Politische Soziologie

Die Arbeitsgruppe Politische Soziologie untersucht die vielfältigen Verflechtungen und Wechselbeziehungen zwischen Politik und Gesellschaft. Dabei stehen aktuell insbesondere die Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen auf Regime des Regierens und die Beziehungen zwischen Bürger*Innen und staatlichen Stellen im Vordergrund. Ein besonderes Anliegen der Arbeitsgruppe ist die Überwindung der traditionellen Arbeitsteilung zwischen verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen entlang nationaler Demarkationslinien. So konzentrieren die Soziologie und die Politikwissenschaften ihre Forschung traditionell auf Fragen und Themen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen, währen die Anthropologie und die internationalen Beziehungen sich traditionell mit „Außenpolitik“ und „fremden Kulturen“ außerhalb des Nationalstaates beschäftigen. Durch die Untersuchung von Beziehungen, Praktiken, Verbindungen und Phänomenen, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten und transversal zum Lokalen, Nationalen und Globalen wirken, versucht die Arbeitsgruppe, diesen tief verwurzelten methodologischen Nationalismus der Sozialwissenschaften zu überwinden. In konzeptioneller Hinsicht versucht die Arbeitsgruppe daher, Erkenntnisse, Ansätze und Methoden dieser Disziplinen in einen Dialog zu bringen und wann immer möglich zu kombinieren und weiter zu denken, um zu Entwicklung einer internationalen politischen Soziologie beizutragen.

Thematisch ist die Forschung und Lehre der Arbeitsgruppe an den Schnittstellen der Grenz-, Migrations- und Staatsbürgerschaftsforschung sowie der kritischen Sicherheits- und Datenforschung und der Wissenschafts- und Technikforschung (Science and Technology Studies) angesiedelt. Gegenwärtig beschäftigt sich die Arbeitsgruppe vor allem mit den folgenden zwei Forschungslinien:

(1) Kulturen und Politiken des Nichtwissens
Dieser Forschungszweig verbindet materiell-semiotische Ansätze aus dem STS mit Erkenntnissen und Konzepten aus dem Bereich der Forschung zum Nichtwissen (ignorance studies), um Kulturen und Politiken des Nichtwissens zu untersuchen, aufzudecken und zu kritisieren. Sie geht davon aus, dass (1) die Beziehung zwischen Wissen und Nichtwissen kein Nullsummenspiel ist; (2) dass es verschiedene Arten von Nichtwissen gibt, die von Geheimhaltung bis zur aktiven Produktion von Unwissenheit, Zweifeln und Ungewissheit sowie stillschweigenden sozialen und kulturellen Tabus reichen; und (3) dass Nichtwissen - ebenso wie Wissen - sowohl produktiv als auch produziert ist. Ausgehend von diesen Prämissen beschäftigt sich dieser Forschungsstrang mit folgenden Forschungsfragen: Welche Formen und Kulturen des Nichtwissens gibt es in bestimmten Berufen, epistemischen Gemeinschaften, politischen Institutionen usw.? Wie prägt die Zirkulation verschiedener Arten von Nichtwissen unser Verständnis von bestimmten Interessengegenständen und politischen Themen wie Migration oder Identität? Wie wirken sich bestimmte Formen und Modi des Nichtwissens auf zeitgenössische Regierungssysteme und -praktiken aus und prägen und rekonfigurieren diese?

(2) Staatsbürgerschaft und Souveränität im digitalen Zeitalter
Ausgehend von der Beobachtung, dass Digitalisierungsprozesse die materiellen und sozio-technischen Bedingungen für die Ausübung von Bürgerschaft und staatlicher Souveränität verändern, untersucht diese Forschungsachse, wie die praktische Bedeutung, die gelebte Erfahrung und das konzeptionelle Verständnis von Bürgerschaft und Souveränität im digitalen Zeitalter neu gestaltet werden. Einen wichtigen analytischen Ausgangspunkt für die Untersuchung dieser Veränderungen besteht in der Digitalisierung von staatlichen Identifikationsverfahren, die im Rahmen des ERC-finanzierten Projekts „DigID – Doing Digital Identities“ untersucht werden. Die zentrale Frage des Projekts ist, wie sich die Hinwendung zu digitalen Identifikationsverfahren auf die Beziehungen und Transaktionen zwischen Bürger*Innen und staatlichen Behörden auswirkt (weitere Details siehe unten). Ausgehend von den Ergebnissen dieser Studie wird sich diese Forschungsachse auch mit der folgenden, grundlegenderen Frage beschäftigen: Wie müssen wir zentrale Konzepte der sozialen und politischen Theorie wie Staatsbürgerschaft, Souveränität oder Territorium - die während der Herausbildung des modernen Nationalstaates im 19. Jahrhundert geprägt wurden - im digitalen Zeitalter anpassen und neu denken?

