Power, Resistance, Fascism: Re-reading Foucault in the Present

LIAS Workshop organisiert von Alex Demirović, LIAS Alumnus | Serhat Karakayali, LIAS Faculty Fellow | Nancy Luxon, LIAS Senior Fellow und Roberto Nigro

25. Juni - 26. Juni

Datum: Mittwoch, 25.06. 17-19.45 Uhr | Donnerstag, 26.06. 9-18 Uhr
Ort: Leuphana Campus, Zentralgebäude, Hörsaal 4 (25.6.) & C40.704 (26.6.)
Sprache: Englisch

Präsentator*innen: Alex Demirović, LIAS Alumnus, Frankfurt | Serhat Karakayali, Leuphana Universität | Isabell Lorey, KHM, Köln | Nancy Luxon, LIAS Senior Fellow | Minkah Makalani, Baltimore | Roberto Nigro, Leuphana Universität | Jonas Oßwald, Wien | Morton Paul, Duisburg-Essen 

Beiträge von Aktivist*innen: Fabian Virchow, Düsseldorf | Julia Dück, Gewerkschaftssekretärin, Berlin

Mit dem Erstarken rechter politischer Bewegungen in Deutschland, Österreich, Ungarn, den Vereinigten Staaten und Frankreich (neben anderen Ländern) sieht sich die Welt mit der Frage konfrontiert, ob der Faschismus als politische Kraft wieder auflebt oder ob es sich um eine neue Form von Nationalismus, Autoritarismus und Faschismus handelt. Auf welche Ressourcen können wir zurückgreifen, um diesen neuen politischen Moment zu diagnostizieren und zu durchdenken? 

Der Workshop ist in zwei Teile gegliedert. Die Diskussion am Mittwoch, den 25. Juni, bringt politische Aktivisten zusammen, um ihre Diagnosen der aktuellen rechten politischen Trends zu hören und darüber zu debattieren, wie diese gegenwärtige Situation problematisiert werden kann. Am nächsten Tag werden acht Wissenschaftler:innen zusammenkommen, um dieselbe Problematik anhand der Gedanken von Michel Foucault, dem bedeutendsten Theoretiker der Macht im 20. Jahrhundert, zu diskutieren. Unsere aktuelle politische Situation stellt Foucaults Analyse der Macht vor eine doppelte Herausforderung: Sind seine Konzepte – wie Ausgrenzung und Einsperrung, Überwachung, Bevölkerung, Biomacht und Biopolitik, Gouvernementalität und die Ethik des Selbst – nützlich, um diese Entwicklung hin zu einem neuen Autoritarismus oder Faschismus zu begreifen? Helfen sie uns, die gegenwärtige gesellschaftliche Dynamik besser zu verstehen? Und umgekehrt: Führen uns aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zurück zu Foucault, um intellektuelle und politische Ressourcen zu finden, mit denen wir z.B. über Migration und transnationale Politik nachdenken können? 

Im Workshop werden Foucaults Texte neu als ein Beitrag zu einem nicht-faschistischen Leben gelesen. Die Beiträge untersuchen, ob seine Konzepte uns helfen können, die aktuelle Machtpolitik zu verstehen. Gleichzeitig wird auf aktuelle politische Erfahrungen zurückgegriffen, um ein nuancierteres Verständnis von Foucaults Werk zu entwickeln und herauszufinden, inwieweit es in diesem Sinne „gedehnt“ werden kann. Wir werden mit, gegen und über Foucault hinaus denken, indem wir seine Analysen als Versuche interpretieren, die umfassende zugrundeliegende autoritäre Logik moderner kapitalistischer Gesellschaften zu entschlüsseln – die verschlungenen Praktiken der Ausgrenzung, Gefangenschaft, Überwachung, Normalisierung und Pathologisierung, die Umsetzung biopolitischer Logiken zur Steuerung von Migration und die kolonialen Verstrickungen – sowie die Ressourcen für den Übergang zu einem nicht-faschistischen Leben. Welchen Wert haben jenseits ihrer rhetorischen Wirkung Begriffe wie Faschismus, Autoritarismus, Totalitarismus, Kontrollgesellschaft und Autokratie und wie konstruieren sie spezifische Konjunktionen der Macht?

