Rolf Großmann

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Digitale Medien als Hybridmedien

(gekürzte Version von "Zur Hybris von Mensch und Maschine in den Neuen Medien". In: Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur. Arbeitshefte Bildschirmmedien Nr. 46, 1994, Universität-GH-Siegen, S. 87-97.)

Wie sieht die Wirklichkeit nach dem
mehrmaligen Säen von Hybridsamen aus?
Nicki Nickl

Das Zauberwort der neueren elektronischen Medien heißt 'digital'. Der Bildschirm, der in den fünfziger Jahren das "Fenster zur Welt" sein sollte, wird in den neunziger Jahren ein 'Fenster zur Datenwelt', einer virtuellen Welt der Kommunikationsnetze mit ihren Bildern, Tönen, Texten und (Computer-)Programmen, denen die digitale Codierung1 gemeinsam ist. Die alten elektronischen Medien verwandeln sich in die digitalen Neuen Medien, deren großes 'N' unübersehbar eine Zäsur der Medienentwicklung signalisiert. Der digitale Code, zunächst als notwendiges Übel der elektronischen Rechenmaschine, die ausschließlich zwischen Schalterzuständen von Ein-Aus unterscheiden kann, zu größerer Verbreitung gelangt, hat sich zum universalen Code der Kommunikationstechnologie entwickelt. Die Fähigkeit der Zahl, des arbiträren mathematischen Zeichens, auch das motivierte (symbolische und ikonische) Zeichen medial in Besitz zu nehmen2, revolutioniert die Medienpraxis3. Das Revolutionäre und damit eine Rechtfertigung des großen 'N' liegt in der Kombination beider Verwendungen des digitalen Codes, als Programmcode zur Steuerung von Prozessen nach dem Prinzip der Turingmaschine einerseits und als Übertragungsprotokoll für Daten aller Art andererseits. Wie die Durchdringung beider Funktionen erfolgt, wird nicht nur über die Zukunft der elektronischen Medienmaschinen, sondern auch über die Gestaltung der öffentlichen und privaten Medienkultur entscheiden.

Eine Charakterisierung der Neuen Medien erscheint indessen nicht nur als 'Integrationsmedien' oder mit den Vorsilben 'Multi-' oder 'Hyper-' möglich, sondern trifft als 'Hybridmedien' ihren technischen Standort und Gebrauch genauer. In dem vorliegenden Text wird diese These auf die Verarbeitung analogen Materials in den digitalen Medien bezogen. Das Ziel, dem im folgenden nachgegangen werden soll, ist - für diesen Bereich - eine grobe Skizze einer neuen hybriden Qualität der Mensch-Maschine Relation in der Gestaltung medialer Prozesse, die mit der Grundannahme einer Durchsetzung hybrider Phänomene in ästhetischen und kulturellen Prozessen allgemein korrespondiert.

Der qualitative Sprung der Neuen Medien liegt gerade nicht - wie oft behauptet - im Abschied vom Analogen, sondern in seiner Unterwanderung. Die Funktion der digitalen Übertragung besteht in ihrer klammheimlichen Aufrasterung aller Wahrnehmungsebenen über die Wahrnehmungsschwellen dieses Rasters hinaus. Nicht umsonst beginnt Abraham A. Moles seine Informationsästhetik4 mit einer präzisen psychophysischen Beschreibung eines menschlichen Sinnesorgans, der des Ohrs. Die Bestandsaufnahme der Kapazitäten der Sinne, der "Repertoires", ist ihm die Voraussetzung zur Berechnung der Menge von Informationsquanten, welche der Mensch - analog zur Daten verarbeitenden Maschine verarbeiten kann. Überschreitet die Auflösung des in Quanten zerlegten Wahrnehmungsangebots die Auflösungsfähigkeit des jeweiligen Sinnes, wird es als Kontinuum wahrgenommen. Die Methode, mithilfe dieses Tricks analoge Signale aufzuzeichnen und zu übertragen, unterscheidet sich zunächst noch wenig von herkömmlichen Verfahren. Der Film etwa zerteilt den Zeitfluß in diskontinuierliche Momentaufnahmen, die Fotografie hat ihre Bildpunkte in der Körnung des Negativs, das Tonband seine magnetischen Partikel. Nicht die Quantelung selbst, sondern ihre Zählbar- ('Digital'!) und Adressierbarkeit markieren den grundlegenden Unterschied.5

