Projekte mit Studierenden

Während man einen kulturwissenschaftlichen Bachelor oder Master in Lüneburg erwirbt, überschreitet man nicht nur disziplinäre Grenzen, sondern erkundet auch neue Methoden und Lehrformate. Hier werden Projekte und Veranstaltungen realisiert, die über gewöhnliche Teilnahmemöglichkeiten hinausgehen. Neben regelmäßig stattfindenden Exkursionen stehen Studierende auch als Initiator*innen und Gestalter*innen im Zentrum solcher projektorientierten Seminare. Im Folgenden präsentieren wir eine kleine Auswahl an Lehrformaten und Projekten, in denen Studierende eine zentrale und aktive Rolle gespielt haben.

Naive Kunst, Primitivismus und Gegen-Primitivismus

Studierende*r in der Ausstellung „Avantgarde in Georgien 1900-1936“, Brüssel ©Katharina Tchelidze, 2024
Studierende*r in der Ausstellung „Avantgarde in Georgien 1900-1936“, Brüssel

Obwohl die avantgardistische Haltung anfangs als eine Gegenbewegung zu etablierten akademischen Normen der Kunstproduktion gelesen wurde und eine kritische Perspektive auf gesellschaftspolitische Verhältnisse einnahm, war sie strukturell in die kolonialistische Weltsicht eingebunden. Sei es bei der Faszination Picassos für afrikanische Masken, bei Gaugins polynesischen Exkursionen oder bei Nolde, der das Ausleben von Exotismus und Primitivismus funktional in das kollektive Projekt des deutschen Kolonialismus integrierte. Die bis heute wirksamen Verstrickungen Deutschlands im Kolonialismus geben Auskunft über heutige rassistische Macht- und Dominanzverhältnisse, die es bei der Rezeption des Primitivismus zu berücksichtigen gilt.

Im Wintersemester 2023/2024 setzten sich Studierende des Bachelorseminars „Naive Kunst, Primitivismus und Gegen-Primitivismus“ (geleitet von Katharina Tchelidze) kritisch mit der Notwendigkeit einer rassismuskritischen Rezeption des Primitivismus in der Kunst auseinander. Im Zentrum stand dabei eine gemeinsame Exkursion nach Brüssel. Unter den Eindrücken des Besuchs der Ausstellung „Avantgarde in Georgien 1900-1936“ im Palais des Beaux-Arts de Bruxelles (BOZAR) entstanden Gespräche zu Themen wie Exotisierung, Queerness und Avantgarden, Kulturpolitik und kolonialen Kontinuitäten. Zurück in Lüneburg realisierten die Studierenden und Katharina Tchelidze gemeinsam eine Veranstaltung mit der Kuratorin Irine Jorjadze im Archipelago Lab.

Ausstellungsansicht „Avantgarde in Georgien 1900-1936“, Brüssel ©Katharina Tchelidze, 2024
Ausstellungsansicht „Avantgarde in Georgien 1900-1936“, Brüssel

Erinnern | Kurzfilmscreeing und Künstlerinnengespräch

Banner zur Veranstaltung "Erinnern. Kurzfilmscreeing und Künstlerinnengespräch" ©ArchipelagoLab, Leuphana Universität Lüneburg, 2023
Banner zur Veranstaltung "Erinnern. Kurzfilmscreeing und Künstlerinnengespräch"

Wie sich erinnern […] Вспоминать von Katja Lell, 10 min, deutsch/russisch mit englischen UT
Lamarck von Marian Mayland, 28 min, deutsch mit englischen UT
Der Fluss ins Vergessen von Zi Li, 18 min, deutsch/mandarin mit englischen UT

Erzählt in der Familie, erfühlt zwischen Generationen, im Material versteckt und wiederentdeckt. In den essayistischen, dokumentarischen und poetischen Arbeiten der Filmemacherinnen Katja Lell, Marian Mayland und Zi Li transformieren sich Prozesse der Erinnerung. Am 29. November 2023 wurden drei Kurzfilme der Regisseurinnen im Scala Programmkino in Lüneburg gezeigt. Die Filme erzählen Familiengeschichte(n), die Intimes, Politik und Geschichte miteinander verschränken. Sie eröffnen Einblicke in private Welten und erwecken gleichzeitig das Gefühl von Vertrautheit bei den Zuschauer*innen.

