Forschungsbereich Sozialkritik

Für die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen war und ist Kritik ein zentraler Gegenstand und zugleich wichtiger Aspekt ihrer wissenschaftlichen Praxis. Anzuerkennen ist zunächst, dass die Praxis soziologischer Kritik immer schon unterschiedliche Formen und Modelle angenommen hat (Bröckling 2013). So lässt sich auch aus der dezidierten Zurückweisung einer „kritischen Soziologie“ beispielsweise seitens der pragmatischen Soziologie, der „Soziologie der Assoziationen“ wie auch aus systemtheoretischer Perspektive (Luhmann 1991, Latour 2007a, Boltanski 2010) die Dringlichkeit ableiten, das Verhältnis zwischen Soziologie und Kritik neu zu bestimmen (Lessenich 2014). Luhmann zufolge verkennt Gesellschaftskritik, dass das Zusammenspiel von Kritik und Krise der modernen Gesellschaft zugrunde liegt und Krisen somit nicht auf Konstellationen falschen Bewusstseins und fehlgeleiteter Politik zurückzuführen seien (Luhmann 1991). Latour zufolge ist Gesellschaftskritik „schon lange verstorben“ (Latour 2007a), weil sie die Welt auf Distanz hält und mit ihren Annahmen zur Beschaffenheit des Sozialen immer schon voraussetzt, was es zu ergründen gilt. Gemäß Boltanski und Chiapello (2003) hat die Transformation des Kapitalismus tradierte Formen sozialer und künstlerischer Kritik entwaffnet und sich einverleibt. Diese Diagnosen rufen eher die erneute und erneuerte Beschäftigung mit Konzepten und Phänomenen der Kritik auf den Plan, als dass sie das „Ende der Kritik“ in soziologischen Analysen herbeiführen.

Das Kolleg nimmt daher Kritik als Bezugspunkt empirisch-analytischer oder interpretativer Forschung an, der über die Breite der multi-paradigmatischen Disziplin hinweg einen legitimen Forschungsgegenstand darstellt. Den in der Forschungsidee des Graduiertenkollegs beschriebenen Verschiebungen in den Formen, Medien und Effekten von Kritik korrespondiert die neu aufgeflammte Diskussion um kritische Soziologie, Soziologie als Kritik und Kritik als soziale Praxis (Jaeggi/Wesche 2009, Wuggenig 2010, Bröckling 2013, Vobruba 2013, Lessenich 2014, ZfkSP: „Kritik heute“, Nr. 2,1/2015, Frère 2015). Durchaus in Abgrenzung zu älteren Hauptströmungen der soziologischen Thematisierung von Kritik (Delanty 2011), nämlich der kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“, der kritischen Soziologie Bourdieus, Foucaults „genealogischer Kritik“ sowie dem „Critical Realism“ (Sayer 2011), werden Themen und Zugänge aufgeworfen, die sich mit dem Forschungsprogramm des Kollegs fruchtbar verknüpfen lassen.

Um den Fokus des Themenbereichs zu konturieren, wird der – begriffsgeschichtlich wiederum heterogen verwendete – Terminus der Sozialkritik vorgeschlagen. Erstens verweist er auf Boltanski und Chiapellos folgenreiche Unterscheidung zwischen Künstlerkritik und Sozialkritik (Boltanski/Chiapello 2003), ohne sich die scharfe, historisch durchaus fragwürdige Trennung zwischen beiden Kritiktypen zu eigen zu machen bzw. die fließenden Übergänge zur Künstlerkritik zu verschließen. Zweitens erlaubt der Terminus, die von Latour geforderte Neuausrichtung der Sozialforschung (und der kritischen Analyse) hin zu Konstitutionsprozessen hybrider Kollektive menschlicher und nichtmenschlicher Akteure in sich aufzunehmen (Latour 2001 u. 2007b). Drittens vermeidet die „Sozialkritik“ den terminologischen Ballast der Begriffe „Gesellschaftskritik“ und „Kulturkritik“, die in Luhmanns Worten als Begriffe der Beobachtung erster Ordnung eingeführt wurden und einen kritisch-allwissenden Standpunkt reklamieren. Indes kann eine Soziologie als Beobachtung zweiter Ordnung sehr wohl Szenen kritischer sozialer Praxis erforschen. In diesem Sinne geht es um die Erkundung der Entstehung von Formen sozialer Kritik, ihrer Medien, Effekte und Darstellungsmodi – Phänomene, die Callinicos (2006) mit Blick auf die Gegenwart als „new styles of social critique“ bezeichnet.