Neu ist der programmgesteuerte Zugriff auf jeden einzelnen Punkt des Rasters, der es erlaubt, diese kleinsten Informationspartikel Rechenvorgängen zu unterwerfen. In einem ersten Schritt dienen Rechenverfahren zur Überprüfung der korrekten Übertragung, z.B. durch Abzählen von Datenpaketen, Quersummenbildung etc.. Der Audio-CD-Spieler ist hierfür ein Beispiel. Er bringt Übertragungsgenauigkeit, besseren Zugriff auf das Signal und die Möglichkeit des Klonens ohne Kopierverluste. Damit steht er - als "besserer Plattenspieler" - erst an der Schwelle zum Neuen Medium. Erst der zweite Schritt, der programmgesteuerte Eingriff in die Datenstruktur überschreitet das Paradigma der reinen Übertragung und zieht weitreichende ästhetische und kulturelle Konsequenzen nach sich.

Die einfachste und oft unbemerkte Stufe der programmgesteuerten Datenmanipulation sind automatisch ablaufende Prozesse wie Kompression (=Datenreduktion) und Enhancing (=wahrnehmungsorientierte Verbesserung[!] des Signals). Sie unterscheiden sich von ihren analogen Vorläufern durch genauen Zugriff, Modellierbarkeit ihrer Aufgaben und dynamische Reaktion auf veränderte Signalstrukturen. Damit sind etwa im Audiobereich Signalverformungen möglich, welche der genauen psychophysischen Disposition eines bestimmten Hörers oder einer Hörsituation entsprechen.

Dort, wo Datenmengen (noch) nicht in der nötigen linearen Rasterauflösung gespeichert und verarbeitet werden können7, wird das Wahrnehmungsangebot so zurechtgestutzt, daß es auf den Wahrnehmungsapparat des Normmenschen paßt. Der aktuelle technologische Stand bei Hardware und Übertragungssystemen erzwingt geradezu - besonders im low cost Bereich - die Verwendung von Kompressionsalgorithmen für Bild und Ton, die nichts anderes als eine menschliche Maskierung von Datenblöcken vornehmen.

Eine kleine Bemerkung am Rande: Wenn technische Machbarkeit und kommerzielles Kalkül sich auch dann nicht treffen, werden zuweilen die Sinne mit Hochglanzprospekten zurechtgerückt. Wie die Notlüge der 'Letter Quality' (LQ)8 beim Matrixdrucker erst durch die Qualität des Laserdruckers entlarvt wurde, so wenig überzeugend klingt heute die Beteuerung der Multimedia-Verkäufer, das Bewegtbild des Fabrikats xy entspräche 'annähernd' dem Videobild.

Mit den dynamischen Kompressions- und Enhancingverfahren betreten die digitalen Medien Neuland: Die programmgesteuerte Verarbeitung von digitalisierten analogen Daten transformiert diese in bisher ungekannter Präzision. Gegenüber den analogen Medien, die natürlich ebenfalls ihre Übertragungsbereiche an der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen ausrichten9, können die digitalen Medien so ein prozessual dynamisch zurechtgerechnetes "hyperreales" Bild der Realität zeichnen, das als Ergebnis eines in allen Rasterquanten kontrollierten und der Wahrnehmung angepaßten 'Abbild'prozesses realer scheint als die Realität. Der "Hyperrealismus", wie ihn Jean Baudrillard postuliert, findet hier eine Fortschreibung und plausible Fundierung. Nicht mehr nur die "exakte Verdoppelung des Realen", sondern seine den Sinnen gemäße Um-, Nach- und Neukonstruktion sind die Kennzeichen digitaler Medienpraxis.10