Im Anschluss an das Screening gab es ein Gespräch mit den Filmemacherinnen Katja Lell und Marian Mayland, das ihre verschiedenen materiellen und filmischen Zugänge beleuchtete und Grenzen zwischen Erinnertem, Erinnerung und Imaginiertem erkundete. Moderiert wurde das Gespräch von Leon Follert und Marie Lynn Jessen.

Organisiert wurde der Abend von Leon Follert und Marie Lynn Jessen, die beide im Masterstudiengang “Kritik der Gegenwart. Künste, Theorie, Geschichte” studieren, im Rahmen einer Kooperation zwischen ArchipelagoLab und dem DFG Graduiertenkolleg “Kulturen der Kritik”.

Tracing Brandhorst: Re-Imagining a Collection

Studierende im Museum Brandhorst ©Lynn Rother, Leuphana Universität Lüneburg 2023
Studierende im Museum Brandhorst

In diesem englischsprachigen Seminar “Tracing Brandhorst: Re-Imagining a Collection” beschäftigten sich die Studierenden aktiv mit objektbasierten Forschungsfragen im Zusammenhang mit der Sammlung des Museums Brandhorst in München. Die Seminargruppe ist auch nach München gefahren, wo sie mit Kurator*innen, Restaurator*innen und Künstler*innen Gespräche geführt haben. Das Seminar  wurde von Prof. Dr. Lynn Rother und Giampaolo Biancioni, Kurator am Museum Brandhorst geleitet.

Ausstellungsansicht ©Lynn Rother, Leuphana Universität Lüneburg, 2023
Ausstellungsansicht

Deleuze totale 9 to 5

Gilles Deleuze in „L'Abécédaire de Gilles Deleuze” ©Leuphana Universität Lüneburg 2024
Gilles Deleuze in „L'Abécédaire de Gilles Deleuze”

In knappen acht Stunden interviewt Journalistin Claire Parnet den französischen Philosophen Gilles Deleuze und hangelt sich mit ihm entlang des Alphabets einmal quer durch Deleuzes philosophische Überlegungen. Das Interview wurde 1989-1990 aufgezeichnet, jedoch auf Wunsch von Deleuze erst nach seinem Tod 1995 ausgestrahlt.

Das ArchipelagoLab zeigte das Werk „L'Abécédaire de Gilles Deleuze” am 23. Mai 2023 in 4 Blöcken, alle an einem Tag mit Pausen und gemeinsamem Mittagessen. „Stoßt dazu, wie es euch passt oder haltet den Marathon mit uns durch. Wir freuen uns auf alle, selbst wenn es nur für euren Lieblingsbuchstaben ist!“

Erster Block
9.00 - 11.10 Uhr
A Animal
B "Boire" (Drink)
C Culture
D Desire
E "Enfance" (Childhood)



 

Zweiter Block
11.30 - 13.10 Uhr
F Fidelity
G "Gauche" (Left)
H History of Philosophy
I Idea
J Joy
K Kant


 

Dritter Block
14.10 - 16.10 Uhr     
L Literature
M Malady
N Neurology
O Opera
P Professor



 

Vierter Block
16.30 - 18.10 Uhr       
Q Question
R Resistance
S Style
T Tennis
U "Un" (One)
V Voyage
W Wittgenstein
X, Y Unknown
Z Zigzag

Organisiert wurde das Screening von Marie Lynn Jessen und Arthur Siol im ArchipelagoLab. Marie studiert im Master „Kritik der Gegenwart. Künste, Theorie, Geschichte”, Arthur studiert im Bachelor Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität.

