Zur Werkstatt: Die Schule als Gasthaus des Lernens

Briefe an die Teilnehmenden

von Laura Köppel & Reinhard Kahl

Bis zum Beginn der Utopie-Konferenz schreiben wir hier Briefe an die Teilnehmenden der Werkstatt „Die Schule - ein Gasthaus des Lernens“. Nach der Konferenz folgen Ergebnisse. Und hoffentlich weitere Verabredungen.

Fünfter Brief an die Teilnehmenden

Die Schule eine DNA-Werkstatt?!

Wie wäre es, wenn Klassenarbeiten, Klausuren und andere Prüfungen erst nach einem Mindestabstand geschrieben werden? Vielleicht drei Monate nachdem die Sachen im Unterricht Thema waren. Und dann unangekündigt. Nicht etwa um die Schülerinnen und Schüler zu überfallen, gar zu überführen, sondern um herauszufinden, was von all dem geblieben ist? Wie Wissen zu Verstehen anverwandelt wurde. Oder war es doch nur Bulimielernen? Ausgemergeltes Wissen, das in Lücken- oder Multiple Choise-Tests passt?

Und dann vielleicht noch mal Stichproben nach einem Jahr oder zwei Jahren, damit die Schule sich über ihre Wirksamkeit im Klaren wird und ihre Strategien daraufhin abstellt. 

Und da wir gerade dabei sind, wie wäre es denn, wenn die Lehrerinnen und Lehrer schwören, das Wort Stoff nicht mehr zu benutzen und versprechen es den Dealern zu überlassen? Oder fehlt dem Lehrkörper dann was?

Dieser so groß scheinende, aber vielleicht doch ganz selbstverständliche Schritt  wäre eine Beispiel für das, was wir DNA Werkstatt nennen. 

Die kulturelle DNA wird in der Bildung reproduziert. Wie können wir die herrschende DNA, die uns Lemmingen gleich zu Abgründen treibt, analysieren, begreifen und vor allem an ihr arbeiten? Sind Schulen und andere Bildungseinrichtungen nicht besonders geeignet gewissermaßen die DNA-Schere anzusetzen, um die Gesellschaft, unsere Kultur, die nicht mehr zukunftsfähige Lebenswelt zu erneuern?

Wie ließe sich die herrschende Grammatik des Weltverbrauchs, des dominierenden Modus der Verwertung, der flugs in Entwertung übergeht oder die schnelle Bewertung und all das vorschnelle Wissen in eine andere Muster transformieren? 

Das Privileg von Bildungseinrichtungen in dieser Transformation ist doch, dass dort die Freiheit dazu - bei aller Überreglementierung durch eine bürokratische Bildungsplanwirtschaft  - noch am größten ist, wenn die Beteiligten sich diese Freiheit nehmen. Das besondere Privileg ist doch, dass man damit sofort anfangen kann, wenn man will. 

Und noch ein vielleicht gar nicht so maßloser Gedanke, wie er zunächst zu sein scheint: Was könnte von diesen Schulen für die Bildung der Gesellschaft, also bei ihrer Umbildung oder Transformation, für eine Kraft ausgehen? Von den Kindern und Jugendlichen! Von erwachsen gewordenen Erwachsenen im Lehrerberuf. Auch von den Eltern und, ja noch maßloser, von der Gesellschaft, also der Umgebung der Schulen? Eine Gesellschaft im Großen und der Stadtteil im Kleinen, die sich dafür begeistern sie zu Kathedralen der Zukunft auszubauen? 

Stichworte wie „DNA Werkstatt“ oder auch „Arbeit an der Grammatik der Lebenswelt“ weisen auf das hin, was ansteht: unsere Lebenswelt neu zu denken, handelnd zu denken, an der Verwirklichung konkreter Utopien zu arbeiten!

Alles Reden über Schule, Bildung und Erziehung ist doch immer auch ein heimliches Selbstgespräch der Gesellschaft darüber wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir wollen. 

Dieses Selbstgespräch kann eine offene Debatte sein oder auch das Grummeln des Unbewussten etwa beim Abendbrot.

