„In Zeiten wie den jetzigen werden Sexualität und Geschlecht zu Schauplätzen, an denen sich Konflikte darüber abspielen, wie die Gesellschaft neu organisiert werden könnte.“ ©Leuphana/Brinkhoff/Mögenburg
„In Zeiten wie den jetzigen werden Sexualität und Geschlecht zu Schauplätzen, an denen sich Konflikte darüber abspielen, wie die Gesellschaft neu organisiert werden könnte.“
Warum jetzt das Buch zu Queer Studies Grundlagentexten?
Es gab etliche Gründe für das Buch. Einer war schlichtweg, dass Fragen zu Geschlecht und Sexualität in den letzten Jahren tiefgreifend politisiert und zu einem entscheidenden Schauplatz gesellschaftlicher, politischer und kultureller Konflikte geworden sind. Die Queer Studies können – das gilt auch für die Texte in dem Band – eine Reihe theoretischer und analytischer Hilfsmittel bereitstellen, um den gegenwärtigen Moment zu verstehen, wie es zu ihm kam und wie auf ihn reagiert werden kann.
Die Queer Studies sind ja mittlerweile im akademischen Mainstream angekommen.
Ich bin mir nicht sicher, ob die anglophonen Queer Studies wirklich schon Teil des akademischen Mainstreams in Deutschland sind. Und zwar aus dem einfachen Grund – wie einer der ersten Rezensionen schon angemerkt hat –, weil die meisten der für das Feld wegweisenden Arbeiten nie übersetzt wurden. Auch wenn viele Menschen englisch lesen, bleibt Sprache dennoch eine Rezeptionsbarriere. Der Umstand, dass nur wenige Texte und Autor*innen übersetzt wurden, hat zu einer verzerrten Wahrnehmung davon geführt, was die anglophonen Queer Studies ausmacht, was die theoretischen Traditionen sind, in denen sie sich verorten sowie den Fragen und Problemen, mit denen sie sich auseinandersetzen. Wir wollten etwas von dieser Bandbreite und Heterogenität aufzeigen.
Was macht die Queer Studies aus?
Ich verstehe die Queer Studies weniger als akademische Disziplin, sondern vielmehr als eine Herangehensweise, die sich in und quer durch viele Forschungsfelder zeigt: Literatur, Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaften, Philosophie und visuelle Kulturen. Queere Ansätze beschäftigen sich mit der Art und Weise, wie Literatur, Geschichte, Gesellschaft, Politik usw. durch umkämpfte Normen rundum Geschlecht und Sexualität geprägt wurden und werden. Aber die entwickelten Theorien und Methoden werden ebenfalls von Wissenschaftler*innen aus den gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften aufgegriffen – so auch von vielen, deren Arbeiten nicht direkt Fragen von Geschlecht und Sexualität behandeln. Die Texte in dem Buch bieten queere Denkweisen zu politischer Ökonomie, Subjektivität, Migration, Epistemologie, Rassismus, Kunst, sozialen Bewegungen, Film und Behinderung an. Sie richten sich nicht ausschließlich an diejenigen, die in den Gender Studies oder zu Fragen der Sexualität forschen.
Lassen sich überhaupt universale Erkenntnisse ableiten, wenn doch das untersuchte Objekt eine kleine, abgeschlossene Gruppe ist?
In den 1980er Jahren waren die Gay and Lesbian Studies in erster Linie auf die Leben einer relativ klar definierten Gruppe von sexuellen Minderheiten fokussiert. Was die Queer Studies dem hinzugefügt haben, war eine „universalisierende“ Perspektive. Eine solche Perspektive impliziert, dass ein kritischer Fokus auf Sexualität grundlegend ist, um nahezu jeden Aspekt von Kultur und Gesellschaft zu verstehen.
Bitte nennen Sie ein Beispiel.
