Aktuelle Entwicklungen beim Schmerzensgeld

Prof. Dr. Hohlbein im Interview

20.02.2023 Wie viel Schmerzensgeld ist gerecht? Prof. Dr. Bernhard Hohlbein beschäftigt sich wiederkehrend mit Schmerzensgeldansprüchen basierend auf deutschen Gerichtsurteilen. In diesem Interview skizziert er aktuelle Entwicklungen und weist zugleich auf weiteren Handlungsbedarf hin. Dabei beschreibt er auch Anforderungen an den deutschen Versicherungsmarkt.

„Personenschäden resultieren häufig aus Unfällen im Straßenverkehr, dem privaten Bereich, der Tierhalterhaftung oder aus der erwähnten Krankenhaushaftpflicht. Es ist also anzuraten, diese Risiken hinreichend zu versichern.“ ©© Mathias Paulokat
„Die von den Gerichten ausgeurteilten Schmerzensgeldbeträge haben sich in den letzten Jahren markant erhöht.“ // Prof. Dr. Bernhard Hohlbein mit Alumnus Mathias Paulokat
Herr Prof. Hohlbein, blicken wir auf die Entwicklung von gerichtlich festgestellten Schmerzensgeldansprüchen der letzten Jahre. Was sind die relevanten Auffälligkeiten?  
Die von den Gerichten ausgeurteilten Schmerzensgeldbeträge haben sich in den letzten Jahren markant erhöht. Bis etwa 1990 bewegten sich die Höchstsummen bei etwa 100.000 €. Zehn Jahre später war es bereits das Doppelte. Dann setzte eine Dynamik ein, sodass in großen Schritten zuletzt 1 Mio. € erreicht worden ist. Und alles deutet darauf hin, dass die Entwicklung weitergehen wird.
Und dennoch scheinen die höheren Zahlungen aus Sicht der Betroffenen nicht zufriedenstellend zu sein. Warum?
Solche Höchstsummen werden nur in überaus tragischen Fällen zugesprochen. Zuletzt kam es zum Beispiel bei einem 1-jährigen Jungen nach einem vergleichsweise harmlosen Infekt zu groben Behandlungsfehlern in einem Krankenhaus. Das Ergebnis jedenfalls ist unter anderem: Hirnschaden, Intelligenzminderung ohne aktive Sprache, spastische Störung des Nerven- und Muskelsystems und Epilepsie. Und Angstzustände hat der Junge auch. Er muss rund um die Uhr betreut werden.
Wenn man nun eine mögliche Lebenserwartung von noch etwa 80 Jahren ansetzt, führt eine schlichte Division von 1 Mio. € scheinbar zu einem Schmerzensgeld von 12.500 € pro Jahr, also gut 30 € pro Tag. Wie gesagt, scheinbar. Denn es gilt die Inflation, die mündelsichere Geldanlage und eventuelle Steuern auf Zinsgewinne zu berücksichtigen. Das ist fast eine Managementaufgabe, die kostenpflichtiger externer Hilfe bedarf. Dass in einer solchen Situation der Wunsch nach mehr Geld entsteht ist grundsätzlich nachvollziehbar. Insbesondere, wenn man den Schmerzensgeld-Tagessatz im Vergleich zu Haftentschädigungsansprüchen, 75 € pro Tag, oder Nutzungsausfalltabellen für Pkw sieht, die typabhängig von 23 € bis 175 € pro Tag reichen.
Wir müssen als Gesellschaft sicherstellen, dass Schmerzensgeld nicht durch Zeitablauf auf einen beleidigenden Betrag abschmilzt.
Was bedeuten diese höheren Ansprüche und daraus resultierenden Zahlungen für den Versicherungsmarkt?
Die Frage nach dem Versicherungsmarkt ist berechtigt. Schließlich sprechen wir hier von Summen, die ohne Versicherung realistisch nicht zu bewältigen sein werden. Dabei muss gesehen werden, dass Schmerzensgeld zusätzlich zum Schadensersatz zu zahlen ist. Und in tragischen Fällen kann allein der Schadensersatzanspruch in den 2-stelligen Millionenbereich gehen. Bei solchen Schadenfällen sind oft Kinder die Leidtragenden. Und weil die Lebenserwartung dank medizinischer Fortschritte noch lang sein kann, wird es kostspielig.
… und welche Versicherungen sind besonders betroffen?
Personenschäden resultieren häufig aus Unfällen im Straßenverkehr, dem privaten Bereich, der Tierhalterhaftung oder aus der erwähnten Krankenhaushaftpflicht. Es ist also anzuraten, diese Risiken hinreichend zu versichern. Nur so kann ein angemessener Opferschutz erreicht und zugleich eine Insolvenz des Schadenverursachers vermieden werden.
Sie haben in Ihrem letzten Aufsatz vorgerechnet, dass je nach Inflationsrate und angenommener Langlebigkeit, heute übliche Versicherungssummen in vielen Fällen unzureichend sind. Welche Deckungssummen empfehlen Sie?
Haftpflicht-Deckungssummen im einstelligen oder unteren zweistelligen Millionen Euro-Bereich scheinen mir angesichts der verbesserten Lebenserwartung auch von Schwerverletzten, der Kostenentwicklung im Heilwesenbereich und der Inflation mittlerweile unangemessen. In der Regel sind heute Deckungssummen im mittleren zweistelligen Millionenbereich anzuraten. Die Mehrprämie dafür ist gering.
Welche Handlungsempfehlungen leiten Sie hieraus ab und an wen richten sich diese?
Da ich derzeit weder eine deutsche Gesetzesinitiative zum umfassenden obligatorischen Haftpflichtversicherungsschutz noch eine europäische Richtlinie zum Schmerzensgeld sehe, ruht meine Hoffnung auf den Gerichten. Diese sollten meines Erachtens in schweren Fällen Schmerzensgeld als indexierte Rentenzahlung zusprechen; die dagegen angeführten Bedenken, dass dies die Inflation fördere, halte ich nicht für durchgreifend. Eine Schmerzensgeldrente kann helfen, langfristig schmerzadäquaten Ausgleich sicherzustellen und Fehlversorgungen in Form von Über- oder Unterversorgung vermeiden helfen. Und eine Rente vermeidet Begehrlichkeiten bei Pflegenden, häufig Angehörige und Erben. Denn eine große Summe Geld kann zu Entscheidungen verleiten, die nicht im Interesse des Opfers sind.
Es wäre hilfreich, wenn sich der Deutsche Juristentag, der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft oder eine einzurichtende Kommission des Themas annehmen würde. Die Geschädigten hätten jede Hilfe verdient.
Vielen Dank für das Gespräch!         

Die Fragen stellte der Lüneburger Alumnus Mathias Paulokat, MBA. Der Diplom Wirtschaftsjurist (FH) ist Pressesprecher im Bankgewerbe.

Der Artikel, der zu diesem Gespräch geführt hat, ist in VersR 2022, Heft 20, S. 1269 ff. veröffentlicht worden. Die Co-Autorin, Nina Bölke, ist die ehemalige studentische Mitarbeiterin von Prof. Hohlbein und hat bei der Veröffentlichung assistiert. Frau Bölke studiert nun, nach ihrem BA-Abschluss, Rechtswissenschaften für die Erste Juristische Staatsprüfung; zugleich arbeitet sie in einer Anwaltskanzlei.

Hier finden Sie weitere Infos zu Prof. Dr. Bernhard Hohlbein sowie zur Leuphana Law School.