„Lange Zeit galt Indigo als die koloniale Farbe schlechthin“, erklärt Prof. Dr. Timon Beyes. ©Wikimedia
„Lange Zeit galt Indigo als die koloniale Farbe schlechthin“, sagt Prof. Dr. Timon Beyes. (Bild: Wikimedia)

Es ist um 1800 herum und Johann Wolfgang von Goethe kocht Schokolade. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits angesehener Autor, „Wilhelm Meister“ und „Iphigenie auf Tauris“ sind schon erschienen, doch Goethe hält die Erforschung von Farben für wichtiger als seine Dramen. Gegen Newton, dessen Reduzierung von Farbe auf physikalische Gesetze er ablehnt, ringt Goethe um eine ganzheitliche, anschauliche und vom Menschen ausgehende Farblehre. Am Kochen von Schokolade, unter anderem, beobachtet Goethe die Fluidität, Launenhaftigkeit und Unkontrollierbarkeit von Farben.

Farbe ist nicht nur etwas, das Gegenstände neben anderen Attributen auch noch haben, und am Beispiel Goethes zeigt Timon Beyes, wie es schon früh eine Ahnung davon gab. Sie sind weder nur Schmuck- oder Beiwerk noch auf Lichtbrechung oder -spiegelung zu reduzieren. Farben prägen sinnliche und kollektive Erfahrung; sie haben eine strukturgebende, organisierende Fähigkeit und behalten doch ein unkontrollierbares Moment. „Es geht mir mehr darum, was Farbe macht als was sie ist“, erklärt Timon Beyes. Er führt dies in seiner Arbeit ausgehend von zehn historischen Beispielen aus. So nutzte der schottische Industrielle Robert Owen in seiner Fabrik bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Farben, um seine Arbeiter*innen zu motivieren und zu steuern. Beyes zieht von hier eine sehr plausible Linie zur Farbgestaltung in heutigen „creative workspaces“.

Am Beispiel Indigo zeigt Beyes wie Farbproduktion und -symbolik ineinandergreifen. Indigo steht für Magie und Exotik (macht als Wandfarbe Räume geheimnisvoll, suggeriert Zauberkraft bei Ringen und Schmuckketten). „Lange Zeit galt Indigo als die koloniale Farbe schlechthin“, sagt Beyes. Hergestellt unter oftmals schrecklichen Produktionsbedingungen, ist die Geschichte von Indigo tief eingebunden in Ausbeutungs- und Herrschaftssysteme, ihre Produktions- und Managementtechniken.

Das ungemein materialreiche Buch führt, neben IG Farben und der zweiten industriellen Revolution, dem Rot politischer Revolte, dem colorism von Diskriminierung und der Farbkraft abstrakter Kunst, auch viele weitere überraschende Fälle an, in denen Farbe eine Schlüsselrolle spielte, wie Raketentests in der Lüneburger Heide oder das Grau, in dem Adorno vermeintlich seinen Hörsaal streichen ließ. Die Kulturwissenschaftlerin Esther Leslie von der University of London nennt das Buch „inventive, brilliantly written and very readable“.

Dabei ist es keine der vielen Kulturgeschichten einer bestimmten Farbe, wie es sie etwa für Rot, Blau oder Weiß gibt. Es wirkt beim Lesen eher wie eine Einladung, chromatisch achtsam für die gesellschaftliche Wirkung von Farben zu sein und nach der Lektüre fällt es einem auch tatsächlich verstärkt auf; etwa wie Grün auf Schildern, Geräten und Website-Buttons zum Näherkommen auffordert. „Farbe ist eine eminente Kraft sozialer Organisation“, so Beyes, „oder, prozesshaft ausgedrückt: Farbe organisiert, und Farbe ist organisiert. Farbe organisiert das Soziale durch ihre Fähigkeit, zu vermitteln, zu formen und zu verändern, was der Sinneswahrnehmung gegeben ist, wie Körper spüren, fühlen und denken, was sie tun und lassen.“