Projekte

DigID – Doing Digital Identities

DigID ist ein fünfjähriges, kollaboratives Forschungsprojekt, das vom European Research Council (ERC) finanziert wird. Das Projekt befasst sich mit der Hinwendung zu digitalen Identifizierungsverfahren, die von staatlichen Institutionen, privaten Einrichtungen und internationalen Organisationen in vielen Ländern auf der ganzen Welt zunehmend implementiert und eingesetzt werden. Dieser Wandel stellt die bedeutendste Veränderung in der staatlichen Identifizierungspraxis seit der Konsolidierung des internationalen Passwesens im 19. Jahrhundert dar. Digitale Identifikationstechnologien wie elektronische ID-Karten, die über PINs Zugang zu staatlichen Dienstleistungen bieten, biometrische Datenbanken und Blockchain-gesicherte digitale Identitätsbörsen (identity wallets) ergänzen oder ersetzen zunehmend traditionelle, papierbasierte Identifikationsmittel wie Geburtsurkunden, Personalausweise oder Reisepässe.

Bisher wurden die Auswirkungen digitaler Identifikationsverfahren jedoch hauptsächlich in Bezug auf Kriminelle und migrantische „Andere“ untersucht, nicht aber auf die normalisierte Mehrheit der Bürger*Innen. Dieses Projekt nutzt diesen Moment des Wandels, um zu untersuchen, wie die materiellen Bedingungen von Staatsbürgerschaft - d.h. die Technologien und Infrastrukturen, die verwendet werden, um Staatsbürgerschaft als eine politische Subjektivität und formale Beziehung zum Staat zu erschaffen - im digitalen Zeitalter neugestaltet werden und wie sich diese Veränderungen auf die gelebte Erfahrung und die praktischen Bedingungen von Bürgerschaft auswirken. Die zentrale Forschungsfrage des Projekts lautet deshalb: Wie rekonfiguriert die Digitalisierung von staatlichen Identifikationsverfahren die Beziehungen, Transaktionen und Machtverhältnisse zwischen Bürger*Innen und staatlichen Institutionen?

Das Projekt untersucht den Wandel der Beziehungen zwischen Bürger und Staat durch digitale ID-Geräte in drei Kontexten: (1) Geburtenregistrierung, (2) Transaktionen zwischen Bürger*Innen und staatlichen Stellen im Alltag sowie (3) Grenzkontrollen. In konzeptioneller Hinsicht stützt sich das Projekt auf Ansätze und Theorien von kritischer Forschung zu Staatsbürgerschaft und Prozessen der Datafizierung sowie der Wissenschaft und Technologie (STS). Ausgehend von empirischer Forschung soll an der Schnittstellte dieser drei Forschungsfelder eine Konzeption von materieller Staatsbürgerschaft als performativ und soziotechnisch entwickelt werden, um eine Forschungsagenda voranzutreiben, die sich auf die praktischen, epistemischen, politischen und ethischen Implikationen der Digitalisierung von staatlichen Identifizierungsverfahren fokussiert. In methodischer Hinsicht kombiniert das Projekt ethnographische Forschung mit Textanalysen und dem sogenannten counter-mapping aus der kritischen Geografie. Ausgehend von diesem konzeptionellen und methodischen Rahmen untersucht das Projekt die Entwicklung, Implementierung und Nutzung von digitalen Identifikationsverfahren in einer internationalen und fünf nationalen Fallstudien (siehe die Kurzbeschreibungen unten). Auf diese Weise generiert das DigID-Projekt neue Erkenntnisse hinsichtlich der häufig vernachlässigten, materiellen Dimension von Staatsbürgerschaft und zeigt, wie digitale Identifikationsverfahren die gelebte Erfahrung von Staatsbürgerschaft – verstanden als rechtlichem Status, als einer Form der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft und als einer demokratischen Praxis zur Durchsetzung sozialer und politischer Rechte – neu gestalten.