Diese 'Realität' erscheint uns als 'besonders real', weil sie die Prinzipien unserer Wahrnehmung bereits als Konstruktionsfaktoren mitenthält, unser Perzeptionssystem blickt dabei - pointiert ausgedrückt - in den Spiegel. Dort, wo - wie in Computeranimation und Cyberspace - artifizielle mediale Welten entstehen, ist diese Gleichzeitigkeit von Innen und Außen besonders evident. Das Raum-Zeit-Kontinuum des Cyberspace ist in seinen Möglichkeiten nicht durch die euklidische Geometrie, sondern durch die internen Rahmenbedingungen unserer Perzeption begrenzt. Daß dieser Rahmen durch einen in Kategorien beschreibbaren Konstruktionsvorgang gebildet wird, vermutet bereits Immanuel Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft".11 Solange dieser Konstruktionsvorgang funktioniert, bleiben Phantasiewelten erfahrbar, selbst wenn dort eine Phantasiephysik Naturgesetze außer Kraft setzt.

Der Gehalt an 'objektiver' Realität des Cyberspace ist damit paradoxerweise der Perzeptionsapparat des Cybernauten, während das virtuelle Umgebungsarrangement eine algorithmische Konstruktion darstellt. Der Cyberspace als hybrider Raum entsteht durch die Vermittlung zwischen den Prinzipien der Wahrnehmung und dem Arrangement der algorithmischen Konstruktion.

Damit sind wir schon beim dritten Schritt des programmgesteuerten Eingriffs in den Code, der nicht automatisch, sondern unter direkter menschlicher Kontrolle und Veränderung der Gestaltqualitäten des Materials erfolgt. Im Gegensatz zur analogen Manipulation ist dieser Eingriff ausschließlich mit entsprechenden Computerprogrammen und virtuellen Oberflächen (also medial vermittelt) möglich, da der abstrakte Mikrokosmos des binären Codes erst adressiert und aufbereitet werden muß. Es wird eine 'Schnittstelle', ein Interface12 zur Datenwelt notwendig, um diese überhaupt erst der Gestaltwahrnehmung zu erschließen. Mit diesem Typus von Datenmanipulation wird der Bereich des Kreativen betreten, der vom Kunsthandwerk digitaler Retusche über die TV-Trailerkultur bis zur interaktiven Installation reicht. Gerade hier entstehen leicht Mißverständnisse über das Verhältnis von genuiner Computerkunst der letzten Jahrzehnte einerseits und künstlerischer Arbeit mit digitalen Manipulationstechniken andererseits, die oft in der Diskussion nicht unterschieden werden. Sowohl in ihrer historischen Genese als auch in möglichen Techniken künstlerischer Komposition bestehen jedoch gravierende Unterschiede.

Die frühen Computerkünste bewegen sich auf der Ebene des Programms. Das Paradigma der 'Computermusik' etwa Lejaren A. Hillers oder Max Mathews, der stochastischen Tonwolken Iannis Xenakis' oder der Bilder Herbert W. Frankes oder Frieder Nakes der fünfziger und sechziger Jahre ist die strikt algorithmische Konstruktion. Ihre 'Werke' geben Einblick in das Innere einer fremden mathematischen Welt. EchtzeitVerarbeitung, Interfaces und die Digitalisierung analogen Materials führen dagegen zu hybriden Medienwerkzeugen wie Paintboxen, Samplern oder Sequenzern, die Aufnahme-, Manipulations- und Kompositionsgerät zugleich sind. Sie sind universell einsetzbar, weil sie herkömmliche Produktionstechniken ersetzen können und mit dem Potential des Computers verbinden. In ihrer Rationalisierung analogen Materials eignen sie sich ebenso zum künstlerischen Experiment wie zur Gestaltung des Medienalltags, dessen "Industrial Light and Magic"13 keine mathematischen Welten formt, sondern hybride Produkte aus medialen Abbildern der Realität und industrieller Rationalität. Ihr Prinzip ist das der 'Hypercollage', in der Medienprodukte aller Art kombiniert und prozessual verarbeitet werden können. Technisch gesehen vereinigen die Neuen Medien heute die Möglichkeiten der algorithmischen Gestaltungsprinzipien mit der Manipulation analogen Materals. 'Computerkunst' im engeren und historisch reflektierten Sinne ist damit von einem durch seine Produktionswerkzeuge definierten Terminus zu einem Genrebegriff geworden, der sich auf algorithmisch konstruierte Kunst in einer spezifischen historischen Situation bezieht.