Der Forschungsidee des Graduiertenkollegs folgend wird der Fokus auf jeweils situierte Szenen der Kritik und ihre Darstellungsabhängigkeit gerichtet. Die thematische Zweiteilung des Forschungsbereichs der Sozialkritik sucht dabei Synergien mit den Forschungsbereichen der Kunst- und Medienkritik: Der Aspekt „Ästhetiken sozialer Kritik“ schließt produktiv an die Perspektive der künstlerischen Praxis als Kritik an, während der Aspekt der „Infrastrukturen und Versammlungsformen der Kritik“ fruchtbare Bezüge zur Forschungsperspektive der Medien der Kritik aufweist.

Ästhetiken sozialer Kritik

Die Erschließung aktueller „Szenen des Dissenses“ (Bröckling 2013) setzt eine sowohl begriffliche als auch methodische Sensibilität für die Herstellung dieser Szenen und damit die Formen, Medien und Effekte ihrer Darstellung voraus. Das heißt, ästhetische Zugänge und Theoreme werden Teil einer Soziologie neuer Kritikformen. Die Tatsache, dass der sozialtheoretische Diskurs nicht mehr an der Notwendigkeit einer ästhetischen Erweiterung des eigenen Repertoires vorbei kommt, wird aktuell einerseits hinsichtlich methodologischer Implikationen diskutiert (Adkins/Lury 2009, Beyes/Steyaert 2013 u. 2015). Andererseits fällt der Blick auf eine gewissermaßen ästhetisierte Gesellschaftstheorie und Kultursoziologie. So wird gesellschaftliche Entwicklung als Intensivierung und Mobilisierung von Prozessen der Ästhetisierung gedacht, die gesellschaftliche Felder oder Systeme durchqueren und zu einem Imperativ der Kreativität führen (Reckwitz 2012); und es wird ein Denken des Gesellschaftlichen als eine Art Bewegungslehre antagonistischer sozialer Kräfte entwickelt, das eine „Affektenlehre des Politischen“ erforderlich mache (Marchart 2013). Ähnlich wird auch schon in älteren Studien argumentiert, die den Begriff der Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten neu verorten (Kluge/Negt 1972). So werden kritische Öffentlichkeiten beispielsweise als performativ begriffen, indem sie einen temporären sozialen Raum bzw. eine soziale „Bühne“ schaffen (Warner 2002) und sich damit in besonderem Maße als „darstellungsabhängig“ präsentieren. Sie zeichnen sich zudem durch eine tendenzielle Unplanbarkeit und Nicht-Vorhersehbarkeit aus und benötigen fortlaufend ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit bzw. bedürfen ihrer fortlaufenden Aktualisierung (Marchart 2007).

Damit ergeben sich zwei miteinander verknüpfte Forschungsperspektiven: 1.) die Frage der ästhetischen Konstitutionsbedingungen und Implikationen sozialer Kritik, wie sie in den Kernbegriffen des Graduiertenkollegs – Szene, Darstellung, Formen, Medien, Effekte – bereits angelegt ist; 2.) die Beschäftigung mit konkreten Fällen von Szenen des Dissenses, ihren Organisationsweisen und Darstellungsformen, und der Analyse der darin verwirklichten Spielarten der Kritik und ihrer Effekte.

