• Kelly Bescherer

‚Identitätsklärung‘ als umstrittene Kontrollpraxis im deutsch-europäischen Abschieberegime

Das (Nicht-)Vorhandensein von personenbezogenen Dokumenten und Informationen ist bei Konflikten rund um erzwungene Mobilität oft von zentraler Bedeutung. Das vorgeschlagene Dissertationsprojekt verhandelt die Rolle der ‚Identitätsklärung‘ im Kontext des deutschen Abschieberegimes und beschäftigt sich mit Fragen von Gouvernementalität und Widerstand.

Auf der Grundlage einer multi-sited ethnography und eines genealogischen Ansatzes werde ich die zunehmende Bedeutung des Begriffs im deutschen Aufenthaltsgesetz nachzeichnen und verschiedene Technologien der Kontrolle untersuchen, durch die Druck ausgeübt wird, die eigene Identität zu ‚klären‘. Dabei stütze ich mich auf ein Verständnis von Kontrolle, das diese nicht nur im Staat, sondern auch in den Infrastrukturen der Abschiebung und in den alltäglichen Praktiken von Verwaltungsmitarbeiter*innen verortet. Darüber hinaus werde ich humanitäre Diskurse daraufhin untersuchen, wie in ihnen Identität verhandelt und erzeugt wird. Zu den ersten Untersuchungsgegenständen gehören die alltägliche Verwaltungspraxis der deutschen Ausländerbehörde, sich ändernde Normen innerhalb des Aufenthaltsgesetzes, europäische Fördermittel für Personenstandsdatenbanken in Westafrika und Urkundenüberprüfungsverfahren der deutschen Botschaften. Während die Bedeutung von Kontrollpraktiken für unser Verständnis von Gouvernementalität ein Gegenstand der Betrachtung sind, stehen auch die Risse und die Unvollständigkeit von Kontrollfassaden und der Raum, der für Fluchtlinien bleiben könnte, im Vordergrund. Außerdem möchte ich der Frage nachgehen, wie Forschung als eine Praxis der Wissensproduktion mit praktischer Relevanz für soziale Bewegungen konzipiert werden könnte.

  • Jan-Hauke Branding

Mein Projekt untersucht die kritische Theoriebildung der radikalen Schwulenbewegung der 1970er Jahre in (West-)Deutschland als eine spezifische Konstellation der Kritik. Neben den konkreten theoretischen Inhalten stehen dabei auch die Theoriebildungsprozesse im Fokus der Arbeit. In den Versuchen der Bewegung, den Zusammenhang von Sexualität und Herrschaft zu analysieren und zu kritisieren, zeigt sich ein wesentliches Kennzeichen ihrer Praxis: das reziproke Verhältnis von Erfahrung und Kritik. Der hegemonialen Wissensproduktion wurde eine subjektive, von eigenen Erfahrungen ausgehende Auseinandersetzung entgegengestellt, die sich als Politik der ersten Person beschreiben lässt. Als historisch verortete, kritische Praxis zielten die Interventionen und Debatten der Bewegung auf eine Verhältnisbestimmung von Gesellschaft, Geschlecht, Sexualität und Emanzipation – sie sind daher ebenso ein Beitrag zur Theoretisierung von Sexualität, wie sie ein Modus von Kritik sind.

Neben der historischen Bedeutung kommt dieser Praxis eine bemerkenswerte Originalität und überraschende Aktualität zu, die in ihren uneingelösten Momenten auf ein transformierendes Potenzial in der Gegenwart verweist, das auch heutige (queere) Theorie und Praxis informieren kann.

Die Arbeit greift unter anderem auf die Geschichtsverständnisse Walter Benjamins, Hannah Arendts sowie gegenwärtiger feministischer Anschlüsse daran zurück, um ein Verständnis von nicht-linearer und multidirektionaler Geschichte zu entwickeln, das die Möglichkeit eröffnet, die theoretischen Entwürfe der Schwulenbewegung zugleich als Zeitdokumente und als gegenwärtig wirksame Kraft zu bestimmen.