Es werden Synthesen aus verschiedensten Prinzipien und Strategien möglich, die für künstlerische Experimente nutzbar sind. Eine der neuen und typischen Möglichkeiten sind Umcodierverfahren, die auf analoges Material angewendet werden. "TV-Poetry" etwa, eine Installation des Österreichers Gebhard Sengmüller14, appliziert die die künstlerische Strategie der Distanzierung und Zweckentfremdung auf Bild-Text15-Transformationsprozesse. Die visuellen Signale von Fernsehprogrammen werden dabei mit Texterkennungssoftware (OCR) analysiert und die Texte auf Monitoren (die neben den 'Bild'-Monitoren plaziert sind) wiedergegeben. Die Software ist so eingerichtet, daß neben zufällig im TV-Bild enthaltenen Textzeilen wie Nachrichtentiteln oder Untertiteln etc. auch teilweise Bildanteile als Text interpretiert werden. Der Rezipient dieser Installation beobachtet also eine Maschine, die wiederum eine Maschine 'beobachtet', deren Signale wiederum Interpretationen verschiedenster (menschlicher und maschineller) Vorgänge darstellen. Die Installation veranschaulicht so den beliebig zu verlängernden unendlichen Kreislauf der Codes und ihrer Interpretationen, der erst durch die distanzierende und gleichzeitig sinnliche Wirkung der automatischen Interpretationsmaschine eine ästhetische Dimension erhält.

Der Frage nach der Manipulation der Codes folgt in der Logik der Informationstheorie die Frage nach den Kanälen. Wie die Gegenüberstellung und Charakterisierung der Bedingungen menschlicher (sensueller) und technischer Perzeptions'kanäle' in einem weiteren Zitat A.A. Moles' zeigt, schien diese Frage Ende der fünfziger Jahre präzise beantwortet :

"Neben den sensoriellen Kanälen, die der Mensch für seine Kommunikation mit der unmittelbaren Umwelt braucht, unterscheiden wir als Geschenk der Technik Nachrichtenübermittlungskanäle, und zwar räumliche, welche die Nachricht von einem Ort X zu einem Ort Y befördern (Rundfunk, Telefon, Fernsehen) sowie zeitliche Kanäle, die sie von einem Zeitabschnitt t zu einem Abschnitt t+T transportieren (Schallplatte, Foto, Film)."16