Infrastrukturen und Versammlungsformen der Kritik

Neue mediale Infrastrukturen von Kritik – wie Onlinepublikationen, Blogs, Foren oder soziale Netzwerke – erweitern zum einen den Spielraum kritischer Öffentlichkeiten und stellen zum anderen etablierte Formen autorisierter Kritik in Frage (Münker 2009, Lovink 2008, Schabacher 2013). Dabei wird nicht nur die Instanz kritischer Autorschaft in Frage gestellt, was zu Verwerfungen in unterschiedlichen Berufsfeldern wie etwa der Literatur-, Film- oder Kunstkritik in Print, Fernsehen und Rundfunk sorgt (Büttner 2007, Urban 2007, Rippl/Winko 2013, Neuhaus 2015). Vielmehr ist auch zu fragen, ob und wie das transzendentale Subjekt hinter die digitalen technologischen Bedingungen zurücktritt (Stiegler 2009, Hörl 2011, s. Forschungsbereich Medienkritik). Die Versammlungsformen sozialer Kritik lassen sich darüber hinaus nicht denken ohne die sogenannte „Rematerialisierung“ der Sozialforschung, die dem Handlungspotential von Objekten, Aktanten und Materialität sowie Fragen des Infrastrukturellen in den letzten Jahren eine große Aufmerksamkeit beschert hat (Latour 2008, Miller 2010, Easterling 2014). Im Latour’schen Sinn soll hier über die klassischen Repertoires moderner Kritik – eine dominierende Natur, hinter die Gesellschaft, Diskurse und Subjekte zurücktreten, die Reduktion des Sozialen auf Sozialisierung und Machtfelder sowie die Dekonstruktion und ihr Fokus auf diskursive Wahrheitseffekte (Latour 1998) – hinausgegangen werden, um Szenen der Sozialkritik und kritischer sozialer Praxis als jeweilige Gemengelagen und Versammlungen aus Objekten, Technologien und menschlichen Akteuren in den Blick zu nehmen. Indem menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren gleichermaßen ein Handlungspotenzial (agency) und eine aktive Rolle im Aufbau von Wissens- und Sozialordnungen zugeschrieben wird, wird das zu kritisierende „Soziale“ selbst zur Disposition gestellt und eine radikale Neukonzeption von Handlungsmacht und diskursiven Wahrheitseffekten vorgeschlagen.

Daraus ergeben sich eine Reihe relevanter, übergeordneter Forschungsfragen, die sowohl mit aktuellem als auch mit historischem Bezug entfaltet werden können: Welche Konsequenzen hat eine verteilte Handlungsmacht für Modelle von Gemeinschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik? Welche Formen kritischen Sprechens und Handelns sind in einer derart um nichtmenschliche Akteure erweiterten Demokratie überhaupt möglich? Welches Verständnis von Partizipation resultiert daraus, und wie lassen sich dieserart „verteilte“ Partizipationsprozesse beschreiben? Wie fassen wir somit eine Sozialkritik, die sich immer schon als materiell ko-konstituiert begreifen muss?

Zitierte Literatur

  • Adkins, Lisa/Lury, Celia (2009): Introduction: What is the Empirical?, in: European Journal of Social Theory, 12/1, S 5-20.
  • Beyes, Timon/Steyaert, Chris (2013): Strangely familiar. The uncanny and unsiting organizational analysis, in: Organization Studies, 34/10, S. 1445-1465.
  • Beyes, Timon/Steyaert, Chris (2015): Der Sinn der Lehre. Ethnographie, Affekt, sensemaking, in: Maeder, Christoph/Brosziewski, Achim/Nentwich, Julia (Hg.): Vom Sinn der Soziologie, Konstanz: UVK, S. 197-211.
  • Boltanski, Luc (2010): Soziologie und Sozialkritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK Verlag.
  • Bröckling, Ulrich (2013): Der Kopf der Leidenschaft. Soziologie und Kritik, in: Leviathan, 41/2, 2013, S. 309-323.
  • Büttner, Julia (2007): Die Demokratisierung der Literaturkritik im Internet. Voraussetzung, Formen und Folgen der Laienkritik, München: GRIN.
  • Callinicos, Alex (2006): The Resources of Critique, Cambridge: Polity Press.
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  • Kluge, Alexander/Negt, Oskar (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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  • Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien im Web 2.0, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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  • Stiegler, Bernard (2009): Von der Biopolitik zur Psychomacht, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Urban, Evelin Alexandra (2007): Literaturkritik für das Internet, Marburg an der Lahn: Verlag LiteraturWissenschaft.de.
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  • Warner, Michael (2002): Publics and Counterpublics, New York: Zone Books.
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  • ZfkSP (2015): Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie; Schwerpunkt: Kritik heute, 2/1.