Die Debatten über die „Deutsche Bildungskatastrophe“ in den 60er Jahren, dann über Schulreform und Chancengleichheit, schließlich die Irritationen nach der Pisa-Studie gingen nicht nur um Bildung im engeren Sinne. Sie waren auch Selbstverständigungsversuche der Gesellschaft und Versuche Zukunft zu entwerfen. Oder eben um ihre „Bildung“ im ganz ursprünglichen Wortsinn. 

 Apropos „Selbstgespräch“. Das klingt schrullig und etwas autistisch. Ist es häufig ja auch. Aber wenn es gut geht, gilt der schöne Satz von Platon „Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.“ Was natürlich voraussetzt, mit sich nicht völlig einer Meinung zu sein, sonst ergibt sich nur jene Pfeifton-Rückkopplung die entsteht, wenn Mikro und Lautsprecher zu nah beieinander stehen. Also grummelnde Selbstgespräche ohne zu denken.

Die Seelenlosigkeit der Bildungspolitik spiegelt die Ratlosigkeit des Weiterso, von dem alle wissen, dass es so nicht mehr geht. 

Also bringen wir „Die Schule neu denken“ auf die Tagesordnung. Und tatsächlich findet es ja in manchen Schulen statt, wenn man auch einräumen muss, dass dieses Neudenken häufig wieder zu Rhetorik zu verkümmert und im alltäglichen Kleinklein verschüttet wird.   

Es braucht also dritte Orte und Dritte als Akteure für dieses Gespräch darüber wie wir leben, arbeiten und lernen wollen. Die Utopiekonferenz zum Beispiel.

Dazu noch mal ein Gedanke aus dem ersten Brief: Wir brauchen einen möglichst weiten Horizont und zugleich kleine, ja kleinste, weil nur dann genaue und wahrhaftige Schritte. 

Beides!

Ein Beispiel noch:
Wie wäre es, wenn das Schulessen nicht in Kalorien gemessen würde - so wie der Unterricht in Informationen - sondern in einem weiten Vokabular des Geschmacks? Nicht immer nur lecker oder würg. Ja, wenn in der Mitte einer Schule eine Küche wäre, die zugleich ein quasi naturwissenschaftliches Labor ist und eine Übung um auf den Geschmack der Welt zu kommen? 

Wir wollen also Schnittmuster für die DNA Schere sammeln. Wir wollen nach den grundlegenden Mustern fragen, wie Bildung (eben nicht nur „Lernen“) gelingt. Und wir sollten uns dazu verabreden ein falsches oder sinnlose Spiel nicht weiter zu spielen. 

Tennisspielen auf Kopfsteinpflaster geht halt nicht!

Vierter Brief an die Teilnehmenden

Traum und Trauma - Ideen zur Schule

Nehmen wir mal an, unsere individuellen Gedächtnisse und auch das kulturelle (oder kollektive) Gedächtnis der Gesellschaft hätten einen Totalausfall, was Schule, Bildung und Co betrifft. Aber ansonsten ungetrübte Wahrnehmung, hellwache Intelligenz und das wichtigste: lebendige Debatten, alltäglicher Austausch und Freude daran, etwas auszuprobieren.

Wir müssten überlegen, wohin mit den Kindern und Jugendlichen? Wie wird man erwachsen? Und was ist das eigentlich?

Oder wie ein alter Ehtnosoziologe immer wieder fragt: Wie initiieren wir die nächste Generation? Und genauso wichtig findet er, wie erneuert sich die Gesellschaft durch die nächste Generation?

Vermutlich würde niemand mehr auf die Idee kommen, die Jungen und Mädchen 10 bis 13 Jahre lang zum Sitzen zu vergattern, zumindest überwiegend. Und dann vielleicht noch nachsitzen in der Uni?

Das, sagt der alte Ethnosoziologe, gehöre doch wohl in die Epoche des Homo sedens, des sitzenden und seinerzeit zunehmend sedierten Menschen, bis dann die Zu-vieli-sation einkrachte. Seitdem ja auch der partielle Gedächtnisausfall in den vermutlich traumatisierten Hirnen.

Was fällt uns ein, wenn wir ein paar Mal blinzeln und voraussetzungslos über Bildung nachdenken, träumen und vielleicht auch mit anderen darüber reden?