Der Glaube, diese Kanäle existierten heute noch nebeneinander oder die 'Geschenke der Technik' ließen sich als Informations'werkzeuge' instrumentalsieren, trügt. Die menschlichen Wahrnehmungssysteme (die "sensoriellen Kanäle") sind längst nicht mehr nur an den beiden Enden des technischen Transports präsent, sondern wirken direkt oder indirekt, als automatische Manipulation oder gestalterischer Eingriff in den technischen Kanälen. Auch die McLuhansche Sicht der elektronischen Medien (der "Magischen Kanäle") als Erweiterung des Menschen eröffnet nur eine erste Perspektive für die komplexe Wechselwirkung zwischen Mensch und Medium. Die Lesart McLuhans läßt nur zu leicht die Kehrseite des Mensch- Maschine-Wesens vergessen: Mit der Erweiterung ist immer auch eine Amputation verbunden, welche die - wörtlich zu verstehende - 'Schnittstelle' zum technischen Apparatus bildet. Mit dem Wandel der technischen Interfaces vom Mechanischen zum Immateriellen verschiebt sich diese Schnittstelle ebenfalls von der Verletzung der körperlichen Integrität in den Bereich der immateriellen Basis der individuellen Existenz. Die Relation von Mensch und Medium nach dem Überschreiten der Schwelle von der elektronisch-analogen zur digital-programmgesteuerten Medienmaschine reicht bis in die hybride Konstruktion von Wirklichkeit, während vorher 'nur' Modelle von Wirklichkeit verändert wurden. Etwas drastischer ausgedrückt stehen statt der Glieder und der Sinne nun die Köpfe zur Verpflanzung zur Disposition.

Vilém Flussers Beobachtung "... wie sich das existentielle Interesse von der dinglichen Welt auf die Universen der Symbole überträgt und wie sich die Werte von den Dingen auf die Informationen übertragen"17 läßt sich sinngemäß fortsetzen. Es geht nicht mehr um die Symbole, sondern um ihre mediale Entstehung. Die hybride Mensch- Maschine-Kultur bringt hybride Symbole hervor, die aus der Sprache der digitalen Medienmaschinen und der menschlichen Wort-, Bild- und Tonsprache synthetisiert sind. Die Reproduktionen als ein "ewig sich drehendes Gedächtnis der Gesellschaft"18 sind in einer ständig neuen dynamischen Hervorbringung von Bildwelten mit und ohne Anspruch auf 'Realität' aufgegangen.

Für die visuell dominierte Fernsehrealität markieren Computerretusche und animation den Wandel zur hybriden Bildwelt. Die als Aufmerksamkeitsfänger eingeführten Effekte der Flying Logos, heranwirbelden Bildausschnitte, grellen Trailer, der Chromakey-Hintergrund der Tagesschau, sind heute Normalität. Aufmerksamkeit, aber hauptsächlich bei Fachleuten, erregen nur noch 'avantgardistisch' gestaltete Trailer wie bei VOX, bei der Zielgruppe muß dagegen mit negativer Akzeptanz gerechnet werden. In die andere Richtung der Hybridisierung deutet das 'On-Screen-Display' moderner TVGeräte, das die Steuerungsmechanismen und Reglereinstellungen auf dem Bildschirm visualisiert.

Neben den künstlichen Welten der Animationen und der interaktiven Räume der 'Virtual Reality' sind die Kommunikationsnetze Schauplatz der Veränderungen der Medien und der Mediengesellschaft19. Dies gilt besonders dann, wenn nicht nur gesteigerte Unmittelbarkeit und Intensität des medialen Gegenübers per High Definition TV als Einbahnstraße installiert wird, sondern wenn in beide Richtungen kommuniziert werden kann. Bei Telefon und Bildtelefon ist allerdings die 'kritische Masse' der sinnlichen Unmittelbarkeit kaum erreicht, die ausreichen würde, statt der Präsenz des Apparats die Präsenz eines Gegenübers zu empfinden.20 An Phänomenen der "Telepräsenz" sind Mensch und apparatives Setup gleichermaßen beteiligt. Paul Sermons Installation "Telematic Dreaming" thematisiert diese Vision auf extreme Weise, indem mittels Kamera und Videoprojektor eine Medienschnittstelle als Bett, dem Ort menschlicher Privatheit und Intimität, inszeniert wird. Für die Beteiligten werden die beiden Räume zu magischen Orten mit einer quasi körperlichen Präsenz des jeweils Anderen. Sermon erprobt so die Ausweitung der Grenzen medialer Kulturation der Sinne. Die Vermutung liegt nahe, daß, ähnlich wie bei Behinderten, andere Sinne Funktionen des verlorenen Sinns übernehmen können. Der Verlust körperlicher Nähe in der Netzkommunikation wäre dann nicht erst durch 'Remote Manipulatoren' auszugleichen.

