Analyse und Überwindung der Entfremdung
LIAS Workshop „Disalienation and Praxis – Experiments in Institutional Critique“
30.06.2025
11.06.2025. Der interdisziplinäre Workshop »Disalienation and Praxis – Experiments in Institutional Critique« widmete sich der Frage, wie Entfremdung in Kunst, Psychiatrie und Institutionen nicht nur analysiert, sondern praktisch überwunden werden kann. In vier Beiträgen wurden historische wie theoretische Ansätze zur „Disalienation“ – also zur aktiven Bearbeitung und Durchquerung von Entfremdungsstrukturen – diskutiert.
Im ersten Beitrag „Fantasies of Disalienation“ stellte LIAS Alumna Kerstin Stakemeier (Akademie der bildenden Künste, Nürnberg) heraus, dass der Begriff der disalienation in der marxistischen Ästhetik (etwa bei Peter Gorsen) weitgehend fehlt. Kunst erscheine hier als „Beute“ im Eigentumsverhältnis und daher grundsätzlich entfremdet. Unter Rückgriff auf Jacques Lacans frühe Theorie des Wahnsinns als strukturellen Bestandteil der Subjektivität sowie auf Jean Laplanches Interpretation von Sigmund Freuds Verführungstheorie wurde disalienation nicht als Rückkehr zu einer authentischen Natur verstanden, sondern als aktiver Umgang mit entfremdenden Fantasien. Geschlecht wurde dabei als zentraler Ort von Entfremdung erkannt – die Kritik an binären Geschlechtermodellen betonte, dass gerade die Binarität als solche eine Form der strukturellen Entfremdung darstellt.
LIAS Senior Fellow Nancy Luxon sprach über »Disalienation by Design« und analysierte Frantz Fanons psychiatrische Kliniken als Übergangsinstitutionen zwischen kolonialer Herrschaft und revolutionärer Utopie. Die Metapher des „leaky container“ – ein undichtes Gefäß – stand für eine offene, veränderbare Institution, die neue gesellschaftliche Ordnungen ermöglicht. Hier wurden materielle Aspekte der Psychiatrie – etwa Architektur, Ernährung und die Rolle von Pflegepersonal, insbesondere Frauen – als Teil eines erweiterten therapeutischen Raums verstanden. Disalienation bedeutete hier nicht die Reintegration in bestehende Verhältnisse, sondern die radikale Umnutzung institutioneller Infrastrukturen.
Im dritten Beitrag von Elena Vogman (Institut für Cultural Inquiry, Berlin) »Geopsychiatry and Institutional Praxis« wurde auf die Praxis an der psychiatrischen Klinik Saint-Alban (Tosquelles, Fanon, Guattari) Bezug genommen. Geopsychiatrie versteht Vogman als medien- und umweltbezogener Ansatz, in dem Filme, Zeichnungen und andere Ausdrucksformen eingesetzt wurden, um kollektive Wahrnehmungs- und Zeitstrukturen zu verändern. Die Klinik fungierte nicht als isolierte Einrichtung, sondern als sozialer Knotenpunkt – als Brücke zwischen innerer und gesellschaftlicher Realität. Therapeutisch wirksam wurde insbesondere das kollektive Erleben, das auf Transversalität, Übertragung und Mitwirkung der Patient*innen beruhte.
Romain Tiquet (Centre Marc Bloch Berlin) untersuchte in seinem Beitrag »Patient Agency in Decolonial Psychiatry« anhand einer Fallakte aus der Fann-Klinik in Dakar (geleitet von Henri Collomb) die ambivalente Rolle von Patient*innen in der postkolonialen Psychiatrie. Am Beispiel des Jugendlichen Mustafa zeigte sich, dass Patient*innen zugleich als Akteur*innen, als Symptome sozialer Widersprüche und als mögliche Objekte klinischer Zuschreibungen erscheinen. Weit entfernt von der angestrebten „Sprachbefreiung“, blieb die Artikulation der Patient*innen in der Klinik häufig durch kulturelle und institutionelle Rahmungen überdeterminiert.
Insgesamt zeigte der Workshop, dass disalienation weder als Rückkehr zu einem authentischen Selbst noch als rein theoretisches Konzept verstanden werden kann. Vielmehr wurde sie als praktischer, oft experimenteller Prozess sichtbar, der bestehende Macht- und Institutionsstrukturen unterwandert, verschiebt oder neu gestaltet. Ob in Kunst, Klinik oder Theorie – disalienation verlangt eine bewusste Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Subjekts und den Möglichkeitsräumen von Veränderung.
Anfragen und Kontakt
- Dr. Christine Kramer