Rolf Großmann

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Wie neue Räume in virtuellen Gemeinschaften erschließen?

(Gekürzte Version des Beitrags "Wie virtuelle Gemeinschaften erschließen?". In: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (HIBS), Kommunikation in vernetzten Systemen. Dokumentation FORUM II, Sonderheft KOKOS, Wiesbaden 1995, S. 32-41.)

Faszinierend ist dieses Thema sicher deshalb, weil es die aktuellen Schlagworte des "Information Superhighway", der "Virtual Reality", des "Cyberspace", des "interaktiven Fernsehens" und der "Global Community" sowie der "Netzwerke" 'irgendwie' berührt. Es gibt keinen Zweifel daran, daß diese Frage in einer Zeit des Umbruchs der Telekommunikation höchst aktuell ist und eine Reihe technischer, sozialer, kultureller und - mein engeres Metier - auch ästhetischer Implikationen nach sich zieht. Das "Wie" kann also keineswegs nur technisch gesehen werden, sondern bedarf mindestens am Rande des ergänzenden "Was" und "Warum". Erwarten Sie also keine Gebrauchsanweisung zur Verbindung eines Modems mit dem Internet, flankiert von einigen Anekdoten aus "Chat"-Kanälen"; beides können Sie in der Fachliteratur inzwischen kompetent beschrieben nachlesen.

Den Background bildet Grundlegenderes, etwa eine neue Form einer globale Kommunikationsgemeinschaft, die sich im "Global Village" der Netzwerke bilden könnte, vor der Marshall McLuhans-Vision wie ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Bild neben einer 3-D-Animation verblaßt. Es geht um Geld, um Macht und Verteilungskämpfe, um soziale und kulturelle Strukturen. Das "Betriebsgeheimnis" einer sich entwickelnden Kultur sieht Norbert Bolz hier verborgen und findet konsequenterweise die "Technik der modernen Post viel interessanter als die Theorie der Postmoderne".1

Es geht aber auch um die andere Seite der glänzenden Medaille digitaler Medienkommunikation: die mediale Erweiterung des Menschen braucht ein Interface, eine Ankopplung an Sensorium und Motorium. An dieser Schnittstelle wird der 'normale' Außenkontakt gekappt und eine reale oder mentale Amputation findet statt, deren Kunstglied den Verlust einer natürlichen Funktion wettmachen muß. Dem Verlust von vertrauten Sinnlichkeiten entspricht im gesellschaftlichen Bereich einen kulturelle Desorientierung:

"Die postmodernen Technologien und Wissenschaften lassen uns als neue Wilde im Netz multimedialer und telematischer Systeme angeschlossen zurück: kulturell geprägt durch die alphabetische Buchkultur, informiert, verführt, psychisch und emotional 'versorgt' durch audiovisuelle Massenmedien, mental und konzeptionell herausgefordert und fasziniert durch die Informationstechnologien."2

Dies alles sollte im Gedächtnis bleiben, wenn die technischen und inhaltlichen Gesichtspunkte im Detail dargestellt werden.

1. Diskurs der Begrifflichkeiten

Der Begriff des "Raumes" in der Titelfrage ist eine Metapher. Zwar breiten sich die digitalen Netze im realen Raum aus, sie überwinden über Glasfaserkabel oder Satellit räumliche Distanzen. Wenn uns jedoch auf der Computeroberfläche Räume begegnen, sind es Raumsimulationen, die mit geografischen Räumen wenig zu tun haben. Sie bleiben virtuelle, computerimmanente Gebilde. Wer in "Jurassic Park" die Computerbildschirme des Kontrollzentrums beobachtet hat (die ein sorgfältig gestaltetes Zukunftsszenario illustrieren), kennt eine solche Raumsimulation: Die Dateien werden in zukünftigen Rechneroberflächen nicht mehr auf einem simulierten Schreibtisch ("Desktop" Metapher) oder in 2-D- Fenstern ("Windows") abgelegt und verwaltet, sondern in einem dreidimensionalen Raum, der einen dritten Informationsparameter zur Verfügung stellt. Statt eines Kärtchens kann eine Datei dann als Kasten repräsentiert werden, dessen Höhe über die Byte-Zahl informiert. Oder der Suchende bewegt sich durch Regale mit thematisch übereinandergestapelten Datei-Containern einer simulierten Bibliothek. Die "realen Raumgegebenheiten" der Festplatte finden sich in einer virtuellen Bildschirmwelt wieder.

