Kompetenzerweiterung bei Staatsversagen

Populistische Rhetorik oder rechtliches Argument?

23.12.2025 Dürfen hoheitliche Institutionen einspringen, wenn die eigentlich zuständigen Stellen bei der Problemlösung scheitern? Diese Frage stand im Zentrum des zweiten Lüneburger Rechtsgesprächs im Wintersemester 2025/2026. Zu Gast war Prof. Dr. Michaela Hailbronner, LL.M. (Yale) von der Universität Münster, die zentrale Ergebnisse ihres neuen Buches „The Failures of Others“ vorstellte.

©Lela Härke
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Horizon-Skandal als Beispiel institutionellen Versagens

Nach einleitenden Worten von Prof. Dr. Alexander Stark eröffnete Hailbronner ihren Vortrag mit ausgewählten Beispielen, in denen hoheitliche Organe ihre Kompetenzen aufgrund des institutionellen Versagens der eigentlich zuständigen Stellen erweiterten. Hailbronner illustrierte das Phänomen unter anderem anhand des britischen Horizon-Skandals. Über Jahre hinweg wurden hier zahlreiche Betreiber:innen von Postfilialen strafrechtlich verfolgt, weil eine fehlerhafte Software angebliche Fehlbeträge auswies. Hunderte Betroffene sahen sich langwierigen Gerichtsverfahren, erheblichen finanziellen Belastungen und persönlichen Krisen ausgesetzt. Das britische Parlament nahm das systemische Versagen zum Anlass, seine Kompetenz zu erweitern und korrigierend einzugreifen, indem es die strafgerichtlichen Verurteilungen mit dem „Post Office (Horizon System) Offences Act 2024“ das Parlament die gerichtlichen Verurteilungen rückwirkend aufhob.

Institutionelles Versagen als rechtliches Argument zur Kompetenzerweiterung?

Nach Hailbronners Auffassung kann institutionelles Versagen nur unter engen Voraussetzungen als rechtfertigendes Argument für eine Kompetenzerweiterung dienen. Erforderlich sei erstens ein Kontext, der normative Erwartungen an eine institutionelle Zusammenarbeit und gegenseitige Rücksichtnahme begründet („Responsivität“). Zweitens bedarf es eines Rechtsverstoßes, der auf die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der eigentlich zuständigen Institution beruht, diesen Zustand zu beheben. Drittens dürften keine anderen, demokratisch stärker legitimierten Mittel zur Verfügung stehen. Viertens müsse schließlich die kompetenzerweiternde Intervention verhältnismäßig sein. Dabei seien Faktoren wie die Dauer und Quantität der Rechtsverletzungen sowie die Qualität der betroffenen Rechte einzubeziehen.

Wie sind der Horizon-Skandal und vergleichbare Fälle institutionellen Versagens vor diesem Hintergrund zu bewerten? Hailbronner kommt zu einer zurückhaltenden und differenzierten Einschätzung. Zwar würden oftmals ein Kontext kooperativer Gewaltenteilung sowie massenhafte Rechtsverstöße vorliegen. Häufig sei jedoch zweifelhaft, ob tatsächlich eine Lücke im bestehenden Recht vorlag und ob der parlamentarische Eingriff erforderlich war. Entscheidend für die rechtliche Einordnung des Gesetzes im Horizon-Skandal und vergleichbarer Maßnahmen sei damit vor allem die Bewertung der Erforderlichkeit.

Fazit: Das „argument from failure“ als Ausnahme

In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass die Erweiterung von Kompetenzen infolge institutionellen Versagens nur in absoluten Ausnahmefällen als rechtliches Argument in Betracht kommt. Hailbronner betonte, dass die Anwendung des „argument from failure“ nicht zu Missbrauch führen dürfe und eine absolute Ausnahme darstellen müsse. Vertiefende Einblicke und die vollständige Argumentation finden sich in ihrem kürzlich open access erschienenen Buch „The Failures of Others“.

Ausblick

Das nächste Lüneburger Rechtsgespräch findet am 13. Januar 2026 um 18 Uhr statt. Prof. Dr. Felix Hartmann, LL.M. (Harvard) spricht zu „Meinungsfreiheit im Arbeitsverhältnis“. Nähere Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.

Kontakt

  • Prof. Dr. Stefan Klingbeil, LL.M. (Yale)