Das Projektteam, bestehend aus fünf Forscher*Innen (neben dem Principal Investigator, 2 Post-Docs und 2 Doktoranden), wird sich mit diesen Fragen durch kollaborative Forschung an mehreren Standorten in fünf nationalen und einer internationalen Fallstudie beschäftigen. Jede der fünf Länderfallstudien ist einzigartig, steht aber zugleich repräsentativ für größere Entwicklungen, Veränderungen und Transformationsprozesse hinsichtlich der Digitalisierung statistischer Identifikationsverfahren.

Estland: Das baltische Land wird oft als Pionier in den Bereichen digitale Identität und E-Government genannt. Heute nutzen zwei Drittel der estnischen Bürger regelmäßig ihre eID-Karten für den Zugang zu mehr als 2000 e-Government-Diensten. Die estnische Regierung initiiert laufend neue Projekte, um die eID-Infrastruktur des Landes zu verfeinern und weiterzuentwickeln, damit Estland seinen Status als unangefochtener Vorreiter im Bereich digitaler Identifikationsverfahren behält. Estlands einzigartiges e-Residency-Programm macht sogar zahlreiche staatliche Dienstleistungen für Nicht-Staatsbürger zugänglich. Das Nordische Institut für Interoperabilitätslösungen (NIIS) entwickelt Estlands „X-road“-System zu einer grenzüberschreitenden e-Government-Infrastruktur mit Finnland und anderen EU-Mitgliedstaaten, die sich zu einer Blaupause für ein europäisches eID-Ökosystem entwickeln könnte.

Deutschland: Als „wirtschaftliches Powerhouse Europas“ propagiert die Bundesrepublik Deutschland einheitliche EU-Standards für digitale Identitäten, um den „digitalen Binnenmarkt“ zu realisieren. Im Inland versucht die Regierung - teilweise gegen den Widerstand zivilgesellschaftlicher Akteure - die Nutzung von E-Government-Diensten zu erhöhen, etwa durch eine App, die Funktionen des elektronischen Personalausweises auf mobilen Geräten verfügbar macht. In ihrem Projekt IDunion entwickelt die Bundesdruckerei in Zusammenarbeit mit 12 privaten Akteuren Blockchain-gesichert einen Prototyp für ein sogenanntes „digital Identity Wallet“. Die Bundespolizei wiederum wirbt mit ihrem Projekt EasyPass für eine europäische Lösung für automatisierte Grenzkontrollen, während der Bundesbeauftragte für Informationstechnik ein Programm leitet, das auf die Entwicklung eines „europäischen Ökosystems für digitale Identitäten“ abzielt.

Indonesien: In Asien ist Indonesien ein Vorreiter bei der Einführung digitaler ID-Geräte, die die Transaktionen zwischen Bürgern und Staat in einem geografisch komplexen Umfeld verbessern. So hat die indonesische Behörde für Bevölkerung und Zivilregistrierung bereits 2011 damit begonnen, biometrische eID-Karten mit Chip an die Bürger auszugeben. Bis heute bemüht sie sich um eine vollständige Abdeckung ihres eID-Kartensystems, das auch eine Schlüsselrolle bei den ehrgeizigen Plänen zur Harmonisierung des fragmentierten indonesischen ID-Programms spielt. In der Zwischenzeit führt das National Team for Accelerated Poverty Reduction (TNP2K) Pilotprojekte durch, um den Zugang zu lebenswichtigen Sozialleistungen in abgelegenen Gebieten durch digitale ID-Geräte wie Gesichtserkennung und digitale ID-Geldbörsen zu verbessern.

Malawi: Unter der Leitung des UNDP und mit Unterstützung der ID4D-Initiative der Weltbank gelang es der malawischen Regierung 2017, 9 Millionen Menschen in einer Rekordzeit von 180 Tagen biometrisch zu registrieren und im Jahr darauf die gleiche Anzahl nationaler Ausweise auszustellen. Das ehrgeizige digitale Registrierungs- und Identifizierungssystem des Landes, das weithin als Erfolgsgeschichte gefeiert wird, wird vom neu gegründeten National Registration Bureau (NRB) geleitet. Seit seinem Bestehen führen eine Reihe von privaten Akteuren und Entwicklungsorganisationen wie Banken, die Nichtregierungsorganisation GiveDirectly oder UNICEF, Programme durch, die auf dem neuen zentralisierten Registrierungssystem aufbauen. Das malawische Innenministerium wiederum versucht, die neuen biometrischen ID-Karten für den Aufbau von digitalen Grenzkontrollen nutzbar zu machen.