  • David Cabrera Rueda

My dissertation project explores the physical dimension of the Colombian Memory Museum (urban, architectural and museographic scale).The museum is a symbolic reparation instrument framed within a transitional justice model created while the peace agreement between the national government and the FARC-EP guerrilla was in progress. The project analyses the timing and the reasons behind constructing the museum in Bogotá. It asks whether these decisions are the trigger that defines both the material presence of the museum in the city and its exhibition content.

In April 2015, the National government and the Society of Colombian Architects launched a competition to design the building for Colombia's Museum of Memory in Bogotá, located within the Peace and Memory Axis on Jorge Eliecer Gaitán Avenue. This urban initiative aims to transform the avenue dynamics, turning it into an axis of Collective Memory. Therefore, the Museum cannot be understood as an isolated project but as a link that, together with other cultural institutions, narrates the official memory of Colombia.

In April 2018, in the last months of Santos’ government (2010-2018), the museological script and curatorial content of the Museum were tested before its construction. The exhibition Voces para transformar a Colombia (Voices to Transform Colombia) is regarded as an itinerant laboratory, fostering the creation of networks connecting communities and memory sites in various territories with the Museum in Bogotá.

In August 2018, Iván Duque (2018-2022) assumed the presidency of Colombia. Duque achieved this position through a campaign opposing the previous government's peace policy. In February 2019, Duque placed in charge of the Museum a historian who challenges the existence of an armed conflict in Colombia and censored the Voces exhibition at Museo la Tertulia in Cali, held in October 2019. As a result, the Colombian transitional justice mechanism had to protect and prohibit any modification to the exhibition.

Following the historian Renán Silva, my projects understands the moment Colombia is going through as a “dispute over the interpretations of the past”. To map this dispute I study the unfinished Museum of Memory that not only represents these interpretations but is also being constructed in a different and conjunctural context.

  • Raphael Daibert

Wie werden wir zu Himmelshebenden? Der indigenen Kosmologie der Yanomami zufolge endeten zwei Welten vor dieser Welt mit dem Einsturz des Himmels. Ich behaupte, dass diese Welt, die am Rande der ökologischen Verwüstung steht, von Praktiken und Praktizierenden lernen muss, die seit langer Zeit in einer Weise mit der Natur umgehen, die „The Understanding“ (Ferreira da Silva 2016) immer wieder zu zerstören versucht.

Im Dialog mit dekolonialen Theoretiker*innen aus dem Globalen Süden und den „doings“ (Muñoz 2009) von Künstler*innen aus Brasilien liegt mein Interesse darin, Praktiken aufzuzeigen, die jenseits der Dichotomie von Mensch und Natur agieren und insgesamt eine „Ökologie der Praktiken“ (Stengers 2005) bilden. Meine Untersuchung geht von der erwähnten indigenen Kosmologie aus und sucht nach Beispielen, die als Himmelsheber fungieren: künstlerische Praktiken einerseits, die andere Arten des Seins in und mit der Natur ermöglichen, meine eigene Praxis als forschender Künstler und Kurator andererseits.

Ein prägnantes Beispiel für einen Künstler und Aktivisten, der mein Argument unterstreicht, ist Abdias Nascimento (1914-2011). Seine politischen, performativen und künstlerischen Praktiken aus den 1940er bis 2000er Jahren haben nicht nur den Boden für das Aufblühen nicht-normativer (?), nicht-weißer Künstler*innen in der brasilianischen Kulturszene bereitet, sondern waren und bleiben wesentlich für einen Emanzipationsprozess durch das Erschaffen anderer Realitäten.

  • Volha Davydzik

Wiederaufbau von Solidarität und Care-Netzwerken durch Kunst: Politische künstlerische Praktiken in Rebellischen Gesellschaften.

Gegenstand der Forschung: Politische künstlerische Praktiken und ihre Rolle bei der Gestaltung von Solidarität und Care-Netzwerken in nicht-demokratischen Gesellschaften.