Programm

25. Juni
Hörsaal 4

17 Uhr Empfang der Workshop-Teilnehmer

17.30-18 Uhr Einführung in den Workshop durch die Organisator*innen

18.15-19.45 Uhr Podiumsdiskussion: Herausforderung des Faschismus in der Praxis (in deutscher Sprache)

Fabian Virchow (Düsseldorf)

Julia Dück (Gewerkschaftssekretärin, Berlin)

 

 

26. Juni
Zentralgebäude, C40.704

9-9.30 Uhr Einführung in den Workshop

9.30-11 Uhr Sitzung 1: Faschismus mit Foucault neu denken

Roberto Nigro: »Foucault and Fascism: How to Fill an Empty Space?«

So wie der König in Las Meninas in den Tiefen des Spiegels erscheint – gerade weil er nicht zum Bild gehört –, scheint auch der Faschismus nicht in das Bild zu passen, das Foucaults Analysen rekonstruieren. Ich beginne meinen Vortrag mit einer Untersuchung der Gründe, warum jener Raum in Foucaults Werk leer zu bleiben scheint, und argumentiere dafür, dass eine solche scheinbare Abwesenheit fruchtbaren Boden dafür bereitet, seine analytischen Werkzeuge zur Untersuchung unserer Gegenwart fruchtbar zu machen – einer Gegenwart, die zunehmend von faschistischen Tendenzen geprägt ist. Mein Beitrag wird insbesondere die Verflechtungen von Faschismus, Rassismus und Nationalismus untersuchen und die These vertreten, dass im Zentrum jeder faschistischen Regung das Bestreben steht, die Arbeiterklasse – als politisches Subjekt – auf eine bloße Arbeitskraft zu reduzieren, die vollständig dem Kapital unterworfen und ihrer Handlungsmacht beraubt ist. Faschismus zielt in diesem Sinne auf die Transformation der politischen Zusammensetzung von Klasse in eine rein technische.
Foucaults Beitrag zu dieser zutiefst marxistischen Problemstellung gewinnt insbesondere dort Relevanz, wo er über das Plebejische, die Produktion von Marginalität und die historische Abspaltung des Proletariats von seinen marginalisierten Gegenübern reflektiert. In diesem Prozess übernahm die Arbeiterbewegung zunehmend ein Moralsystem, das in bürgerlichen Werten wurzelt und so die Unterscheidung der herrschenden Klasse zwischen Tugend und Laster akzeptiert. Diese moralische Spaltung, aus der eine „andere“ Arbeiterklasse hervorging, steht im Zentrum einer antinomischen Spannung zwischen Klasse und race – einer Dialektik, die Foucault in In Verteidigung der Gesellschaft erstmals zu skizzieren beginnt.

Roberto Nigro ist Professor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg, wo er den Lehrstuhl für Kontinentale Philosophie innehat. Er ist ehemaliger Programmdirektor am Collège International de Philosophie in Paris. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die marxistischen Traditionen des Operaismus und Neo-Operaismus, das Werk von Michel Foucault, das Nietzscheanische Erbe im modernen Denken und die Kritik des Heidegger'schen Einflusses in der zeitgenössischen Philosophie. Er hat zahlreiche Publikationen über Foucault, Althusser und das französische Denken nach 1960 veröffentlicht.