Die Gedanken bitte mitbringen, vielleicht sogar auf Papier oder per Elektropost?!: (mal@reinhardkahl.de)

Wir wollen diese und andere Ideen, vor allem die Ergebnisse der Werkstatt sammeln. Die Arbeit der Werkstatt soll ja nicht verpuffen!
Wir werden dazu den Tisch „Büro für Seele und Genauigkeit“ (Robert Musil) einrichten.

Seele und Genauigkeit! Das finden wir, wäre ein hervorragendes Wasserzeichen für die Werkstatt.

Wer wenig Zeit hat, sammelt vielleicht nur ein paar Assoziationen zu Traum und Trauma Schule. Und bitte: Genauigkeit!

So weit heute mit dem vierten Brief.

Der fünfte Brief folgt. Thema darin: Wie könnten Schulen und andere Bildungshäuser „DNA- Werkstätten“ werden, in denen Zukunft entsteht?

Dritter Brief an die Teilnehmenden

Sechs Gespräche u.a. mit Hartmut Rosa, Klaus Zierer und Marina Weisband plus Videoeinspielungen

Bereits vor der Utopiekonferenz 2021, die dann wegen Corona eine kleine Konferenz bleiben musste, haben sechs Gespräche mit Videoeinspielungen das Thema „Bildung“ vorbereitet: „Was heißt hier Bildung?“ Es lohnt sich da noch mal reinzusehen! Vor allem in die zweite Session mit der famosen Alemannen Schule in Wutöschingen, zumal es um diese Schule auch in der diesjährigen Werkstatt gehen wird.

https://www.leuphana.de/portale/utopie-konferenz/was-heisst-hier-bildung.html

1. Resonanz! Mit Hartmut Rosa

Es war die beste Zeit in unserem Leben! Und wir haben mehr gelernt als in den drei Jahren Oberstufe.“ Das sagen Jugendliche nach einer 2 1/2 wöchigen Schülerakademie.

Wie kommt das?

Die Antwort des Soziologen Hartmut Rosa: Resonanz. Resonanzen sind Beziehungen. Sie sind das Gegenteil von bloßem Echo, das die meisten Schulen verlangen. Resonanz heißt berührt und aktiv zu werden. Und gerade dann kommt es zu außerordentlichen Leistungen, weil man nicht muss, sondern will.

„Eine der dümmsten Ideen“ findet Rosa ,„ist die Alternative entweder Spaß zu haben oder etwas zu leisten“. Freude und Resonanz kommen auf, wenn Menschen ihr Ding finden und dabei finden sie zumeist auch ihre Stimme. Ist nicht genau das Bildung?

Wie das geht, bezeugt Hartmut Rosa selbst. Er leitet seit mehr als 20 Jahren jeden Sommer eine Schülerakademie. Diese Zeit, sagt der überaus gefragte Soziologieprofessor, sei „die schönste und wertvollste des Jahres“.  Er habe die Schülerakademien nie als ein Labor für seine Wissenschaft betrieben. Erst später habe er gemerkt, dass von ihnen wesentliche Impulse für seine Resonanztheorie ausgegangen seien.

Gibt das nicht zu denken? Eine starke Wirkung aus einem Projekt, das ohne Spekulation darauf betrieben wurde. Vielleicht sind solch indirekte Wirkungen die stärksten und nachhaltigsten. Jedenfalls sind sie unterschätzt.

2. Selbstorganisation und Erleben! Mit der Alemannenschule Wutöschingen und Olaf Burow

Der Erziehungswissenschaftler Olaf Burow ist auf der Suche nach Schulen, die gelingen. „Diese Schule,“ sagt er über die Alemannenschule, „hat mir die Schuhe ausgezogen.“

In ihr erkennt er ein Geheimnis guter Schulen. Kinder und Jugendliche lernen dann am besten, wenn die Schule selbst zur lernenden Organisation wird. Es zeigt sich, dass Bildung zuallererst eine Frage der Haltung ist. Wie wird eine Schule zu einem lebendigen Organismus? Wie kommt eine Atmosphäre auf, in der Engagement und Intensität gedeihen?

Nur ein Beispiel. Jeder Jugendliche bekommt für das neue Oberstufengebäude seinen Schlüssel und darf 24 Stunden an 7 Tagen die Woche rein.