Nur wenig anders funktioniert die Raummetaphorik des Cyberspace für die Datennetze. Wenn das Urbild des süchtigen Datenreisenden, der Hacker Case in William Gibsons Roman "Neuromancer" seine Elektroden anlegt, wird sein Sensorium vom realen Raum abgelöst und mit dem simulativen Raum der Netze verbunden.

"Er zog das schwarze Frottee-Stirnband über den Kopf und achtete auf die richtige Lage der flachen Sendai-Elektroden. ... Er schloß die Augen. Fand den geriffelten EIN-Schalter. ... Wie ein Origami- Trick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3 D, unendlich ausgedehnt. Das innere Auge öffnete sich zur abgestuften, knallroten Pyramide der Eastern Seabord Fission Authority, die leuchtend hinter den grünen Würfeln der Mitsubishi Bank of America aufragte. Hoch oben und sehr weit weg sah er die Spiralarme militärischer Systeme, für immer unerreichbar für ihn.
Und irgendwo er, lachend, in einer weiß getünchten Dachkammer, die fernen Finger zärtlich auf dem Deck, das Gesicht von Freudentränen überströmt."3

Das Land, das Case betritt, dient zunächst einmal dazu, die inneren Zustände des Universums vernetzter Rechner für den Menschen in angemessener Form wahrnehmbar zu machen, sowie ihn selbst in dieser Umgebung abzubilden. Es schafft, wie David Tomas feststellt, eine "gemeinsame übernationale Arbeitsumgebung", einen "Transportraum für Gedächtnis und Identität" und eine "datenbasierte Vergesellschaftung des menschlichen Sensoriums".4 Gegenüber den Daten- und Programm-'Fenstern' unserer Bürocomputer liegt hier die neue Dimension eines neuen Mediums: Der Rechner wird zum telematischen Werkzeug. Sein User schwebt aus dem Fenster der "Windows"-Oberfläche in den Cyberspace der digitalen universellen Kommunikation. Seine reale Präsenz ist zur digitalen Repräsentation oder auch "Telepräsenz" geworden, die mit Daten, Programmen und anderen Tele-Existenzen in Beziehung treten kann. Vielleicht wird jetzt auch dem nüchterneren Zeitgenossen verständlich, mit welcher Rechtfertigung Gibson seinem Protagonisten die genannten Emotionen im Moment des Transzendierens ins Datenuniversum mitgibt.

Raum im Netz heißt eben auch "sozialer Raum", ein spezielles Aktionsfeld medialer Kommunikation mit Personen und Artefakten und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Der "Computer als Medium"5 archiviert, produziert und transferiert Wahrnehmungsangebote, er rechnet nicht mehr, sondern wird zum Medium in einem neuen sozialen Raum. Daß solche Räume kulturelles Neuland sind, ergibt sich schon aus ihrer spezifischen medialen Interaktion, diese sind jedoch für die Beteiligten nicht virtuell, sondern real. Sie sind real nicht im Sinne einer Verwechslung mit der "In Real Life" - Situation des Alltagslebens (für das sich in der Netzkommunikation das Kürzel IRL gebildet hat), sondern im Sinne eines Subsystems menschlichen Handelns mit 'echten' Emotionen und 'realen' Konsequenzen.