 

Alex Demirović: »Governmentality - a New Power After Fascism«

In den 1970er Jahren wurde Michel Foucault mit der Frage konfrontiert, wie sich seine Analyse von Macht in Bezug auf das Verständnis von Faschismus verhält. Während die neue Linke in der Zeit nach 1968 in Bezug auf die staatliche Repression oft von einem neuen Faschismus sprach. Foucault reagierte darauf sehr zurückhaltend. Insofern er sich mit Fragen der Gegenwart beschäftigte, bezweifelte Foucault die These einer Erneuerung des Faschismus. In Diskussionen behauptete er, dass gerade diejenigen, die so bereitwillig von Faschismus sprachen, selbst nicht daran glaubten. Foucault ging es um ein Verständnis des Neuen in Formen der Macht. Offensichtlich nahm Foucault dabei die deutsche Entwicklung und die Regierung unter Helmut Schmidt zum Anlass, eine neue Form der Macht zu thematisieren. Die These, Deutschland werde faschistisch, motivierte und rechtfertigte die terroristische Gewalt der Roten Armee Fraktion. Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jean Genet standen vor der Frage, ob und inwieweit sie sich mit den Praktiken der Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof solidarisch zeigen sollten. Foucault ging auf eine kritische Distanz. Das Verhältnis zwischen den genannten Autoren war nachhaltig gestört. Die Vorträge zur „Geburt der Biopolitik“ können als Foucaults Antwort verstanden werden. In ihnen beschäftigt er sich mit der Entstehung und Praxis neoliberaler Politiken und der Funktionen des Marktes bis in die 1970er Jahre.

Alex Demirović ist Apl. Prof. an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, sowie ständiger Fellow des Centre for Social Critique an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahr 2024 war er Senior Fellow am Leuphana Institute for Advanced Studies.

 

11.15-12.45 Uhr Sitzung 2: Antifaschistische Lebensweise

Jonas Oßwald: »Introduction to the non-fascist life: Foucault and the Problem of Power«

Foucault äußert sich nur bei wenigen Gelegenheiten explizit zum Faschismus. Darüber hinaus fügen sich die Kontexte in denen er dies tut, nicht zu einem kohärenten Ganzen: der Faschismus wird mal im Hinblick auf Staatsrassismus, mal vor dem Hintergrund von Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus, mal im Kontext seiner zeitgenössischen Ästhetisierung in den Blick genommen. Wenngleich man also kaum von einer kohärenten Theorie des Faschismus bei Foucault sprechen kann, so lässt sich seine Analytik der Macht insgesamt doch als eine Reaktion auf den historischen Faschismus und seiner Kontinuitäten verstehen. Das Problem des Faschismus stellt sich für Foucault dabei weder als ein singuläres politisches Problem, als Problem der Staatlichkeit oder der unbewussten Begehrensbesetzungen. Ganz grundsätzlich stellt sich der Faschismus bei Foucault als ein Problem der “übermäßigen Macht” im 20. Jahrhundert dar. Allerdings meint dies gerade nicht die Intensivierung von Macht in der Apotheose des Führers oder in einem zentralisierten militärischen Apparat, sondern, im Gegenteil, die Dispersion der Macht: Was den Faschismus begehrenswert macht, ist die Möglichkeit der Partizipation an Macht. Statt in einer Dialektik von Interesse und Begehren, wie bei Deleuze und Guattari, verortet Foucault die Wünschbarkeit des Faschismus so in einer politischen Organisation von Macht und Gewalt, die einen Teil der Macht auf einen Teil der Bevölkerung überträgt. Insofern diese faschistische Delegation von
Macht ("Mikrofaschismus") der Dispersion von Macht in modernen Gesellschaften als solchen entspricht, muss Faschismus als ein andauerndes Problem moderner Machtverhältnisse und weniger als historisches Phänomen betrachtet werden. Bei Foucault findet sich, so ließe sich sagen, keine Theorie des Faschismus, aber eine anti-faschistische Theorie moderner Machtverhältnisse.

Jonas Oßwald ist ein in Wien lebender Philosoph mit Forschungsschwerpunkten in der französischen Gegenwartsphilosophie, in Machttheorien, (Auto)Theorien der Klasse und in der Geschichte des Materialismus. Er war DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Praedoc-Assistent am Institut für Philosophie der Universität Wien, wo er derzeit als Lehrbeauftragter tätig ist. In seiner Dissertation rekonstruierte er das philosophische Verhältnis zwischen Gilles Deleuze und Michel Foucault. Im Rahmen dieses Projekts arbeitete er auch mit dem Foucault-Archiv der Bibliothèque Nationale de France in Paris. Er ist Autor des Buches Deleuze und Foucault. Ein Dialog (Frankfurt a. M./New York: Campus, 2024). Weitere Publikationen und Vorträge widmen sich Themen der Sozial- und politischen Theorie, (Auto)Theorien der Klasse, Care-Arbeit und Machttheorien. Derzeit bereitet er ein Postdoc-Projekt zu Marx und Foucault vor.