Man spricht in Wutöschingen von der „Schmetterlingspädagogik“. Auf der einen Seite „selbstorganisiertes Lernen“. Auf der anderen Seite „Lernen durch Erleben“. Mit beiden Flügelpaaren heben die Schülerinnen und Schüler - wie auch ihre Lehrerinnen und Lehrer - tatsächlich ab. Besucher staunen über die heitere und konzentrierte Stimmung. Allerbeste Ergebnisse bleiben nicht aus. Das zeigen landesweite Vergleichsarbeiten. Sofort sieht man es den Kindern und Jugendlichen an.

2019 bekam die Schule den Deutschen Schulpreis.

Wie ist es dazu gekommen? Filmische Exkurse gehen dem nach. Man sieht verwandte Schulen in der Bodenseeregion, an denen sich diese Schule angesteckt hat. Ist es ein „Lernvirus“, der eine ansteckende Gesundheit verbreitet? Rektor Stefan Ruppaner ist sich sicher, dass es auch positive Viren gibt. Deren Ausbreitung werde allerdings von der üblichen Quarantäne in Schulen verhindert: Segregation der Lernenden in Klassenzimmer und  Fragmentierung des Wissens in Lehr- und Stundenpläne.

3. Gefühle! Mit Ute Frevert

In Lehrplänen ist von ihnen eher nicht die Rede. Aber sie sind die Basis von allem: Die Gefühle. Die Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung plädiert für deren Rehabilitierung.

Filmexkurse zeigen die Neulust von Kindern und das Erwachen der Intelligenz.

Etwa im Musikkindergarten Berlin, der von Daniel Barenboim initiiert wurde. Man sieht wie unabdingbar für das Lerngenie der Kinder herausfordernde Gelegenheiten sind. Zum Beispiel Musik. Und dabei insbesondere der Gebrauch von Instrumenten. Die Filmexkurse zeigen  auch andere Möglichkeiten. Es kommt darauf an, tätig zu sein. Das wollen Menschen von Anfang an. Ohne Gelegenheiten dazu würde ihre Lernfreunde verkümmern.

Bei einem Exkurs zum Kindermuseum Fulda sieht man einen Freund des Hauses, den inzwischen verstorbenen Artur Fischer. Er war Erfinder von Fischerdübel und Fischertechnik. Er erzählt davon, dass seine Arbeit für ihn „eigentlich gar keine Arbeit“ war. Das Ergebnis: 2252 Patente. Damit zählt er zu den produktivsten Erfindern der Welt.

4. Freiräume! Mit Klaus Zierer

Freude, sagt der Augsburger Erziehungswissenschaftler, treibt an. Sie steht entgegen anders lautenden Überzeugungen dem Lernen nicht im Weg. Sie hilft über Durststrecken. Sie entsteht, wenn Selbstwirksamkeit und Weltwirksamkeit zusammen kommen. Mit dieser Aufladung werden Kinder und Jugendliche geradezu Magneten, die Wissen anziehen.

Wenn aber - worauf Studien hinweisen - die Lernfreude im Laufe der Schulzeit vergeht, dann, so Zierer, stimmt doch was nicht. Diesem in der Bildung wenig beachteten Vorgang, den doch aber alle Schüler und Ehemaligen kennen,  forscht er nach. Was zersetzt die Freude? Wie lässt sie sich zurück gewinnen? Sein Vorschlag: Mehr Freiräume! Ein Drittel nicht verplante Zeit! Außerdem kommt es auf die Haltung der Lehrer an! Das konnte er in Studien u.a. zusammen mit John Hattie nachweisen.

Filmexkurse zeigen, was in den 35 000 Schulstunden eines Kinder- und Jugendlebens alles möglich wäre. Zum Beispiel Mini-München. Ein Projekt, das auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag. Kinder bauen Häuser. Sie schweißen Fahrräder zusammen. Sie kochen und servieren. Alle wollen tätig sein. Die Hallen und das Gelände werden seit nunmehr 30 Jahren im Sommer von Kindern geradezu gestürmt. Ist das nicht ein Vorgriff auf eine künftige, nachindustrielle Tätigkeitsgesellschaft?