Forschungsfrage: Das vorliegende Forschungsvorhaben möchte zwei Blöcke miteinander zusammenhängender Fragen umreißen und untersuchen. Während der anhaltenden sozialen und politischen Krisen wurde deutlich, dass Formen der Verwundbarkeit und Co-Abhängigkeit einerseits und Unterdrückung und Kontrolle andererseits die tiefgehendsten Schichten unserer Existenz erreichen und sich auf die Ebene des persönlichen Umfelds auswirken, wodurch Prekarität zu einem diffusen Merkmal wird: Individuen erleben ihre Verwundbarkeit verschiedenen, je nach Status und sozialer Situation. Es stellt sich die Frage, ob es eine Grenze der Prekarität gibt, ob es etwas gibt, das über die Arbeit von Ein- und Ausschlussmechanismen hinausgeht. Was ist die Basis für eine solche Existensweise, und wie können neue Formen der Solidarität und Verbundenheit geschaffen werden? In welcher Form ist eine positive Verwundbarkeit als Grundlage der Solidarität möglich, und wie sollten Care-Infrasturkturen aufgebaut sein?

Wir können beobachten, wie zeitgenössische und politische Kunst zu einem Instrument sozialer Transformationen wird, wie sie dem Wachstum von Communities dient und die Idee von Solidarität auf der Grundlage von Care als strukturelle Praxis, als Lebensgestaltung fördert. Die künstlerische Geste wurde zu einer politischen Handlung (Aktion), einem Ausdruck von Hoffnung auf Veränderungen, zu einem Instrument politischer Fantasie. Wie konnte eine künstlerische Praxis einen so starken Einfluss auf die Gesellschaft haben? Wie kam es zu diesem Schnittpunkt zwischen künstlerischer Praxis und politischer Handlung? Wie wirkt sich dies auf unsere Wahrnehmung des Politischen, der Kunst und des Handelns in der heutigen Zeit aus?

Selbst innerhalb unterdrückter Gesellschaften können Care-Infrastrukturen und Solidaritätsnetzwerke geschaffen werden. In einer Situation extremer Gewalt können Teilnehmende das Potenzial friedlicher, sanfter Protesttaktiken nutzen und weiterhin Hilfe und Unterstützung leisten, wobei sie gleichzeitig die jeweiligen Stärken und Schwächen voneinander anerkennen. In der politischen Kunst bilden sich Instrumente und visuelle Ausdrucksmittel heraus, die zur Aufspaltung monolithischer Narrative beitragen. Politische Kunst bietet die Möglichkeit, die innere Verankerung und Unantastbarkeit von Hierarchien zu überwinden, und berücksichtigt viele verschiedene Standpunkte, Wahrnehmungen, Interpretationen, Visionen und Affekte. Indem sie mit der Realität des Affekts arbeitet, ermöglicht es moderne politische Kunst den Individuen und Gruppen, sich im Handlungsmoment zu engagieren, eine unabhängige Agenda zu erstellen und horizontale Vernetzungen außerhalb hierarchischer Strukturen zu bilden.

  • Felix Esch

Ziel meiner Arbeit ist es, die Krise als notwendige Konsequenz aus der dialektischen Wertform der Moderne abzuleiten, die sich in der tautologischen Selbstproduktion von (i) Arbeit und (ii) Geld äußert.

Die Möglichkeit der Verwertung des Wertes - d.h. der Realisierung des abstrakten Wertes aus der konkreten Arbeit – kommt nach Überschreiten einer kritischen Schwelle zum Stillstand. Mein Ziel ist es zu untersuchen, ob die Verknüpfung des Konzepts der sich selbst aufhebenden Wertform mit einem Begriff der modernen „Aufklärung“ als „Verwurzelung des Geistes in der Materie“ (Panajotis Kondylis) und der treibenden Rolle des Schuldbegriffs helfen kann, die zwangsläufig fortschreitende Abstraktion von der konstitutiven, aber immer irrelevanter werdenden konkreten Arbeit als Folge des Rationalisierungsprozesses zu verstehen. Um die Dynamik der Wertform und ihre ‚fortschreitende‘ widersprüchliche Verwurzelung des Abstrakten (~ Wert) im Konkreten (~ Arbeit) zu erklären, werden beide in Reinhart Kosellecks Hypothese der beschleunigten Geschichte eingeklammert.