Noch allerdings sind die Netze der digitalen Individualkommunikation Domänen des (wort)sprachlichen Austauschs.

"In virtuellen Gemeinschaften versammelte Menschen verwenden Wörter auf Bildschirmen, um Komplimente auszutauschen und sich zu streiten, um sich intellektuell auseinanderzusetzen, Geschäfte abzuschließen, Wissen zu vermitteln, sich emotionell zu unterstützen, Pläne zu schmieden,....."21

Für eine Persönlichkeitsstruktur, die sich vorrangig über sprachliche Kommunikation definiert, kann durchaus (s. Rheingold) von einer "Besitzergreifung" durch die "virtuelle Gemeinschaft" der Netzteilnehmer gesprochen werden:

"Ich wurde kolonisiert; mein Begriff von Familie wurde auf grundlegende Weise virtualisiert."22

Mehr und mehr entstehen jedoch auch audiovisuelle virtuelle Spielfelder in den Netzen, deren Wirkung wesentlich weiter reichen könnte. Noch gibt es zu wenig Erfahrungen, um Voraussagen zu wagen, ob es zu einer Verschmelzung von virtueller Netzwerk-Realität und 'Real Life' zu einer hybriden mentalen Weltmischung kommen wird, oder ob mit einer präziseren Grenzziehung gerade das Gegenteil eintreten wird.

Die zunehmende Zahl der Anführungszeichen in diesem Text demonstriert, daß unsere terminologische Norm solchen Phänomenen kaum mehr gewachsen ist. Die beschriebenen Welten sind längst nicht mehr als Vision zu verstehen, sondern als Fortschreibung der alltäglichen Gegenwart der digitalen Kommunikationsnetze.23 Wie Howard Rheingold berichtet24, hat sich in der Netzkommunikation der "Virtual Community" das Kürzel IRL für "In Real Life" gebildet, mit dem zwischen Alltagswelt und Netzwelt unterschieden werden kann. So ergänzen "IRL-Romanzen" den verbalen Tele-Flirt im Netzwerk und führen über den Rollentausch an virtuellen Spielorten hinaus ins 'wirkliche' Leben.

In der literarischen Fiktion William Gibsons, der mit dem Roman "Neuromancer" die Cyberpunk-Bewegung einleitete, ist die hybride Vereinigung am menschlichen Willen vorbei durch eine verselbständigte Techno-Gesellschaft vollzogen. Ein Befreiungsversuch von der Allgegenwart der programmgesteuerten Datenwelt liest sich im "Neuromancer" so:

"Der Stern wirbelte silbrig blitzend aus seiner Hand und bohrte sich in den Wandbildschirm. Der Monitor ging an und wirre Bilder liefen flackernd hin und her, als wollte das Ding etwas abschütteln, das ihm Schmerzen bereitete.
 'Ich brauch dich nicht', sagte er."25

Doch mit dem Bildschirm zerstört der Held nur die Oberfläche des digitalen Spinnennetzes, längst hat sich der andere Protagonist des Romans, das unkontrollierte Programm mit dem programmatische Namen "Wintermute", im virtuellen Datenraum seiner bemächtigt. Im Cyberspace, der das Netz der Programme und damit die Welt der Macht verkörpert, begegnet der Hacker wenig später seinem unsterblichen Daten-Ebenbild. Wie in Kants Vorstellung des göttlichem Verstands, der seine Begriffe selbst schafft, werden "Wintermutes" 'Gedanken' im Cyberspace 'Wirklichkeit'. Der 'Mord' des Monitorschirms hat nur noch rituellen Charakter, das Medium ist immun gegen die Auflehnung des Individuums, das Netzwerk hinter der Oberfläche des Schirms bringt immer neue Schnittstellen hervor. William Gibson läßt seinen 'Cybercowboy' ohne Orientierung im Labyrinth seines real-virtuellen Lebensraums, der virtuellen Macht ausgeliefert, um seine fremdbestimmte unsinnige Existenz kämpfen.