 

Morton Paul: »The Fascist Inside You: Foucault as a reader of Deleuze and Guattari«

1976/77 schrieb Foucault ein euphorisches Vorwort zur englischen Übersetzung von Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus. Darin beschrieb er das Buch als eine Einführung in eine nicht-faschistische Lebensweise. Viele Sätze aus diesem kurzen Text wurden später vielfach im anglophonen akademischen und aktivistischen Diskurs zitiert und prägten die Rezeption von Deleuze’ und Guattaris Werk maßgeblich. Zur selben Zeit jedoch begannen ernsthafte politische und begriffliche Differenzen in Frankreich die Freundschaft zwischen Foucault und Deleuze zu belasten – gerade in dem Moment, als Foucault eine scharfe Kritik am freudomarxistischen Verständnis von Begehren und Revolution entwickelte und stattdessen das neue Konzept der Biopolitik einführte. Diese Entwicklung führte schließlich zu einem vollständigen Abbruch der Kommunikation zwischen den beiden Philosophen. Der Vortrag nimmt dieses merkwürdige Ereignis zum Ausgangspunkt, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Faschismuskonzeptionen der drei Denker sowie den rhetorischen Einsatz des Begriffs innerhalb ihrer jeweiligen theoretischen und politischen Projekte neu zu beleuchten.

Morten Paul ist Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Er forscht zur intellektuellen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einem derzeitigen Schwerpunkt auf Theorien des Faschismus.

 

14-15.30 Uhr Sitzung 3: Praktiken des Widerstands

Isabell Lorey: »Deviantisation and Denunciation: Foucault's Micropolitics of Power«

Für Foucault ist Faschismus eine der “pathologischen Formen” der Macht, einzigartig, aber nicht originell. Kapitalistische Normalisierungsgesellschaften produzieren Deviantisierung, bestrafen und schließen den Wahnsinn und die Monster weg. Im Faschismus wird Foucault zufolge der “Wahnsinn” biopolitischer Reinheit und die grausame Lust am Leiden-machen und -lassen dominant. Alltagsfaschisierung lässt sich allerdings nicht mit einer Analyse souveräner Macht begreifen, deshalb setzt Foucault eine “neue Ökonomie der Machtbeziehungen” dagegen, eine Analyse von Alltagsdynamiken und Subjektivierungsweisen, die die Lust an Denunziation und Vernichtung als mikropolitischen Seismographen von Alltagsfaschisierungen fassen will. Es ist eine Analyse der Macht, die von den Widerständen, den identitätskritischen “transversalen” Kämpfen ausgeht.

Isabell Lorey ist Politische Theoretikerin und hat die Professur für Queer Studies in der Wissenschaft und den Künsten an der Kunsthochschule für Medien Köln inne. Sie arbeitet für das eipcp (european institute for progressive cultural policies) und ist Mitherausgeberin der multilingualen Publikationsplattformtransversal texts. Ihre Bücher wurden vielfach übersetzt. Zuletzt auf Deutsch erschienen ist Demokratie im Präsens.Eine Theorie der politischen Gegenwart, Suhrkamp 2020.