Erstens werde ich daher den historischen Verlauf der Rationalisierung aus Kosellecks Darstellung der Beschleunigung ableiten, die selbst epistemologisch auf der Form der rationalen Logik beruht und daher begrifflich von dem abhängig ist, was sie in sich birgt. Zweitens möchte ich zeigen, wie dieser Rahmen der europäischen Rationalisierung die schuldgetriebene Dynamik der „Verwurzelung des Geistes in der Materie“ als begriffliche Tradition dessen mit sich bringt, was mit dem Kapitalismus zur modernen Wertform wurde. Diesem Verlauf folgend, möchte ich schließlich zwei Krisenphänomene als notwendige Konsequenzen der Dialektik der Wertform herausarbeiten: Die Aporien (i) der ‚Autopoiesis der Arbeit‘ und (ii) der Selbstproduktion des Geldes. Ich möchte daher die zunehmenden Entwicklungen der körperlichen Fitness und der Finanzialisierung seit den 1970er Jahren in den kapitalistischen Zentren als die zwei Seiten der Medaille der wachsenden Irrationalität des stummen Zwangs der Abstraktion aufzeigen: Die Entäußerung (konkreter) Arbeit findet zuletzt Ausdruck in der Anwendung der Arbeitskraft an sich selbst als (relativ) letzte noch zu produzierende ‚Ware‘ und hat die gespenstische Erzeugung von wertlosem Geld als ihre Kehrseite.

  • Jörg Hügel

Ziel meines Projektes ist es, zu untersuchen, wie sich das Narrativ des ‚Urkommunismus‘ an der Grenze zwischen Politik und Ethnographie im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelt. Im Fokus stehen dabei unter anderen die Schriften von Lewis Henry Morgan, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg sowie Pjotr Kropotkin, die maßgeblich zur Verfestigung und Entwicklung des Narratives beigetragen haben. Dabei bauen diese Texte auf wesentlich älteren Topoi auf, wie beispielweise der Idee eines friedlichen ‚Naturzustandes‘ oder eines ‚Goldenen Zeitalters‘, die als Beispiele eingeführt werden, um die Gesellschaft der Autor*innen kritisch zu kontrastieren. Da die Erweiterung des Narratives nicht linear verläuft, sollen ganz unterschiedliche Textgattungen, aus den Bereichen politischer Ökonomie, Wirtschaftsgeschichte, politischer Theorie, Moralphilosophie, Ethnologie sowie Belletristik miteinbezogen werden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen mit Darwins Evolutionstheorie und der Ausdifferenzierung der Ethnologie als Disziplin auf der einen Seite sowie Marx’ Historischem Materialismus und kommunistischen Bewegungen auf der anderen Seite entscheidende historische Voraussetzungen, um dieses Narrativ zu modifizieren. Die abstrakte Idee eines ‚Naturzustandes‘ wird nun zugleich in der fernen, prähistorischen Vergangenheit sowie im ethnologischen Präsens verortet. Spezifische Formen des Zusammenlebens werden dezidiert als ‚kommunistisch‘ benannt und damit in einen konkreten politischen und moralphilosophischen Interpretationszusammenhang eingebettet. Zentrales Motiv ist hierbei der Evolutionismus sowie eine evolutionistische Ethnographie, die eine diachrone Suche nach den biologischen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in der „Tier und Menschenwelt“ (Kropotkin) zulässt und damit eine Grundlage der modernen Soziobiologie darstellt.

Die Arbeit leistet einen Beitrag zur Dekolonisierung von Wissensbeständen sowie zur Untersuchung der Entwicklung eines Wissens über die Ur- und Frühgeschichte und verfolgt dabei die These, dass Geschichte immer auch durch politische Ästhetiken strukturiert ist.