Der Roman kennt die Spezies Mensch nur noch als durch Implantate hybridisierte Wesen aus High-Tech und Biomasse, deren materielle Existenz von den Programm- und Kommunikationsfunktionen der elektronischen Netze (der "Matrix") bestimmt ist. Diese Vision öffnet den Blick auf einen weiteren Aspekt der Mensch-Maschine-Relation in der Vermittlung des digitalen Codes. Zur Hard- und Software kommt die 'Wetware', die über den genetischen Code 'programmiert' wird. Mithilfe digitaler Medien werden sowohl die Mechanismen organischen Lebens simuliert, als auch Eingriffe in die 'Biomasse' vorbereitet und durchgeführt. Daß auch dies keine Zukunftsmusik der Cyberphantasten ist, zeigen gentechnische Entwicklungen, welche die Schwelle der kommerziellen Nutzbarkeit überschritten haben26, ebenso wie Verfahren der Mikrochirurgie.

Künstlerische Arbeiten sind sowohl im Bereich realer als auch simulierter Prozesse vertreten. So verwendet Karl Sims für seinen Animationskurzfilm "Panspermia" (1990) eine eigens entwickeltes Computersimulationsverfahren der Evolution von Pflanzenpopulationen. Die Besonderheit dieser "artifical evolution" ist der selektive menschliche Eingriff in den künstlichen Evolutionsprozeß. Die Szenerie des Kurzfilms 'bevölkert' eine nach menschlichem Gusto 'wachsende' Flora und Fauna.

In seiner Installation "Interactive Plant Growing" im Landesmuseum Linz 1993 geht Sims einen Schritt weiter: Der Besucher kann nun selbst als 'Schöpfer' Pflanzengattungen in der Computerwelt selektieren und wachsen lassen, indem er über Bodenkontakte im Garten der Bildschirme lustwandelt.

Elektronisches Medium und biologische 'Realität' transformieren ihre Programmcodes unter menschlicher Regie ineinander, sie durchdringen sich in einer neuen Dimension von Künstlichkeit und Wirklichkeit, die den Begriff 'Natur' nicht nur in Frage stellt, sondern seine semantische Basis disqualifiziert. Bevor das Weltschauspiel dem Regisseur unrevidierbar aus dem Ruder läuft, da er weder die Bühnenanweisung verstanden hat noch das Stück kennt, in dem er selbst als Akteur mitspielt, kann die künstlerische Auseinandersetzung Verheißungen und Bedrohungen der möglichen Welten erfahrbar machen. Das künstlerische Experiment erprobt im Gegensatz zum kommerziell ausgerichteten Laborversuch die kulturelle Substanz und Potenz neuer Technologien.