Sierra Leone: Das westafrikanische Land ist ein wichtiges Zielland der ID4D-Initiative der Weltbank. Die National Civil Registration Authority (NCRA) des Landes hat ein nationales eID-Kartenprogramm eingeführt, das multimodale biometrische Daten mit einer individuell zugeordneten, nationalen Identitätsnummer (NIN) verknüpft. Das System bildet die Grundlage von Plänen der Direktion für Wissenschaft, Technologie und Innovation (DISTI), Datensätze aus verschiedenen staatlichen Informationssystemen, einschließlich Wahl-, Steuer- und Sozialdienstregistern, zu integrieren. Für das eID-Card-Programms strebt die Regierung bis 2025 eine Registrierungsrate von 90 % der Bevölkerung an. Das eID-Card-Programm soll den Bürgern auch Freizügigkeit und Zugang zu staatlichen Dienstleistungen in den 15 Mitgliedsstaaten der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) ermöglichen. Darüber hinaus versucht das NCRA, in Zusammenarbeit mit UNICEF und der Nichtregierungsorganisation Plan International, die Registrierungsrate für Geburten in abgelegenen ländlichen Gebieten mit Hilfe digitaler mobiler Registrierungsgeräte zu erhöhen.

Team

  • Prof. Dr. Stephan Scheel
  • Dr. Laura Lambert
  • Dr. Sindhunata Hargyono
  • Salah El-Kahil
  • Oisin O’Brien

Betreuung von Abschlussarbeiten (BA und MA)

In der Forschungsgruppe Politische Soziologie betreuen wir gerne Abschlussarbeiten, die sich mit Problemen und Fragestellungen im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft beschäftigen. Insbesondere betreuen wir gerne Abschlussarbeiten zu folgenden Themen:

  • Flucht, Migration und Staatsbürgerschaft

  • Grenzsoziologie und Rassismusforschung

  • Wissenschafts- und Technikforschung (STS)

  • Kritische Sicherheitsforschung

  • Produktion von Nicht-Wissen (Ignoranzstudien)

  • Staatliche Produktion von Wissen (insbesondere Quantifizierung und Kategorisierung)

  • Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen auf Regime des Regierens

  • Vorbereitung auf das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit

Die folgenden Fragen sollen Ihnen helfen, sich auf Ihr erstes Beratungsgespräch zu Ihrer Dissertation vorzubereiten. Bitte versuchen Sie, die folgenden Fragen so gut wie möglich zu beantworten. Schicken Sie dann Ihre Antworten in einem 1-seitigen Dokument im Word/Open-Office-Format per E-Mail bis spätestens 24 Stunden vor der ersten Sprechstunde an Prof. Scheel. Ihre Antworten dienen als Diskussionsgrundlage für die Sprechstunde und damit als Einstieg in die Betreuung Ihrer Arbeit. Das heißt, Sie müssen die Fragen nicht abschließend beantworten. Aus den Antworten sollte jedoch deutlich werden, dass Sie sich eigenständig Gedanken über das Thema, die Fragestellung und das Problem sowie das erkenntnistheoretische Interesse Ihrer Arbeit gemacht haben.

Vielen Dank im Voraus und viel Erfolg bei den ersten Schritten zu Ihrer Abschlussarbeit!

(1) Was ist das Thema Ihrer Arbeit?
(Sie können es auch als Arbeitstitel formulieren - 1 Zeile/ 1 Satz)

(2) Welches Problem liegt Ihrer Arbeit zugrunde?
(Was finden Sie an dem von Ihnen gewählten Thema erklärungsbedürftig? Was ist sozusagen das Geheimnis, dem Sie in Ihrer Arbeit auf den Grund gehen wollen? - 2 bis 3 Sätze)

(3) Wie lautet die genaue Forschungsfrage der Arbeit? (1 Satz)
(Versuchen Sie, diese so präzise wie möglich zu formulieren. Auch ein erster Versuch ist in Ordnung!)

(4) Was ist die (persönliche) Motivation für die Arbeit? Warum ist die von Ihnen gewählte Fragestellung von soziologischem Interesse oder gesellschaftspolitischer Relevanz? (2 bis 3 Sätze)

(5) Welche theoretischen Ansätze wollen Sie verwenden und warum?
(2 bis 3 Sätze oder ggf. bereits konkrete Literaturhinweise)

(6) Wie wollen Sie methodisch vorgehen?
(z.B. reine Theoriearbeit oder theoriegeleitete Hypothesengenerierung und Konfrontation mit empirischen Befunden oder eigene Datenerhebung [qualitativ/quantitativ] usw.) (2 bis 3 Sätze)