  • Dyoniz Kindata

Die Zeitung war ein Aushandlungsort von sozial geteiltem Wissen in der heraufkommenden kulturell heterogenen Kolonialgesellschaft von 1885 bis 1918 in Deutsch-Ostafrika (Tanganjika, das heutige Tansania, Burundi und Ruanda). In diesem Prozess sind Zeitungen zentrale Berührungszonen und aufkommende Archive, in denen die Migration von Wissen aus dem europäischen in den afrikanischen Kontext und umgekehrt, Wissensverschränkung sowie die allmähliche Entstehung von Wissensthemen konkret nachvollzogen werden kann. Die Ausgangsthese ist, dass die kolonialen Zeitungen als erste afrikanische Massenmedien die entscheidenden Verhandlungsorte für das in der kolonialen Gesellschaft geteilte Wissen, seine Weitergabe und seine Rezeption sind. Durch die Kombination von multimodalen Zeitungsanalysen wie close reading, Narratologie und Imagologie untersucht das Projekt einerseits die Manifestation des thematischen Konzepts der Staatsbürgerschaft und seiner Formen im Hinblick auf kritische Machtkonstellationen, wie sie in textuellen Codes dargestellt werden, z. B. in ästhetischen Codes wie Poesie und anderen Genres in den ausgewählten Zeitungen. Dafür werden grundsätzlich Fragen gestellt, wie zum Beispiel: Mit welcher Art von Genres haben die Menschen experimentiert, um zur Vorstellung von Staatsbürgerschaft als sozial geteiltem Wissen beizutragen? Wie wurde das Konzept verhandelt, wenn man bedenkt, dass die Staatsbürgerschaft Gegenstand eines Dialogs von oben und unten war und sowohl von afrikanischen als auch von kolonialen Mächten geprägt wurde? Wer schrieb es ("Diskursgemeinschaften" Knoblauch 2003), wer war das Publikum (die Leserschaft), und wie wurde es rezipiert? Andererseits hat das Projekt zum Ziel, die Rolle visueller Darstellungen wie Bilder und Illustrationen im kolonialen Geflecht von Erzählungen, Realitäten und Konzepten der Staatsbürgerschaft kritisch zu untersuchen. Darüber hinaus ermutigt uns diese Studie kolonialer Zeitungen, einige unserer Annahmen über Text, Druck und Schrift im kolonialen Afrika kritisch zu überdenken.

Referenzen
Knoblauch, Hubert, 2003. "Diskurs, Kommunikation und Wissenssoziologie". In: Reiner Keller et al. (Hg), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Opladen: Leske/Budrich, 209-226.

  • Stasya Korotkova

Das Projekt untersucht zahlreiche Beispiele von Cross-Dressing und Zeichen nicht-heterosexuellen Begehrens von Figuren in Filmen, die im Russischen Kaiserreich zwischen 1909 und 1917 produziert wurden, sowie in Filmen, die private Produzent*innen unmittelbar nach der Revolution jedoch vor der Entstehung der sowjetischen Filmindustrie realisierten. Circa 85% der Filme des Russischen Kaiserreiches gelten als verloren, es ist aber noch möglich, einige Handlungen anhand von Pressekritiken, Datenblättern, PR-Materialien, Memoiren und Protokollen der Zensurausschüsse zu rekonstruieren. Ich verwende alle verfügbaren frühen Quellen, um zu untersuchen, wie Zuschauer*innen der 1910er Jahre diese Darstellungen, die wir heute als queere Subtexte definieren könnten, wahrgenommen haben. Es ist wichtig zu verstehen, was diese Bilder dem Publikum damals vermittelten, denn das Kino spiegelte nicht nur die Normen von und Erwartungen an Gender-Ausdrucksformen seiner Zeit wider, sondern prägte diese auch aktiv. Ich verfolge einen kulturhistorischen Ansatz und betrachte diese filmischen Darbietungen in einem breiteren Kontext sozialer Debatten um Gender und Sexualität im Russland des frühen 20. Jahrhunderts, wobei ich konkret einige öffentliche Diskussionen über Cross-Dressing in russischen Theaterkreisen nachzeichne. In diesem Projekt werden drei Hauptgruppen von Darstellungen identifiziert, die vorläufig wie folgt eingeteilt werden können: 1) Cross-Gender-Besetzung, 2) Cross-Dressing als Teil der Handlung und 3) Darstellung von sexuellem und gender-spezifischem Dissens. Das letzte Kapitel analysiert Verfilmungen von literarischen Werken mit nicht-heterosexuellen Charakteren, die im Zuge der Verfilmung möglicherweise gestrichen oder umgedeutet wurden.