Bildungsdelegation zurJineolojî im ArchipelagoLab

Dejla Haidar, die Dozentin für Jineolojî an der Kobanê Universität und der Rojava Universität in Qamislo ist, besuchte auf einer Reise durch Deutschland am 28. Februar 2023 auch das ArchipelagoLab. Die Reise war eine Premiere, da zum ersten Mal eine Bildungsdelegation aus der Selbstverwaltungsregion Nord- und Ostsyrien, bekannt als Rojava, nach Deutschland kam. Es bestand von Seiten der Delegation Interesse, den Aufbruch in der Bildungsarbeit und die neuen Universitäten mit freiheitlich-demokratischem Bildungsansatz in Rojava und insbesondere die Jineolojî vorzustellen, kritische Ansätze an deutschen Hochschulen kennenzulernen und Möglichkeiten eventueller zukünftiger Kooperationen zu erörtern. 

Die Jineolojî betrachtet die Geschichte von Patriarchat, Staat, Kapitalismus und Gesellschaft aus der Perspektive der Frauen sowie des Lebens. Dabei sucht sie gemeinsam mit der Gesellschaft nach Lösungen der drängenden sozialen Probleme und für Geschlechterbefreiung, Demokratie und Ökologie.

Die Veranstaltung wurde organisiert von Marie Lynn Jessen (Studentin im Master Kritik der Gegenwart, Leuphana Universität Lüneburg) in Austausch mit Prof. Dr. Mechthild Exo (Hochschule Emden/Leer).

Complicit Collectors - studentische Provenienzforschung im Ethnologischen Museum des Humboldt Forums

Biografien auf der Webseite Complicit Collectors ©Provenance Lab, Leuphana Universität Lüneburg, 2023
Biografien auf der Webseite Complicit Collectors

Kaum ein anderer Ausstellungs- und Museumsort hat die Debatte um Raubkunst aus kolonialen Kontexten in Deutschland mehr bestimmt als das sogenannte Humboldt Forum in Berlin. Im Wintersemester 2022/23 besuchten Studierende der Leuphana Universität in einem kooperierenden Seminar mit Studierenden des Masterstudiengangs Kunstwissenschaft der TU Berlin in mehreren Exkursionen das vielfach öffentlich kritisierte Humboldt Forum in Berlin. Im Fokus stand eine kritische Auseinandersetzung mit den Ausstellungsformaten der Sammlungen aus Afrika und Ozeanien: Welche Eindrücke und Bilder werden bei den Besucher*innen der Schaudepots des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum etabliert, welches Wissen wird vermittelt und was wird ausgelassen? Inwiefern schreibt die fehlende Auseinandersetzung mit Dimensionen kolonialer Gewalt die imperiale Geschichte fort?

Die Schaudepots des Ethnologischen Museums im Humboldt Forum in Berlin stellen zwar hunderte Gegenstände aus ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien aus. Ganze Schaukästen sind jedoch nur mit einem Datum, einem Herkunftsgebiet und dem Namen derjenigen Person versehen, die die Objekte ins Museum brachte. Sie geben keine Auskunft darüber, wer diese Personen waren und wie sie in den Besitz der Gegenstände kamen. In welcher Beziehung standen die “sammelnden” Protagonisten, die Museen und die koloniale Politik dieser Zeit?

Die forschende Auseinandersetzung mit den ausgestellten Objekten und den dazugehörigen “Sammlern”  mündete in dem kollektiven Beschluss, die Recherche auf einer in Eigenregie erstellten Webseite Complicit Collectors der Öffentlichkeit zugängig zu machen. Auf dieser wurden Informationen zu einigen der in den Ausstellungsräumen des Ethnologischen Museums vermerkten Personen zusammengetragen. Die Webseite gibt einen Überblick über ihre Biografie, Ausschnitte aus ihren Publikationen werden gezeigt und das Denken sowie Wirken der selbsterklärten „Afrikaforscher“ und „Sammler“ sichtbar gemacht. 

Im Sommer fand außerdem ein Gespräch zwischen Studierenden sowie einigen an der Ausstellungskonzeption beteiligten Forscher*innen und Kurator*innen statt. Das bot die Möglichkeit noch einmal weiterreichende Fragen wie der nach der Rolle von Provenienzforschung im Prozess der Ausstellungskonzeption und dem Stand der Zusammenarbeit mit Forscher*innen aus Herkunftsgesellschaften gemeinsam zu diskutieren.

Text: Thekla Molnar, Studentin im Master Kritik der Gegenwart