»Wir sind hier« – Forschung als Pilgerreise

LIAS Lecture – Roberto Strongman: Postsecular Pilgrimages, Imaginary Sources, Disappointed Returns

19.05.2025

Der Vortrag von Roberto Strongman am 14. Mai war Teil des Master-Seminars „Postsecular Critique“ unter der Leitung von Sebastián Eduardo Dávila. Die Veranstaltung wurde vom Leuphana Institute for Advanced Studies (LIAS) in Culture and Society organisiert und umfasste Workshops und Podiumsdiskussionen, die sich mit kritischen Schnittstellen zwischen Säkularem, Religiösem und Post-Säkularem befassten. Die geplante Performance Momento Moche, die sich mit präkolumbianischer Ritualästhetik und nichtlinearen Zeitlichkeiten befasste, musste aufgrund einer persönlichen Tragödie abgesagt werden. Die Organisatoren würdigten diesen Verlust mit einer Schweigeminute bei Kerzenschein und unterstrichen damit das Thema der Abwesenheit und Ehrfurcht, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Vorlesung zog.

©Julia Knop
©Julia Knop
©Julia Knop

Wichtige Begriffe wurden frühzeitig definiert: Der Begriff „postsäkular“ nicht nur als historische Diagnose, sondern als Versprechen; „Abrechnung“ als Möglichkeit, komplexe Verflechtungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der oft gewalttätigen Geschichte Lateinamerikas anzugehen. Dieser Rahmen bildete die Grundlage für die Einführung von Roberto Strongman, dessen Buch Queering Black Atlantic Religions (2019) einen interdisziplinären, transpossessiven Ansatz zu Spiritualität und Geschlecht präsentiert. 

Roberto Strongman begann seinen Vortrag mit einer Hinterfragung des Genres der Keynote selbst – als Rahmen für den Diskurs – und stellte sie als heilige Pilgerreise dar, die sowohl räumliche als auch zeitliche Reflexion umfasst. Er verwendete die Metapher der Pilgerreise, um die Themen und Teilnehmer*innen der Konferenz zusammenzuführen, und bezog sich dabei auf die Canterbury Tales als Vorbild: eine kollektive Reise, auf der jeder Redner seine eigene Erzählung zu einem gemeinsamen spirituellen Ziel beiträgt.

Der Vortrag war durchzogen von sowohl persönlichen als auch anthropologischen Reisen. Strongman berichtete von seiner Kindheit in Panama, seiner Vertreibung und seiner schließlich durch wissenschaftliche Arbeit ermöglichten Rückkehr. Pilgerreisen sind in seinem Rahmen sowohl wörtlich als auch symbolisch zu verstehen – als Reise der Rückkehr, der Erinnerung und der spirituellen Abrechnung. Er diskutierte den Black Christ (Nazareno) von Panama als diasporische religiöse Figur, die die nationale und religiöse Geschichte dezentralisiert. Händlerstände und alltägliche Andachtsorte werden zu modernen Altären – materiellen Manifestationen kreolisierter spiritueller Kontinuität.

Stille hatte eine bedeutende theoretische und emotionale Bedeutung in Strongmans Vortrag. Unter Berufung auf John Cages Komposition 4'33 beschrieb er Stille als Abwesenheit und Anwesenheit zugleich, als Medium, um Verlust zu verarbeiten und sich meditativ einzustimmen. Das Publikum wurde eingeladen, drei Atemzüge lang still zu verharren, um sowohl die Absage von Momento Moche als auch die tieferen Themen von Bruch und Kontinuität zu würdigen.

Strongmans theoretischer Rahmen stützte sich auf anthropologische Klassiker – Victor TurnersKonzept der Liminalität in The Ritual Process: Structure and Anti-Structure (1969), Mircea Eliades Dichotomie von Heiligem und Profanem („The Sacred and the Profane“, 1957), Arnold Van Genneps Rites of Passage (1909) und Joseph Campbells Monomythos in The Hero with a Thousand Faces (1949) . Diese Denker prägten gemeinsam das Verständnis von Pilgerfahrt als transformativen, Grenzen überschreitenden Prozess. Strongman fasste diese Modelle zu einem umfassenderen zeitlichen und historischen Überblick über die Entwicklung von Religion, Säkularität und Post-Säkularität zusammen.

Die historische Entwicklung von Religion und Säkularität verläuft laut Strongman komplex. In der Antike war Religion untrennbar mit dem Leben verbunden. Das Christentum verband spirituelle und politische Macht, während das mittelalterliche Christentum eine sakrale Ordnung mit marginalem Säkularismus aufrechterhielt. In der frühen Neuzeit entstand nach dem Westfälischen Frieden der säkulare Staat. Die Renaissance und die Reformation brachen die religiöse Autorität auf und verlagerten den Glauben ins Innere. Die Denker der Aufklärung privilegierten die Vernunft, was zu einer von der Wissenschaft dominierten Weltanschauung führte. Im 19. und 20. Jahrhundert vertiefte sich die Kluft zwischen Religion und Vernunft und gipfelte nach zwei Weltkriegen in eine Glaubenskrise. Seit den 1990er-Jahren erleben wir ein post-säkulares Zeitalter, das durch ein politisches und kulturelles Wiederaufleben der Religion gekennzeichnet ist.

Visuelles Material wie Bill Violas The Crossing (1996) veranschaulichte die Ästhetik des Post-Säkularen als Stille, Mysterium und elementare Symbolik. Diese visuellen Momente standen im Einklang mit den affektiven Dimensionen von Momento Moche und betonten die Kraft von Ritualen und dem Heiligen in der zeitgenössischen Kunst.

Der Vortrag schloss mit kritischen Überlegungen zu Methodik, Terminologie und der geopolitischen Relevanz des Post-Säkularen. Fragen aus dem Publikum stellten eurozentrische Narrative in Frage und hinterfragten die Anwendung säkularer Rahmenkonzepte auf lateinamerikanische und afrikanische Kontexte. Strongman räumte ein, dass Begriffe wie „Dritte Welt“ oder „Globaler Süden“ sprachlich mangelhaft, aber vorläufig nützlich sind. Er hob hervor, dass in vielen afrikanischen Gesellschaften das Spirituelle und das Politische untrennbar miteinander verbunden sind, was die Notwendigkeit beinhaltet, den Säkularismus außerhalb westlicher Paradigmen zu überdenken.

Anfragen und Kontakt

  • Dr. Christine Kramer