 

Nancy Luxon: »Desire, Bodies, and the Need for Shelter«

Faschismus wird oft mit dem Zusammenbruch bestehender politischer Formen und Institutionen in Verbindung gebracht, deren Versuch der Kompensation zu Kulten der Einheit und Energie führt. Jedoch ist die Frage, wie Identität und Gleichheit als Teil eines faschistischen Programms rekonfiguriert werden, ein notwendiger erster Schritt, um den Faschismus zu verstehen und zu unterminieren. Diejenigen, die den faschistischen Tendenzen im Europa des 20. Jahrhunderts entgegentreten wollten – unter ihnen Francois Tosquelles und Jean Oury – versuchten häufig, die Schnittstelle zwischen Begehren und materiellem Kontext neu zu überdenken. Es ist genau diese Schnittstelle, an der sich in den Schriften von Michel Foucault und Frantz Fanon in den 1950er Jahren unerwartet eine Verbindung auftut. Zu dieser Zeit wenden sich sowohl Foucault als auch Fanon der Phänomenologie, Psychologie und der Sprache der Entfremdung zu, um die gelebte Erfahrung der Entwurzelung in einer als „fremd, eisig und tot“ beschriebenen Welt zu durchdenken. Der eine wendet sich der psychiatrischen Anstalt zu, um ausschließende Institutionen zu kritisieren; der andere wendet sich derselben zu, um eine radikale Möglichkeit des Andersseins zu retten. Indem ich die beiden Denker in die Gegenwart weiterlese, argumentiere ich, dass ihre Gegenüberstellung die Ambivalenzen sichtbar macht, die jenen Milieus insbesondere in Hinblick auf Fragen des Begehrens, des embodiment, der Anonymität und des Bedürfnisses nach Schutz.

Nancy Luxon ist Professorin für Politikwissenschaft an der University of Minnesota-Twin Cities. Zusätzlich zu ihrem Buch Crisis of Authority: Trust and Truth-telling in Freud and
Foucault (2013) hat sie die englische Übersetzung von Disorderly Families (2018) zusammen mit einem wissenschaftlichen Begleitband, Archives of Infamy (2019), sowie die englische Ausgabe von Discourse and Truth (2019) herausgegeben. Derzeit arbeitet sie an einer Monografie über die Überschneidungen von Psychologie und Politik in Frankreich, Nordafrika und den Vereinigten Staaten.

 

16-17.30 Uhr Sitzung 4: Migration und transnationale Politik

Minkah Makalani: »‘A Bit Cracked‘: Prophetic Utterance and Unspeakable Coloniality in Ousmane Sembène’s Camp de Thiaroye«

In seinem Film Camp de Thiaroye (1988) erzählt der senegalesische Filmemacher Ousmane Sembène von dem Massaker an ausgemusterten westafrikanischen Soldaten im Dezember 1944, die in einem Lager in Thiaroye, Senegal, eine Meuterei ausgelöst hatten, um gegen ihre schlechte Behandlung und ungleiche Bezahlung durch französische Kolonialbeamte zu protestieren. In diesem Beitrag vertrete ich die These, dass Sembènes Camp de Thiaroye die Möglichkeit zur Formulierung einer undenkbaren Kritik am westlichen politischen Denken zu entwickeln, die auf der konzeptionellen und historiographischen Distanz zwischen modernen westlichen Staaten und politischen Ordnungen aus der Kolonialzeit beharrt. In seinen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft von 1976 entwickelt Michel Foucault eine überzeugende Analyse des europäischen Rassismus innerhalb Europas. Er argumentiert, dass dieser zunächst in den Kolonien im Kontext kolonialer Genozide entstand und – in Anlehnung an Hannah Arendts These in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – eine Art Bumerangeffekt hervorrief, der die juridisch-politischen Strukturen des Westens prägte. Wie Arendt denkt auch Foucault jedoch nicht darüber nach, wie Rassismus und Biopolitik sich als koloniale Praktiken in den Kolonien selbst konstituieren, obwohl das paradigmatische Beispiel für Foucault, Arendt und später Giorgio Agamben das nationalsozialistische Konzentrationslager bleibt. In Césaires Denken jedoch finden wir eine lange Tradition, die Kolonialität als Ausdruck einer Rassenpolitik begreift, die der westlichen Demokratie zugrunde liegt. In diesem Sinne ist das Lager weder – mit Arendt gesprochen – eine Abweichung von der Politik, noch – mit Agamben – ein erreichter Endpunkt. Indem ich Foucault durch Césaire und andere karibische politische Denker weiterdenke, argumentiere ich, dass in der Figur Pays das Insistieren auf dem Lager als zentralem Element moderner demokratischer Praxis in Form einer bewussten Weigerung, die Kolonie als etwas zu begreifen, das lediglich zum Westen zurückkehrt, sichtbar wird. Pays’ Unfähigkeit zu sprechen verweist dabei weniger auf eine mangelnde Fähigkeit zur politischen Artikulation, als vielmehr auf die Unmöglichkeit, gehört zu werden – insbesondere angesichts der unschätzbaren Konsequenzen, die dies für das westliche politische Denken bedeuten könnte.