5. Subjekt werden! Mit Marina Weisband

Mit anderen zusammen zu handeln, sich gegenseitig entzünden und selbst etwas zu wollen, das ist für Marina Weisband die Seele aller Bildung. Bloß irgendwie durchzukommen, zu funktionieren und immerzu nur Aufgaben zu erledigen, wäre hingegen eine Einübung ins Gegenteil. Die nachdenkliche Aktivistin arbeitet mit Jugendlichen. Sie ist politisch engagiert. Ihre Passion gilt der Digitalisierung. Allerdings eine, die Menschen stärkt. Sie will ein Internet, das verbindet. Ein wirklich soziales Netz, an dem alle mitknüpfen. Kein Spinnennetz, das Konsumenten einfängt und zur Passivität drängt.

„Wir brauchen eine zweite Aufklärung!“ Daran arbeitet sie. Die Digitalisierung sieht sie als Sprungbrett in eine nachindustrielle Zukunft. Digitalisierung bietet außer einer Vielzahl an sozialen Netzen und Verbindungen die Entlastung der Menschen von stupider Arbeit und einen Reichtum an Werkzeugen. Aber schließlich kommt es auf das Werk an. Ohne Möglichkeit zu guter Tätigkeit kippt das Werkzeug in sein Gegenteil und wird zur Prothese der Untätigen.

Braucht es dafür nicht Schulen, die ihren Schwerpunkt vom Unterrichten zum Aufrichten verlagern? Braucht es dafür nicht Zukunftswerkstätten? Und vor allem den Elan all die Häuser des Lernens zu schönen und einladenden Orten zu verwandeln. Wie das geht, sieht man im Exkurs zur Montessori Oberschule Potsdam.

Die Ideen von Marina Weisband gehen indes noch weiter. Sie fragt, wie wäre es mit „Volkshoch-Kneipen“? Denn wir brauchen viele gemeinsame und schöne Orte! Gerade in Zeiten der Digitalisierung. Und die könnte man sie sich von der Digitalisierungsrendite endlich auch leisten.

6. Indirekte Pädagogik! Mit Richard David Precht

Gute Bildung ist für den Philosophen ein halbwilder Garten. Der hat Struktur und schafft Spielräume für Unerwartetes und ermöglicht das Lebendige. Er bietet vielfältige Möglichkeiten für all das, was man Kreativität nennt.

Im „ständigen Um-zu“ unseres Schulbetriebs allerdings steckt „ein Gift“, das lähmt. Es verhindert wache Gegenwart und verbaut die aktive Haltung „für etwas zu sein“, etwas zu wollen und dabei man selbst zu werden.

Damit Schülerinnen und Schüler eigene Wege gehen, brauchen sie allerdings Erwachsene, die dadurch, dass sie selbst etwas wollen,  anstecken. Schließlich dürfen die eigenen Wege auch Umwege sein.

Ein Filmexkurs zeigt ein vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung evaluiertes Sommercamp für Grundschüler. Die Kinder machen neben dem Unterricht auch Theater und genießen die gemeinsame Freizeit. Der Clou: In drei Wochen erzielen sie einen Lernfortschritt von „mindestens zwei Jahren“. Wie bitte? Dieses Ergebnis wollte der Bildungsforscher Jürgen Baumert, der auch die Pisa-Studie in Deutschland geleitet hat, zunächst nicht glauben. Er hielt es für einen Rechenfehler. War es nicht. Aber eine wichtige Erkenntnis.

Wie können solche Bildungskulturen entstehen? Prechts Antwort: „Sie wachsen von unten.“ Der Boden dafür ist da, wenn er auch zumeist noch brach liegt. Es gilt die Brache zu  kultivieren. Zu einem halbwilden Garten.

Zweiter Brief an die Teilnehmenden

Wir konnten für die Werkstatt fünf Zeugen gewinnen.

„Zeugen“ weil sie nicht in erster Linie Anwälte einer These, sondern Akteure in der Praxis sind. Aber, das muß man unbedingt hinzufügen, Praxis ist kein  Gegensatz zur Theorie. Ohne Idee von einer besseren Praxis könnten unsere Zeugen nicht das tun, was sie tun.

Die Werkstatt hat vier Phasen. Vorab gibt es im Rahmen des allgemeinen Kongressprogramms am Mittwoch um 11 Uhr ein Gespräch mit Steffi Hobuss und Freitag um 10´30 eines mit Richard David Precht.

Steffi Hobuss ist die Akademische Leiterin des Leuphana College und befragt uns, Laura Köppel und Reinhard Kahl. Wir stellen die Werkstatt vor und dokumentieren mit Videos was ein Gasthaus des Lernens ausmachen könnte.

