Die kolonialen Wurzeln der Sozialwissenschaften

The Rise of Social Sciences: British India as a laboratory of Comparative Knowledge 1780-1900

07.06.2024 In einer Podiumsdiskussion am LIAS stellte sich der Philosoph Gildas Salmon mit seinen Forschungen zum Wissenstransfer aus Kolonialindien durch die Briten bei der Entstehung der modernen vergleichenden Sozialwissenschaften den kritischen Fragen von LIAS Senior Fellows Rosalind Morris und Richard Drayton

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LIAS Podiumsdiskussion mit Rosalind Morris, Richard Drayton und Gildas Salmon (v.l.)
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Gildas Salmon bei der Podiumsdiskussion am LIAS
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LIAS Co-Direktor Erich Hörl und LIAS Fellow Bruno Moreschi bei der LIAS Podiumsdiskussion
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Rosalind Morris, Richard Drayton und Gildas Salmon (v.l.)
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LIAS Fellow Paula Bertúa bei der LIAS Podiumsdiskussion

Gildas Salmon, Dozent am French National Center for Scientific Research in Paris, sprach im Rahmen eines Talks mit den Senior Fellows Rosalind Morris und Richard Drayton über den kolonialen Kontext der Entstehung der Sozialwissenschaften. Es waren, so Salmon weder Neugier noch kultureller Erkenntnisdrang, die das Interesse der Briten im 18. Jahrhundert an der bengalischen Kultur weckten. Vielmehr war die Wissenschaft von Beginn an imperial in dem Sinne, dass sie aus dem Versuch entstanden sind, andere Gesellschaften als Gesellschaften zu erfassen, um sie so beherrschen zu können. Es bestehe, so Salmon, eine enge Verbindung zwischen den politischen Praktiken des kolonialen Imperialismus und dem Aufkommen der vergleichenden wissenschaftlichen Disziplinen. Der kolonial-herrschaftliche Zugang zu einheimischem Wissen war die Voraussetzung für die Einführung von Forschungsprogrammen zur Objektivierung außereuropäischer Kulturen. Die damit verbundene politische Philosophie in praktischer Absicht ermöglichte zugleich die Humanwissenschaften.

Aber warum, so fragte Gildas Salmon in seinem Vortrag, war Britisch-Indien ein so wichtiges Laboratorium für den staatlichen Kolonialismus, obwohl es eine relativ späte Kolonie war? Es hatte vor allem wirtschaftliche Gründe, denn vor der industriellen Revolution war Bengalen ein Zentrum der Weltwirtschaft, was zu einer Neugewichtung zwischen Europa und Asien führte. Darüber hinaus war die East India Company aufgrund von Personalmangel auf die Menschen in Indien angewiesen, es gab daher einen „gemäßigten“ Kolonialismus, der eher auf die indirekte Beherrschung von Kolonisierten und ihrer Ressourcen statt auf Besiedlung und Landnahme gründete.

Tatsächlich, so die These von Gildas Salmon, ermöglichte die Aneignung des asiatischen Wissens, die Grenzen der europäischen Rationalität zu überschreiten und das Wissen Asiens für den Blick auf sich selbst anzuwenden, anstatt aus einer bereits vorhandenen vergleichenden wissenschaftlichen Perspektive ein europäisches Wissen über Asien zu schaffen. Hier widerspricht Salmon Edward Said, der die Idee ausgearbeitet hatte, der Orient sei eine bloße Erfindung des Westens.

Gildas Salmon zog in seinem Vortrag schließlich einen Bogen von der vergleichenden Sprachwissenschaft – die Verwandtschaft von Sanskrit, Griechisch und Latein aus einer gemeinsamen sprachlichen Quelle verdankt sich der theoretischen Leistung indischer Grammatiker – über die vergleichende Religionswissenschaft und die Ethnologie bis hin zur Ökonomie. Diese Wissensaneignung erlaubte den Briten im Laufe des 19. Jahrhunderts die Abkehr von der orientalistischen Politik der Ostindien-Kompanie. Es begann eine Modernisierung Indiens nach eigenen Gesetzen in der Steuerpolitik und der Gesetzgebung, ohne die epistemologische Vorannahme des Andersseins Indiens zu hinterfragen. Ein Beispiel, so Gildas Salmon, sei das Konzept der moralischen Ökonomie, die die Wirtschaft in Indien an eine soziale Solidarität bindet, während in Europa gleichzeitig Protest gegen die Logik des Marktes entsteht.

So zog Gildas Salmon den Schluss, dass das Modell von Edward Said auf einen falschen Weg geführt habe: Nicht der Westen habe den Osten geschaffen, sondern der Westen lernte in erster Linie etwas über sich selbst. Daher kritisierte Salmon die Idee scharf, es gäbe ein „orientalisches“ und ein „echtes“ Wissen. Die Kritik an den imperialistischen Sozialwissenschaften, so Salmon, müsse sogar radikalisiert werden, damit die ausbeuterische Natur des Kolonialismus auch im Bereich der Wissenschaft nicht verharmlost werde: „Der fruchtbarste Weg, den Ethnozentrismus zu bekämpfen, ist die Anerkennung der hybriden Bildung von Wissen.“

In ihrer Replik fragte Senior Fellow Rosalind Morris, welche Bedeutung diese Geschichte für andere Teile Asiens hatte. Ihre Kritik an dem frühen Komparativismus machte Morris an der These fest, dass er auf einen Fetischismus von Werten hinauslaufe, insbesondere im Zusammenhang von Henry Maines (1822-1888) Kritik am Privateigentum, denn dadurch sei die Verbindung zwischen den Sozialwissenschaften und der politischen kapitalistischen Wirtschaft erst entstanden. Es könnte sogar sein, dass diese Techniken des Vergleichens durch die Kolonisatoren selbst verbreitet wurden, die während ihrer Laufbahn in verschiedenen Kolonien stationiert waren, und daher der Ursprung der Sozialwissenschaften in der kapitalistischen Zirkulation und nicht in der spezifischen Generierung von Wissen in Kolonialindien liegt.

Richard Drayton sah in der Konstruktion der Sozialwissenschaften in Indien generell eine Frage der Begegnung zwischen Amerika, Afrika und dem pazifischen Raum. Dies generierte die Frage, was es heiße, Europäer zu sein. Es müsse einbezogen werden, welche Rolle diese Begegnungen für die Sozialwissenschaften hatten. Amerika, so Gildas Salmons Antwort, war der Ort des Triumphs der individualistischen Wissensformen, die sich schließlich als Reaktion in Indien umkehrte.