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Zwischen Realismus und Mystifizierung – Wie sieht ästhetische Nachhaltigkeit aus?

12.12.2024 Dieser Workshop, war auf die Erforschung verschiedener kritischer Strategien sowie eine dekolonisierende Vorstellungskraft aus multidisziplinärer Perspektive angelegt, um gemeinsam neue Methoden, Ansätze und Wege der Wissensproduktion und -dissemination in den Geistes-, Sozial- und Umweltwissenschaften zu erkunden.

Einige Leitfragen waren: Wie sind bestimmte Materialien mit kolonialer Ökologie und Politik verflochten? Welche neuen Denk- und Handlungsmöglichkeiten können an der Schnittstelle des eurozentrischen Paradigmas mit den aus dem sogenannten Globalen Süden hervorgegangenen Vermittlungen, Aussetzungen oder Unterbrechungen erschlossen werden? Welche Bedeutungen und Auswirkungen hat Materialität im Kontext aktueller (post-)apokalyptischer Diskurse und Praktiken in der zeitgenössischen Kulturproduktion? Welche Verbindungen können zwischen ästhetischen Materialien, Artefakten, menschlichen und nichtmenschlichen Körpern in der ästhetischen Produktion hergestellt werden?

©Julia Knop
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©LIAS
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Die Podiumsdiskussion zum Thema „Material in Transit“ am 21. November begann mit einem kurzen Vortrag von Jens Andermann. Der Wissenschaftler und Autor schreibt über moderne lateinamerikanische Kunst, Film, Literatur, Architektur und materielle Kultur sowie deren Überschneidungen mit dem Erbe von Kolonialismus und Extraktivismus. In seinem Vortrag „Mundus immundus: Weltfremdheit, Überleben und unspezifische Ästhetik“ untersuchte er die Rolle der „unspecific arts“ (Reinaldo Laddaga) als kosmopolitische und ästhetisch-politische Herausforderung in Zeiten von Klimakrise und Extraktivismus. Zur Erläuterung stellte er Projekte wie Junco von Ala Plástica vor, das durch verschiedene Workshops mit Gemeinschaften vor Ort und der Anpflanzung von Rohrkolben verschiedene Interessengruppen – auch nicht-menschliche – einbindet. In Gilberot Esparanzas Projekt Plantas nomadas, nutzt ein solargetriebener Roboter die Energie, um einen Fluss zu reinigen. Im Projekt „Simili“ werden Textilien, die an der Küste angespült werden, zu Modeaccessoires umgestaltet. Diese ortsspezifischen Initiativen verstehen sich als „alliances of survivance“ (Gerald Vizenor/Jacques Derrida), die den Fokus vom universellen Kunstobjekt hin zu performativen Akten des Widerstands verschieben. Sie eröffnen imaginative Möglichkeitsräume und zeigen, wie Kunstwelt und lokale Räume durch Assemblagen menschlicher und übermenschlicher Akteure produktiv verstrickt werden. 

Jordana Blejmar beleuchtet die antikolonialen Wurzeln moderner Materialien und die Rolle des Kindergartens und des Spiels mit Bauklötzen und abstrakten Formen in der ästhetischen Prägung der Avantgarde. Aufbauend auf Brostermans These zur Bedeutung dieser Materialien und Formen für Künstler wie Paul Klee oder Wasilij Kandinsky erweitert sie den Blick auf lateinamerikanische Künstler wie Joaquín Torres-García. Dieser autodidaktische Modernist entwickelte Spielzeuge, die dekoloniale Kritik an eurozentrischen Abstraktionsdiskursen übten, denn die Abstraktion wurde seiner Meinung nach nicht in Europa erfunden. Stattdessen verweist er auf den Dialog zwischen Globalem Norden und Süden, der europäische und südamerikanische Ansätze verschränkt. Blejmars These ist, dass diese Künstler die Diskussionen um Materialität und die Aufhebung der Trennung von Natur und Kultur aus einer dekolonialen Perspektive herausfordern und bereichern. 

Kassandra Nakas untersucht die ästhetischen Praktiken, die mit lebender Materie – Pilzen, Pflanzen, Bakterien – koloniale und sozio-ökologische Machtverhältnisse reflektieren. Dabei bezieht sie sich auf die etymologische Verbindung von colere (kultivieren) und colonia (Siedlung, Niederlassung) und bezieht sie auf die Kolonisierung von Ausstellungsräumen, wie Galerien und Museumsräumen. Diese Praktiken machen museale Räume für dekolonisierende und ökologische Diskurse nutzbar. Beispiele wie die Ausstellung Orangerie der Pflege verdeutlichen, wie Pflanzen koloniale Gewaltgeschichte erzählen, während Begriffe wie das Plantagenozän (Haraway, Tsing) die Verflechtungen von Boden, Körper und Arbeit thematisieren. Zwischen Realismus und Mystifizierung schaffen diese Praktiken neue Wissensräume. Sie ästhetisieren Nachhaltigkeit und schlagen Wege für eine kulturelle Neuausrichtung vor, die ökologische und historische Spuren sichtbar macht.

 

Gabriel Catrens Vortrag widmet sich der Rekonzeptualisierung der Abstraktion als zentraler Technik des Denkens und untersucht ihre Potenziale und Gefahren. Abstraktion, verstanden als das methodische „Vergessen von Unterschieden“, ermöglicht die Vereinfachung komplexer Lebenswelten und die Schaffung neuer Konzepte. Beispiele wie das Geld als „universelles Äquivalent“ (Marx) zeigen, wie Abstraktion heterogene Entitäten gleichsetzt. Allerdings birgt diese Praxis Risiken, darunter die Essentialisierung und Verdinglichung von Konzepten sowie das Vergessen der ausgeblendeten Unterschiede, was oft zu schädlichen Vereinfachungen führt. Am Beispiel des Identitätsprinzips zeigt Catren, wie die „prozessuale Materialität“ Identität ent-trivialisieren kann. Homotopische Identität, ein Konzept aus der Homotopietypentheorie, umfasst die Prozesse der Selbstidentifikation und berücksichtigt interne Differenzen oder „materielle Löcher“. Diese Sichtweise stellt traditionelle Identitätsbegriffe infrage, indem sie die dynamische Natur von Identität und ihre Abhängigkeit von materiellen und performativen Akten betont. 

Politisch setzt sich Catren kritisch mit Identitätspolitik und Universalismus auseinander. Während Identitätspolitik Gefahr läuft, Positionen zu essentialisieren, ignoriert der Universalismus oft individuelle Unterschiede. Catren schlägt einen dialektischen Ansatz vor: Identität wird als Sammlung materieller Akte definiert, die Differenzen integrieren, ohne in Essentialismus zu verfallen. Universalismus hingegen wird als konkrete, materielle Praxis verstanden, die Übersetzungen zwischen verschiedenen Identitäten ermöglicht. Schließlich plädiert Catren für eine politisch-kulturelle Praxis, die individuelle Forderungen (etwa nach Ethnie, Geschlecht, Klasse) in einen breiteren, dynamischen Kontext einbettet. So entsteht ein Modell der „starken Objektivität“ (Harding, Haraway), das materielle und prekäre Identitäten berücksichtigt und konstruktivistische Abstraktion als Werkzeug zur Förderung von Pluralität und Gerechtigkeit nutzt.

Anfragen und Kontakt

  • Dr. Christine Kramer