Wir sehen…

…einen Lehrer, der tatsächlich ein Gastgeber ist.
…Mini München als eine Art Kinderrepublik.
…ein Sommercamp und wie der Direktor des Max Planck Instituts für Bildungsforschung den Ergebnissen seiner eigenen Studie darüber zunächst nicht geglaubt hat.

I. Phase: 14´00 - 16´00

Einstimmung. Check-in.

Die Teilnehmer tauschen ihren Traum von einer guten Schule und ihre Albträume aus. (Wir werden in einem weiteren Brief an sich darauf vorzubereiten auffordern.) Neben den Gesprächen mit den Zeugen sind Gärungen bei den Teilnehmenden die zweite Form dieser Werkstatt. Gärungen? Wenn neue Verbindungen entstehen, kann man nie wissen, ob Essig oder Wein dabei raus kommt.

Zu den Personen und Themen gibt es Videos. Wir werden sie wie Joker einsetzen, wenn sie gebraucht werden.

Erster Zeuge: Das Multitalent Van Bo Le Menzel
Das ewige Kind

Als Albert Einstein einmal gefragt wurde, wie er sich denn seine Erfolge, Entdeckungen und Erfindungen erkläre, antwortet er: „Weil ich das ewige Kind geblieben bin.“ Wäre das nicht das oberste Bildungsziel? Bei Einstein ist klar, dass dieses „ewige Kind“ nichts mit Infantilität zu tun hat. Die nächste Frage: Wie wird das „ewige Kind“ erwachsen?
Van Bo Le Menzel ist sehr erwachsen, wenn es heißt verantwortlich zu handeln. Und er bleibt Kind, wie er staunt und Neues zur Welt bringt.
Er ist Architekt und Aktivist in Sachen Tiny Houses.
Er hat nach der Geburt seines Sohnes Henry im Buch „Der kleine Professor“ darüber geschrieben, was er von und an ihm gelernt hat.
Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Gegen Ende dieser ersten Phase kommt die zweite Zeugin Franca Parianen dazu. Die in der zweiten Phase ausführlich befragt wird.

II. Phase 16´30 - 18´00

Zweite Zeugin: Die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Franca Parianen
Teilen und Zusammenarbeit

Was unterscheidet uns Menschen von Menschenaffen, fragte das Max Planck Instituts for Evolutionary Anthropology in Leipzig. Bisher meinte man, dass wir Werkzeuge benutzen. Falsch, ergaben die Studien. Der Unterschied ist „Teilen und Zusammenarbeit“.

Teilen und Zusammenarbeit hat die Menschen in ihrer Gattungsgeschichte gebildet. „Seit Millionen Jahren teilen wir Arbeit und ihre Früchte, während wir Besitz erst seit ein paar Jahrtausenden anhäufen“ schreibt Franca Parianen. „Wir sehen es im Zusammenspiel der Kinder. Sie wissen, dass man die Räuberleiterbeute teilt.“

Fragen für die Gärungen:
Von den Kinder lernen? Wäre das nicht eine ganz neue Aufgabe von Schulen und Kitas?

III. Phase Donnerstag 10´15 - 12´30

Dritter Zeuge: Der Schulgründer Peter Fratton (Schweiz)
Das Lernvirus geht um

Peter Fratton aus Romanshorn in der Schweiz war zunächst Lehrer, hatte aber bald das Gefühl wenig oder das Gegenteil des Beabsichtigen auszurichten. Er wollte aufgeben. Dann folgte er dem Rat von Ruth Cohn („Störungen haben Vorrang“) lieber eine Schule zu gründen. In Ermangelung anderer Wege, wurden es private Schulen. Von Peter Fratton und den Gründungen - es sind einige - ging und geht ein Lernvirus aus, der mehr und mehr auch staatliche Schulen infiziert hat. Zum Beispiel die Alemannen Schule in Wutöschingen (Schwarzwald). In 12 Jahre wurde aus einer um den Bestand bangenden Hauptschule eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufer, die Schülerinnen und Schüler jederzeit, auch nachts, aufschließen können. Gerade hat der erste Jahrgang Abitur gemacht. Mit überdurchschnittlichen Ergebnissen. Seit Jahren schneidet die Schule in Vergleichsstudien bestens ab. Obwohl - oder weil ? - in dieser Schule, wie der Schulleiter sagt, „nicht mehr unterrichtet wird“.  Wie geht das?

