Lesung mit LIAS Public Fellow Katja Petrowskaja
Schreiben über Fotografie als Weg zum Dialog
16.02.2024 „Ich habe angefangen, über Fotos zu schreiben aus reiner Ohnmacht“, erzählt Katja Petrowskaja im vollbesetzten Zuschauerraum des Museums Lüneburg, vor sich ein kleiner Tisch, eine Flasche Wasser, ihre Bücher. „Als Ukrainerin in Deutschland konnte ich nicht akzeptieren, dass der Krieg in der Ukraine 2014/15 eine ‚Krise‘ genannt wurde. Ich habe gar nicht verstanden, was da abläuft“, erinnert sich die Schriftstellerin, an der Wand die Projektion des Porträts eines Bergmanns aufgenommen von Yevgenia Belorusets 2015 im Donbass. „Es war dieses Bild, was diese Stelle von Ohnmacht artikuliert hat, es war der Anfang des Schreibens über Fotografie“. Der Text aus dem Juni 2015, den sie liest endet mit der Einsicht: Aus dem Foto „blickte mir meine eigene Blindheit, meine eigene Ohnmacht entgegen“.
Eingeladen vom Leuphana Institute for Advanced Studies (LIAS) in Culture and Society spürten die Gäste im Foyer des Museums, wie existenziell das Schreiben über gegenwärtige und historische Fotografien für die deutsch schreibende Schriftstellerin geworden ist, seit der Krieg in der Ukraine wütet. In ihrem Gespräch mit LIAS-Fellow Verena Adamik, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Potsdam, reflektierte Petrowskaja über die Wirkung von Fotografien, die sie zum Schreiben, Erzählen und Erinnern veranlassen. Die Begegnung mit Bildern sei nicht anders, als die Begegnung mit Menschen – „Vermenschlichung von Bildern“ nennt Petrowskaja ihre intuitive Methode. Die Fotografien entdeckt sie zufällig in Archiven, im Internet, auf Trödelmärkten und in Ausstellungen. So reflektierte sie über die Macht von Fotografien, angesichts von Erfahrungen der Verletzlichkeit und Ohnmacht, Prozesse des Denkens und des Dialogs in Gang zu setzen.
Ihre Einsichten sind für die Wissenschaftler*innen am LIAS besonders zentral, denn einige LIAS-Fellows sind sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich tätig und haben verschiedene Wege erkundet, um beides zu verbinden. Daher sind die innovativen Ansätze der Künstlerin zum Verständnis historischer und zeitgenössischer Zusammenhänge ein wesentlicher Impuls. Einerseits haben die Diskussionen zwischen den LIAS-Fellows und Katja Petrowskaja als inspirierend für die Erweiterung wissenschaftlicher Perspektiven am LIAS erwiesen.
Zugleich aber haben sie einen fruchtbaren Raum für den Austausch über neue Methoden der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ermöglicht. Nach der Lesung traten einige begeisterte Gäste ins Gespräch mit der Autorin. Kein Wunder, denn diese gibt sich nahbar und macht auch gar keinen Hehl aus ihrer Betroffenheit. Mehrmals unterbricht Petrowskaja sich selbst, ist „bewegt“ und „nervös“.
Sie zeigt aber auch eine andere Seite ihre Persönlichkeit: ihre entwaffnende Selbstironie. In einer Geschichte mit dem Titel „Kindheit verkehrt“ sinniert die Autorin über ihre Linkshändigkeit. Auf der vergessenen, plötzlich aufgetauchten Fotografie hält sie als Kind eindeutig den Buntstift in der linken Hand, während ihr Vater sich leicht über ihre Schulter beugt. Ein Schock: Sie ist eine umgeschulte Linkshänderin! „Es war eines der ersten Dinge, die mich in Deutschland verblüfften“, schreibt Petrowskaja in ihrem Buch. „Neben der erstaunlichen Menge von Apotheken und Frisörsalons gab es unbegreiflich viele Linkshänder, und zwar in meiner Generation, […] einer interessanter als der andere, schöner, attraktiver, irgendwie sexy …“ Könnte sie nicht selbst zu diesen „Auserwählten“ gehören? Erklärte die erzwungene Umschulung in der Kindheit nicht ihre psychischen Eigenheiten? Und hebt sie nicht heute, älter werdend, mit der linken Hand Dinge vom Boden auf, fängt Gegenstände, die ihr zugeworfen werden mit links – und sie hatte es nur verdrängt? Wie sie jedoch am Ende der Geschichte ihre Identität als Linkshänderin entzaubert und erneut die Wirkmächtigkeit des Zufalls in Szene setzt, so dass eine Spur dessen bleibt, was sie hätte sein können, das ist schon große Satire. Denn, schade: das Negativ war seitenverkehrt.
Petrowskaja, die mit 27 Jahren begann, Deutsch zu schreiben, teilte auch diese Erfahrung mit den Zuschauern im Museum: „Wenn man spät eine Sprache lernt, ist das eine Impfung gegen Automatismus. Beim Schreiben gibt es kein größeres Geschenk als dieses.“ Die Beschenkte bedankt sich, lächelt und weiß nicht, was sie noch sagen soll. Zurück bleibt der Eindruck, dass sie ihre Ohnmacht längst umgewandelt hat in großartige Literatur.