  • Melcher Ruhkopf

Das Promotionsprojekt fragt nach dem museumsanalytischen Potential eines kritisch erweiterten Logistikbegriffes, der sich aus Debatten zwischen kritischer Geographie, marxistisch geprägter politischer Ökonomie, Postcolonial Studies, Medienwissenschaften und Kulturtheorie speist. Logistik wird dabei als eine operative Logik verstanden, die auf unterschiedlichsten räumlichen Maßstabsebenen Ströme von Waren und Kapital, aber auch von Körpern und Subjekten gemäß einem Paradigma der Zirkulation und Konnektivität organisiert und dabei oft äußerst macht- und gewaltvoll vorgeht.

Entlang ethnografischer Explorationen in verschiedenen Museen arbeitet das Projekt einerseits heraus, inwieweit die museale Thematisierung globaler Warenzirkulation mit einem solchen Verständnis von Logistik korrespondiert bzw. ausgehend von diesem kritisiert werden kann. Andererseits fragt es nach der logistischen Dimension musealer Praktiken des Ausstellens, Sammelns und Gestaltens selbst, folgen diese doch ebenfalls bestimmten Logiken der Zirkulation – von Körpern und Dingen im Raum, aber auch von Aussagen, Affekten und Erfahrungen. Das so umrissene Spannungsfeld zwischen „Musealisierung von Logistik“ einerseits und „Logistik des Musealen“ andererseits versucht das Promotionsprojekt produktiv zu machen.

Den methodologischen Kern bildet dabei die ethnografisch informierte Theoriearbeit an einem museologisch gewendeten Logistikbegriff bzw. einer Methode der logistischen Museumsanalyse. Dabei wird das durch qualitative Methoden der Feldforschung und Ausstellungsanalyse erhobene empirische Material mit theoretischen Konzepten aus dem Bereich der kritischen Logistikforschung sowie den Museumswissenschaften in Resonanz gebracht.

Durch die Verknüpfung dieser beiden Diskurse leistet das Projekt einen Beitrag zur kritischen Analyse von Phänomenen des globalisierten Kapitalismus unter einem logistischen Paradigma. Es erweitert den Fokus der logistikkritischen Literatur über deren ökonomischen Ursprungszusammenhang hinaus und erprobt ihre Anwendung auf ästhetische und diskursive Phänomene des Musealen. Gleichzeitig wird hierdurch eine museumswissenschaftliche Perspektive gestärkt, die den Fokus dezidiert von der Untersuchung einzelner Ausstellungszusammenhänge oder Displays in Richtung ihrer relationalen Operationsweisen und Funktionslogiken verschiebt.

  • Laura Felicitas Sabel

Im Mittelpunkt des Dissertationsprojektes steht die Wi(e)derherstellung des (im)materiellen Kulturerbes der Nachfahren der Tairona – Kággaba/Kogi, Ika/Arhuaco, Wiwa/Malayo, Kankuamo/Atanque – der Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien.

Das Forschungsvorhaben zielt darauf ab, eine Kritik an der modernen/kolonialen Denkweise und ihren Praktiken zu formulieren und hierbei das Verständnis von Identität, Kultur, Eigentum und Erbe durch den Einbezug und die Legitimation alternativer epistemologischer Systeme – wie das der Nachfahren der Tairona – zu befragen. Auf Grundlage des Austausches mit den Kággaba, ausgewählten Museen und anderen Expert_innen in- und außerhalb Kolumbiens werden unterschiedliche Wissenskontexte und Methoden multiperspektivisch verknüpft.

Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass im Kontext von Museen und Ausstellungen konservatorische Praktiken wirksam sind, die auf die Epistemologie der Moderne zurückzuführen sind. Im Gegensatz dazu stehen die Denk- und Handlungsweisen der Nachfahren der Tairona, wobei davon ausgegangen wird, dass sich ihr Verständnis grundlegend von dem modernen musealen ‚Objektbegriff‘ unterscheidet. Auf dieser Grundlage wird im Rahmen des Vorhabens ein ‚lebendiges Objektverständnis‘ erörtert, von dem die Praktiken des Transitorischen als Gegenentwurf zu den Praktiken des Konservatorischen abgeleitet werden.