Vierter Zeuge: Der Physiker und Lehrer Mario Parade.
Landwirtschaft und Medien

Goethe meinte auf Landwirtschaft und Musik komme es in der Schule an. Heute müsste man wohl „Medien“ hinzufügen. Das gilt jedenfalls für die Arbeit von Mario Parade, ein Physiker, den die Montessori Schule Potsdam verführt hat dort erst Quereinsteiger und dann mit Examen Lehrer zu werden. Er verantwortet dort das Jugendschulprojekt „Schlänitzsee“. Außerdem ist er einer der Gründer des Wissenschaftsladens Potsdam und FabLearn Fellow der Stanford University. Er untersucht in einem Forschungsprojekt, wie neues Wissen und neue Technologien in den Unterrichtsalltag integriert werden können und was eine Jugendschule von einer Kinderschule unterscheidet.

Fragen für die Gärungen: Was kostet es und was bringt es, etwas Neues zu wagen? Und warum sind die Hemmungen gegen dem Lernvirus, das eine ansteckende Gesundheit verbreitet so stark?

IV. Vierte Phase 14´00 - 18´00 180

Wie steht es um Autonomie und Freiheit von Schulen?
Nächste und übernächste Schritte um weiter zu kommen.

In der vierten und letzten Phase der Werkstatt kommt alles noch mal zusammen. Wir müssen wir zu einem vorläufigen Ende kommen. Ein fünfter Zeuge kommt dazu.

Christian Gefert ist Schulleiter des Marion Dönhoff Gymnasiums in Hamburg und dort Vorsitzender der Gymnasialschulleitungsvereinigung.

Wie viele Freiheit hat und wieviel Freiheit braucht eine Schule? Muss sie nicht selbst eine lernende Organisation werden, wenn Kinder und Jugendliche und auch die Erwachsenen, also Lehrerinnen  und Lehrer, dort tatsächlich lernen?

Christian Gefert kommt direkt von der Front. In der derzeit in Hamburg geführten Auseinandersetzung um neue Bildungspläne streitet er für mehr Freiheit der Schulen. Zeitweilig war der Lehrer für Philosophie, Geschichte und Theater in der Bildungsbehörde Grundsatzreferent für die Weiterentwicklung von Gymnasien.

Fragen an die Gärungen: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Und: Obwohl wir ja alle sterben müssen, warum wagen wir vorher nicht etwas mehr unserer Leben?

Zum Schluss: Jetzt schluss- oder weitermachen? Aussichten auf ein Basislager Bildung.

Während der Werkstatt sammelt ein „Büro für Seele und Genauigkeit“ (den Namen haben wir aus Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“ ) Ideen und Ergebnisse.

Die Arbeit der Werkstatt soll nicht verpuffen.

Erster Brief an die Teilnehmenden

Zur Werkstatt „Die Schule - ein Gasthaus des Lernens“ haben wir Protagonisten eingeladen, die begonnen haben, inmitten der schlechten pädagogischen „Esskultur“, die viele Kinder und Jugendliche als Bulimie bezeichnen, das Lernen und das Leben in der Schule zu kultivieren. 

Wir nennen sie „Zeugen“. Sie plädieren nicht nur für eine andere Praxis, sie betreiben sie. Wir, das sind Laura Köppel und Reinhard Kahl. Wir haben uns vor einem Jahr auf der Utopie-Konferenz kennengelernt und fanden, dass man manches anders machen könnte. Wir sind froh, dazu nun Gelegenheit zu haben. Laura studiert in Lüneburg, steht in gewisser Weise am Anfang, Reinhard fährt die Ernte von einigen Jahrzehnten „Lernaufwiegelei“ ein - wie das mal jemand über seinen Film „Treibhäuser der Zukunft“ und das „Archiv der Zukunft“ sagte. 

Wir beginnen etwas, das wir „Basislager Bildung“ nennen. Es soll möglichst im Rahmen weiterer Utopie-Konferenzen und auf jeden Fall auch darüber hinaus weitergehen. 

