte die These auf, dass indigenes Wissen bis heute als Proxy behandelt wird. Nicht zuletzt verwies Schaffer auf die Verbindungen zwischen der Wirtschafts- und Wissenspolitik und einem Modell der Entwicklung des Klimas, welche eben jene imperialen und kolonialen Rahmenbedingungen verschweigen, die die Wissenschaft der Klimaforschung hervorgebracht haben, wofür die Missachtung der Proxies als unzuverlässige Klimabelege nur ein Beispiel darstellt.
Dies unterstrich Schaffer noch einmal in der Diskussion, als Christina Wessely fragte, wie das indigene Wissen im Vergleich zu den anderen Erkenntnissen auf epistemologischer Ebene abschneidet. Hier drücke sich, so Schaffer, die anhaltende koloniale Denkweise aus, denn es gäbe aus seiner Sicht keinen Unterschied. Im Gegenteil benötige die Menschheit das Wissen, und die Praktiken der Einheimischen, um mit dem Klimawandel nachhaltig umzugehen. Allerdings zählte Schaffer auch die Kenntnisse der heutigen einheimischen Bevölkerung dazu, etwa das Wissen eines italienischen Winzers, womit nicht alle Anwesenden einverstanden waren.
Eine naheliegende Diskussion ergab sich aus der Tendenz zum Aktivismus in den Umwelt-Humanwissenschaften. Schaffer kritisierte, wie schnell aktivistische Praktiken als Reaktion auf bestimmte Erkenntnisse oder Theorien entstehen, ohne dass diesen Praktiken Zeit zur Entwicklung gegeben wird. Ferner übte Schaffer Kritik am Aktivismus, wenn das problematische „Wir“ oder das Subjekt im Mittelpunkt steht und nicht das Objekt der Diskussion, also die Natur. Die Frage, wie das „Objekt“ der Klimatologie eingegrenzt werden könne, und welche Rolle der Technologie, etwa Künstliche Intelligenz, dabei zukämen, wurde nur gestreift.
Simon Schaffer, dem es gelang, die Zuhörer*innen in den Bann zu ziehen, schloss mit der Bemerkung, dass wir das Wissen der Akteure in der Klimatologie nicht als etwas Kreatives überbewerten, während wir indigenes Wissen als „primitiv“ unterbewerten, denn dadurch würde auch ihre Arbeit bagatellisiert.