Gerne. Die Geschichte der Marktwirtschaft war und wird nach wie vor durch lange Phasen des Wachstums und der relativen Stabilität geprägt, die jedoch durch massive Krisen unterbrochen wurden. Jede dieser Phasen der Stabilität wurde von einer bestimmten Sexualkultur, bestimmten Sexualidentitäten und Vorstellungen von Sexualität geprägt, die unter anderem eine bestimmte vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und Organisierung familialer Verhältnisse hervorgebracht haben. Die Familienform und die sexuellen Kulturen, die in den Boomjahren der industriellen Massenproduktion von den 1950er bis in die frühen 60er Jahren vorherrschend waren, waren nicht dieselben, die sich parallel zum Wachstum des postindustriellen Sektors in der Phase der schnellen ökonomischen Globalisierung in den 90er und frühen 2000er Jahren entwickelten.
In Krisenzeiten erfährt Sexualität und Geschlecht oftmals eine radikale Politisierung während einer höchst konfliktreichen Phase gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Umstrukturierung. Dies war etwa in den späten 60er und den 70er Jahren der Fall. In solchen Zeiten wird das Leben sexueller und geschlechtlicher Minderheiten besonders schwierig. Um die Situation jedoch in Gänze zu verstehen, muss man sich anschauen, in welchem Zusammenhang diese erschwerten Lebensumstände mit dem Zusammenbruch der Art und Weise steht, wie Sexualität und Geschlechterverhältnisse in der Mehrheitsgesellschaft strukturiert und verstanden werden.
Macht ihre normative Ausrichtung die Queer Studies weniger wissenschaftlich?
Normative Ausrichtungen gibt es in den gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Sozial- und politische Philosophie fragt danach, was es heißt, ein gutes Leben zu leben. In den Internationalen Beziehungen bringen Theorien des gerechten Krieges Ideen zur Moralität und Immoralität des Krieges hervor. Verhaltensökonom*innen streben danach, Strategien zu entwickeln, die Menschen zu Handlungsweisen ermutigen sollen, die einem vermeintlichen individuellen oder allgemeinen Wohl dienen.
Die Queer Theory ist eine kritische Theorie. Damit meine ich, dass sie die bestehenden Institutionen, gesellschaftlichen Verhältnisse oder Identitäten nicht als etwas ansieht, dass die Grenzen des politischen Möglichkeitsraums markiert. Vielmehr historisiert sie diese, indem sie fragt, wie sie zustande gekommen sind und wie sie sich in eine emanzipatorische Richtung wenden lassen. In diesem Sinne sind die Queer Studies klar normativ ausgerichtet.
Also auf ein klares Ziel ausgerichtet?
Nicht unbedingt, denn queere Theoretiker*innen sind sich zutiefst uneinig darüber, was „Emanzipation“ bedeuten kann – und natürlich auch darüber, was die bestehenden Institutionen, Verhältnisse oder Identitäten ausmacht.
Sieht es nicht momentan so aus als würde die Situation schlechter (statt besser, freier, progressiver) werden? Zunehmende, auch physische, Attacken, Erstarken rechter Parteien, Rückkehr konservativer Rollen in Medien und Alltag?
Ja, die Situation für queere und trans Menschen wird zunehmend schlimmer, wie so oft der Fall – wie ich bereits angemerkt habe – in Phasen ökonomischer Instabilität oder in Zeiten, wenn etablierte politische Systeme ins Wanken geraten. Das liegt nicht daran, dass Vorurteile eine unvermeidliche Reaktion auf Notlagen sind. Es liegt eher daran, dass die Art und Weise, wie Gesellschaft, Wirtschaft und Politik organisiert sind, nicht länger funktioniert, wie sie es ehemals taten – und solche Funktionsweisen sind stets mit einer spezifischen Organisation von Geschlecht und Sexualität verknüpft. In Zeiten wie diesen wird Sexualität und Geschlecht zu Schauplätzen, an denen sich Konflikte darüber abspielen, wie die Gesellschaft neu organisiert werden könnte. Die Angriffe – ob physisch, ideologisch oder politisch – auf queere und trans Menschen müssen im Kontext eines breiteren reaktionären und anti-liberalen Versuchs mancher verstanden werden, die Gesellschaft in Richtung eines Traditionalismus und Nationalismus zu lenken.
Vielen Dank!