Basis des Vorhabens ist die Erstellung eines Inventars des (im)materiellen Kulturerbes und damit eine Bestandsaufnahme von dessen Verbleib in musealen Sammlungen weltweit. Auf dieser Grundlage werden die Provenienzen und Bedeutungen der ‚Objekte‘ sowie die Formen und Folgen ihrer Translokation erörtert. Damit sollen die Voraussetzungen für eine zukünftige Rückbindung und mögliche Rückgabe des Kulturerbes an die Nachfahren der Tairona untersucht und auf dieser Grundlage ein Leitfaden erstellt werden, welcher entsprechende Prozesse unterstützen kann.

Die Arbeit ist als epistemische Untersuchung von Prozessen der Rückbindung auf institutioneller, internationaler, interkultureller, rechtlicher und ethischer Ebene angelegt und reflektiert diese in all ihren Verstrickungen und Unvereinbarkeiten. Damit werden nicht nur neue Bedingungen für ethische Beziehungen hergestellt, sondern sollen auch transkulturelle und -disziplinäre Perspektiven abgeleitet und ein Beitrag zu einer kritisch intervenierenden Wissenschafts- und Museumspraxis im globalen und dekolonialen Kontext geleistet werden.

  • Donovan Stewart

Mein Projekt stellt die Frage, wie die Organisation des politischen Ortes im Zuge zeitgenössischer Theorien ökologischer und technischer Existenz neu gedacht werden muss. Zunächst analysiere ich zwei hegemoniale Auffassungen von der Organisation des politischen Ortes, an denen sich die politische Theorie bis heute orientiert – eine betrifft die „Lokalität“ (Heidegger 1982, Stiegler 2018), die andere die „Gemeinschaft“ (Blanchot 1988, Nancy 1991). Anschließend führe ich in das zeitgenössische ökotechnische Denken ein (Hörl 2020, Lindberg 2022) und argumentiere, dass dessen Erkenntnisse ein Überdenken dieses Verständnisses des politischen Ortes erfordern. Abschließend stelle ich eine theoretische Grundlage für die ökotechnische Gemeinschaft vor und zeige, wie das künstlerische Experimentieren eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung dieses Denkens gespielt hat und weiterhin spielen wird.

Die Notwendigkeit einer ökotechnischen Kritik an der Organisation des politischen Ortes ergibt sich aus der Tatsache, dass das Konzept der Organisation im Wandel begriffen ist. Organisation ist nicht nur eine Aktivität des menschlichen Lebens, sondern wird zunehmend als ein ontologisch ambivalenter Vorgang verstanden, der Lebewesen auf eine Art formt, die durch spezifische ökotechnohistorische Bedingungen ermöglicht wird. Diese Art von Organisation verlangt von uns die Anerkennung eines organisatorischen Apriori (Beyes, 2021), das der Existenz, der Erfahrung und jeder möglichen Kritik zugrunde liegt. Darüber hinaus folgt diese Rückkehr zum Problem der (Re-)Organisation des politischen Ortes vorbereitenden Aspekten der Gegensatzdekonstruktion von Polis-Physis, Bios-Zoē, Gesellschaft-Natur. Diese Dekonstruktion intensiviert sich heute, und zwar nicht nur aufgrund der jüngsten Aneignungen von Derridas Denken der Ur-Schrift als allgemeine Geschichte des Lebens (Derrida 1982, Lynes 2018, Vitale 2019), sondern vor allem wegen der materiellen immanenten Kritiken, die uns heute umgeben, den verschiedenen Formen der Rache der „Dinge selbst“ (Latour 2017, Haraway 2017), die eine aggressive Neuformulierung der Grundkonzepte von Philosophie und Politik erforderlich machen – eine Notwendigkeit, die die (Re-)Organisation des politischen Ortes als einen der wichtigsten Gegenstände zeitgenössischer Kritik herausstellt.