Basislager? Von dort bricht man zu Expeditionen in die Welt auf und dorthin kehrt man zurück. (Auch später als Erwachsener, als Botschafter oder Meisterin aus der tätigen Welt.) Im Basislager sammelt man Kräfte, plant und reflektiert. Das Basislager verspricht bedingungslose Zugehörigkeit. Sicherheit, um Unsicherheit wagen zu können. Es ist ein guter, ein schöner, ein einladender Ort. 

Ist das verwegen? Es war die frühere Bildungsministerin Annette Schavan, die einmal verlangte, jede Schule müsse mindestens so schön sein, wie die schönste Sparkasse der Stadt. Und wäre das nicht erst der Mindesteinsatz?

Das Basislager vertröstet nicht aufs spätere Leben“. Dort droht niemand mit dessen „Ernst“. Es lädt zum tätigen Leben, Lernen, Spielen und Handeln ein. Hier und jetzt. Hellwach und ganz gegenwärtig sein! So entsteht Zukunft. 

Nebenbei: Scholae hieß bei den Griechen Muße, frei sein von Geschäften. Und was wäre aktueller angesichts von Weichenstellungen für eine nachindustrielle Gesellschaft, bei denen es darum geht, wer auf dem Mensch-Maschine-Tandem vorne sitzt? Sollten also Schulen und andere Bildungshäuser, in denen traditionell die Gesellschaft reproduziert wird, nicht Werkstätten ihrer Erneuerung werden? DNA-Werkstätten, in denen Zukunft entsteht! Wie geht das? 

Wir werden dazu Geschichten hören. Denn auch Institutionen sollten ihre Geschichte nicht nur haben, sondern eine sein. Ihre institutionelle Biografie entwickeln sie auf Umwegen, ähnlich wie wir unsere Biographien. Wenn Umwege verboten sind, bleibt nur das bloße Funktionieren. Aber Funktionieren funktioniert nicht! 

Wir brauchen einen weiten Horizont, um Zukunft zu denken und zugleich gehen wir kleine, ja kleinste Schritte. Eine Bewegungsform, die balancierende Kinder vormachen oder Seiltänzer: Blick zum Horizont - schon weil er eine Funktion des Gleichgewichtssinn ist - und kleinste, weil genaue Schritte. Denn der Fuß ist nicht nur ein Bewegungs- sondern auch ein Wahrnehmungsorgan.

Nichts ist egal! 

Vielleicht ist das Wort „und“ ein Schlüssel. „Und“ im Unterschied zum vorherrschenden Entweder-oder. So wie Goethe, der bekanntlich alles wusste, schrieb: „Kinder brauchen Wurzeln und Flügel!“ Es geht also gleichermaßen um die Bildung der Kinder und Jugendlichen wie um die große Transformation, also die Bildung der nächsten Gesellschaft. Dieser doppelte Genitiv: Bildung der Gesellschaft ist das Wasserzeichen unseres Vorhabens. Fast zu groß, gäbe es da nicht die kleinen Schritte. Insofern verstehen wir unsere Arbeit selbst als Basislager. Es nimmt vorweg, was uns vorschwebt: Vielstimmig und mit dem Ziel eine gemeinsame Basis zu finden. Das ist das Wichtigste und auch am schwierigsten: Diese Vorwegnahme hier und jetzt. Der Abspaltung der schönen Worte und dem bloßen Rezensieren und Kommentieren der Wirklichkeit widerstehen. Oder nennen wir es: DNA-Werkstatt. Arbeit an Kommunikations- und Handlungsmustern. Man könnte auch sagen an der Grammatik der Gesellschaft, die in Bildungseinrichtungen gewöhnlich weiter vererbt, vielleicht aber auch erneuert wird. Nicht „vielleicht“! Erneuerung ist nötig. Schulen und auch Hochschulen, Kitas und außerschulische Jugendeinrichtungen sollten die Freiheit dazu haben, sollten sich die Freiheit dazu nehmen. 

Bekanntlich verlangte Karl Marx, die Philosophen sollten die Welt nicht nur verschieden interpretieren sondern verändern. Peter Sloterdijk hat den Satz abgewandelt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden umflogen, es kommt darauf an zu landen.“ Wir fügen hinzu: Nach dem Landen erneut aufsteigen und wieder landen. Eben: Wurzeln UND Flügel.