Minkah Makalani ist Direktor des Center for Africana Studies und außerordentlicher Professor für Geschichte an der Johns Hopkins University. Er ist ein intellektueller Historiker, der sich mit radikaler, Schwarzer Tradition, dem Schwarzen, politischen Denken, der Black Power und den sozialen Bewegungen in der Karibik und den USA befasst, wie in seinem ersten Buch über die ersten schwarzen Mitglieder der organisierten marxistischen Formationen, In the Cause of Freedom: Radical Black Internationalism from Harlem to London, 1917-1939. Makalanis Artikel sind in wissenschaftlichen Publikationen wie History of the Present, Political Theory, Small Axe und South Atlantic Quarterly sowie unter anderem in den Publikationen Marxism, Colonialism und Cricket: C. L. R. James' Beyond a Boundary (Duke, 2018) und Race Capital? Harlem as Setting and Symbol (Columbia, 2018) erschienen. Er hat auch für populäre Publikationen wie The New Yorker, New York Times, Slate und Ebony geschrieben.

 

Serhat Karakayalı: »Policing Migration, Disciplining Society: Racial Governmentality and the Fascist Drift«

Foucault zufolge bezieht sich der Begriff Biopolitik auf Techniken und Rationalitäten der Bevölkerungssteuerung durch das Management des Lebens an sich – Gesundheit, Geburt, Tod und Mobilität. Die Steuerung der Migration offenbart jedoch die Grenzen und Widersprüche dieses Paradigmas. Während die Bevölkerung Gegenstand der biopolitischen Versorgung und Optimierung ist, kann die Figur der Migrant*in, sowohl in epidemiologischer als auch in symbolischer Hinsicht, auch zu einer Bedrohung für die Bevölkerung werden. An der Grenze bricht die Logik der Biopolitik zusammen und weicht dem, was einige Wissenschaftler als Thanatopolitik bezeichnen: eine Politik des Todes, des Verlassens oder des selektiven Ausgesetztseins gegenüber Risiken und Gewalt.
In diesem Sinne fungiert die Migrationssteuerung als Ausnahme der biopolitischen Logik, die die restliche Nationalbevölkerung regiert. Nationalität und race operieren dabei nicht nur als kulturelle oder rechtliche Kategorien, sondern als Schwellenkonzepte, die über die Aufnahme in oder den Ausschluss von der biopolitischen Ordnung entscheiden. Die Grenze wird zum Ort, an dem die liberale Gesetzlichkeit sich selbst außer Kraft setzt und Rechte zugunsten des Schutzes eines biologisch und kulturell imaginierten „Wir“ verweigert werden. Der Autoritarismus entsteht also nicht außerhalb der liberal-demokratischen Institutionen, sondern vielmehr durch deren innere Widersprüche, die sich gerade am Beispiel der Migrationssteuerung manifestieren.

Serhat Karakayalı ist Professor für Migration und Mobilitätsstudien an der Leuphana Universität Lüneburg. Er hat auf der Grundlage mehrerer groß angelegter Forschungsprojekte zahlreiche Publikationen zum Thema Migration veröffentlicht. Am Leuphana Institute for Advanced Studies beschäftigt er sich derzeit mit der zunehmenden Fragmentierung des Rassismusbegriffs durch Bindestrichkonstruktionen wie „anti-muslimisch“, „anti-black“ oder „anti-Asian“ in Deutschland und den USA.

 

17.30-18 Uhr Schlussbemerkungen 

Rückfragen und Kontakt

  • Dr. Christine Kramer