  • Lukas Stolz

Die sozial- und kulturwissenschaftliche Diagnose von Zukunftslosigkeit in Zeiten der Klimakatastrophe ist Ausgangspunkt meines Projektes. Dabei interessiert mich insbesondere die kollektive Unfähigkeit, glaubhafte Alternativen zum Status Quo zu imaginieren und die damit verbundenen Gefühle politischer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Während ich die Notwendigkeit von motivierenden politischen Narrativen und Imaginarien sehe, stehe ich den Forderungen nach einer „Rückeroberung der Zukunft“ oder nachhaltiger Entwicklung skeptisch gegenüber: Sie sind von eurozentristischen Geschichtsvorstellungen geprägt und schreiben nicht selten koloniale Vorstellungswelten fort. Mit Blick auf die jüngsten Klimaproteste, die um eine wachsende Sorge um die Zukunft herum mobilisieren, stellen sich mit der post- und dekolonialen Kritik an modernen Chronopolitiken eine Reihe von Fragen: Gibt es Möglichkeiten, eine radikale Veränderung zu denken, die nicht von der Gewissheit einer besseren Zukunft abhängt? Können wir über progressive Politik jenseits der Erzählung historischen Fortschritts nachdenken? Könnte ein pluralisiertes Verständnis von Zeit und Geschichte uns aus einer Sackgasse helfen, welche den öffentlichen Diskurs um Klimapolitik zunehmend bestimmt: Fatalistisches Untergangsdenken auf der einen Seite und falsche Hoffnung und „Cruel Optimism“ auf der anderen? Mein Projekt ist von der Vermutung geleitet, dass diese Fragen nicht nur von Relevanz für Klimaaktivist*innen sind, sondern dass “Imaginative Resilienz” – die Fähigkeit, radikalen sozialen Wandel trotz prekärer Zukünfte vorstellbar zu machen – ein wichtiger Aspekt sozialer Realität, emanzipativer Praxis und kritischer Theoriebildung ist, der in aktuellen ökosozialistischen Debatten noch nicht genug erörtert wird. Meine Hypothese ist, dass die fortschrittsorientierten Chronopolitiken sowohl liberaler als auch ökosozialistischer Klimadiskurse sich einer Herausforderung durch indigene Kosmologien, Queer Theorien und Black Radical Traditionen stellen müssen: insbesondere, wenn es um die Rolle nicht-linearer und nicht-teleologischer Vorstellungen von Emanzipation jenseits des modernen Fortschrittsoptimismus geht.

  • Julian Volz

Gegenstand des Dissertationsvorhabens sind künstlerische Praktiken der Gegenwart, die sich mit Kultur und Politik in Algerien im ersten Jahrzehnt (1962 - 1972) nach der mühsam erkämpften Unabhängigkeit vom französischen Kolonialismus beschäftigen. Die zehn untersuchten Künstler*innen (darunter Bouchra Khalili, Massinissa Selmani, Zineb Sedira oder Yasmina Reggad) beziehen sich in ihren Arbeiten auf künstlerische und kreative Prozesse aus den Bereichen des Films, des Radios, der Produktion von Ikonen (wie Frantz Fanon oder Djamila Bouhired) und der Raumproduktion in einem Kontext des gesellschaftlichen Aufbruchs. In den Formen der Installation und des Videos übersetzen die Künstler*innen die genannten historischen Praktiken in die westliche Institution Kunst (Peter Bürger). Sie verorten sich damit in einer entangled history, die nicht nur die komplexen Beziehungen zwischen der ehemaligen Kolonialmacht und der Kolonie, sondern darüber hinaus auch die vielfältigen Verflechtungen des globalen Südens umfasst, dessen Knotenpunkt Algier für einige Jahre darstellte. Aus dieser Verortung ergibt sich eine Hybridität, die innerhalb der Institution Kunst – so meine These – eine besondere Möglichkeit der Reflexion und Kritik eröffnet.

Indem die untersuchten Künstler*innen sich mit den kreativen Zeugnissen einer revolutionären Epoche auseinandersetzen, verhandeln sie das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft neu und untersuchen den Funktionswandel, den Kunst in einer gesellschaftlichen Aufbruchssituation erfährt. Mein Fokus liegt auf den kritischen Effekten, die durch diese räumlichen und zeitlichen Verschiebungen und Übersetzungen erzielt werden. Mein theoretischer Ansatz zielt darauf, die Synergie einer Ästhetischen Theorie im Anschluss an Theodor W. Adorno mit postkolonialen Beiträgen zur Hybridisierung und Übersetzung konkret am Untersuchungsgegenstand auszuweisen.