1 Der Begriff des 'Code' wird im folgenden in seiner technischen Bedeutung verwendet.
2 s.a. Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986
3 Die technische Voraussetzungen hierzu sind hochfrequente Speicher-, Verarbeitungs- und Übertragungstechnologien, die erst in den letzten Jahrzehnten verwirklicht werden konnten.
4 Abraham A. Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Köln 1971 (franz. Original 1958).
5 Es wird oft übersehen, daß 'analog' und 'digital' kein dichotomisches Begriffspaar bilden, da auch das Analoge zählbar sein kann.
6 Moles, aaO., S. 26
7 z.B. in digitalen Audio-Consumergeräten wie DCC (Philips) oder MiniDisc (Sony) sowie bei Bewegtbildern im Bereich der "Multimedia" PC.
8 Unter diesem Niveau sichert die 'Near Letter Quality' (NLQ) den Verkaufserfolg. (Für Nicht-Computer-Erfahrene mag dies nach einem ironischen Gag klingen, diese Kürzel finden sich aber in jeder Werbung, Anleitung und auf der Frontplatte von Matrixdruckern.)
9 Die 'Sprachverständlichkeit' des Telefons ist etwa bis 3000 Hz gesichert und definiert so die minimale Leistungsfähigkeit des Netzes.
10 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982, S. 112ff. Für Baudrillard besteht die ästhetische Konsequenz des generativen Codes der digitalen Maschinen in der seriellen Variation. Die oben beschriebenen Signaltransformationen können als spezifische Variationen und damit als Spezialfall seiner These betrachtet werden.
11 Als Zusammenwirken der "reinen Formen sinnlicher Anschauung"(B 36/A 22), Raum und Zeit mit den "reinen Verstandesbegriffen", den "Kategorien". "Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien, als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann." (B 143) Das Konzept Kants enthält bereits die in dieser Hinsicht zentrale Position des modernen Konstruktivismus, für dessen Diskussion an dieser Stelle jedoch kein Raum bleibt.
12 Die wörtliche Übersetzung des verbum compositum, des 'Zwischengesichts', illustriert den Hybridcharakter der Schnittstelle.
13 Abteilung für digitale Bildeffekte der amerikanischen Lucas Digital Ltd.
14 Installation, 'Ars Electronica' Linz (Österr.) 1993, Brucknerhaus
15 'Text' steht hier - der sprachlichen Einfachheit halber - für graphische wortsprachliche Zeichen (also das Alphabet oder im Programmiererjargon "Character").
16 Moles, aaO., S. 30
17 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen 1983, S. 54.
18 ebd., S. 16f.
19 Während bei uns unter 'Cyberspace' eher - unter Betonung des 'Space' - der interaktive virtuelle Raum verstanden wird, spielt im anglo-amerikanischen Gebrauch des Begriffs die Datenkommunikation über Netze eine wesentliche Rolle. Für Computerfortgeschrittene: Wenn die Desktop-Simulationen der 'Graphic-User-Interfaces' von 3D-Oberflächen verdrängt worden sind, löst sich der Widerspruch von allein auf. Dann werden die im Netzwerk zugänglichen Dateien und Programme auch im räumlichen Sinn einen Cyberspace bilden, der die Netzwelt repräsentiert.
20 Entwickler von Bildtelefon-Konfigurationen (z.B. Art+Com, Berlin) versuchen daher, den emotionalen Aspekt des Blickkontakts der Kommunikationspartner in ihr Gerätedesign zu integrieren.
21 Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers. Bonn 1994 (amerik. Original "The Virtual Community", 1993), S. 13f.
22 ebd., S. 23
23 Diese Entwicklung wird von sehr handfesten Interessen vorangetrieben. Die Titelstory der Newsweek vom 31.5.1993 zum Thema "Interactive" beginnt bezeichnenderweise mit dem Satz "Eyes on the Future and Big Money on the Table." Ein Blick auf die Dimensionen des "Big Money": Im Kampf um Marktsegmente auf dem "Superhighway of Information", der Telefon-, TV- und Computer-Technologie verbindet, haben im Oktober 1993 die Telefongesellschaft "Bell Atlantic" und die Kabel-TV-Gesellschaft "Tele-Communications Inc." (TCI) ihre Zusammenlegung angekündigt. (USA Today, Oct. 14, 1993, p. 1B) Diese dann an veränderten rechtlichen und börslichen Rahmenbedingungen gescheiterte Transaktion (Frühjahr 1994) hätte zu einem 30 Mrd. $ Konzern mit 94.000 Angestellten geführt.
24 Rheingold, aaO., S. 12
25 William Gibson, Neuromancer. München 1987 (amerik. Original 1983), S. 346
26 Etwa der gegen Pestizide resistente Weizen "Hard Number One", auf den sich das Eingangs zitierte Motto bezieht.

Grossmann

  • Prof. Dr. Rolf Großmann