Damit sind wir bei der "virtuellen Gemeinschaft", die durch Howard Rheingolds Buch "The Virtual Community" zum aktuellen Terminus des Netzwerkdiskurses wurde.6 Was kann an einer Gemeinschaft virtuell sein? Oder ist sie real? Alfred Schütz schreibt 1945: "Reality means simply relation to our emotional and active life; whatever excites and stimulates our interest is real."7 Realität in diesem Sinne haben gesellschaftliche Subsysteme oder imaginierte Welten wie etwa religiöse Gemeinschaften oder kindliche Spielwelten. Dort gelten eigene Referenzsysteme, die nach Schütz vier Charakteristika aufweisen: Einen spezifischen Wachheitsgrad des Bewußtseins, eine spezifische Zeitperspektive, eine spezifische Form der Selbsterfahrung und eine spezifische Form der sozialen Organisation.8 Diese Charakteristika erlauben es auch, Realitätssysteme voneinander zu trennen. Kinder wissen durchaus - oft besser als Erwachsene - die Spielwelt der Videogames von der Alltagsrealität zu trennen. "Computer zwingen die Kinder, darüber nachzudenken, wodurch sich maschineller und menschlicher Geist voneinander unterscheiden", meint Sherry Turkle, und warnt davor, davon auszugehen, "..., daß Kinder ihre Begriffe vorgefertigt von Erwachsenen übernehmen. Vielmehr sollten wir die Unterscheidungen der Kinder als Vorboten für die neuen Standpunkte nehmen, welche die nächste Generation von Erwachsenen vertreten wird; ihre psychologische Kultur wird von der Computerkultur geprägt sein."9

Das Schütz'sche Modell läßt sich also ebenso auf die Realität einer Gemeinschaft im virtuellen Raum der Netze anwenden, wenn hier entsprechende Charakteristika vorhanden sind. Die "Virtual Community" Rheingolds ist ein normativer Begriff für ein Subsystem gesellschaftlichen Handelns, er definiert sich nicht nur durch seinen (virtuellen!) Ort, er ist ebenso Identifikations-Etikett und Programm im Sinne der Schütz'schen Kategorien. Sein immanentes Referenzsystem, das die Bedeutungsstrukturen sozialer Aktionen generiert, ist dort ein kulturelles Subsystem der Kommunikationsformen oder, anders ausgedrückt, eine spezifische Kulturtechnik der Telekommunikation.

2. 'Cybermedia' im Internet

Daraus folgt, daß ein Diskurs über Netze nur unter historischer und systematischer Berücksichtigung des Verbunds der Telekommunikationssysteme sinnvoll sein kann. Telefon, Fax, Hörfunk, Fernsehen und Computer stehen in einer engen Relation und ständigen Definition ihrer gesellschaftlichen Position sowie in einer dynamischen Veränderung ihrer Nutzungsbereiche. Die wichtigsten Veränderungen der letzten Dekade für Computernetzwerke sind dabei die Reichweite (in doppelter Hinsicht als geografische Reichweite und Zahl der Nutzer), der Grad der Individualisierung der Inhalte und die multimediale Komponente (Einbezug von motivierten Codes10 wie Bild und Ton) sowie die "Remote Communication" (Steuerung von Vorgängen über räumliche Distanzen). Eine weitere Wechselbeziehung besteht zur Welt der Video- und Computerspiele, die ebenfalls Elemente einer virtuellen Präsenz des Benutzers entfalten.


Technisch gesehen scheinen alle diese Systeme nach Vereinheitlichung und Integration zu streben. Dies gilt jedoch nur für die unterste Ebene ihrer elektronischen Existenz, für die Signalübertragung mittels eines digitalen Codes. Es ist ein oft vertretener Irrglaube, damit sei bereits irgendeine praktische Integration von Funktionen für den Nutzer vollzogen.11 Wer einmal verzweifelt versucht hat, einen Text, der auf einem Apple-PC geschrieben wurde, auf einem IBM-PC auszudrucken, weiß, was ich meine. Noch vor einigen Jahren wäre nochmaliges Abtippen (und damit ein analoges Zwischenstadium) die einfachste Lösung des Problems gewesen. 12

Das Internet hat in dieser Hinsicht zwei Revolutionen vollbracht: Die Standardisierung der Datenübertragung mit TCP/IP13 und die Standardisierung hypermedialer Netzkommunikation auf der Grundlage des 'World Wide Web' (WWW).

TCP/IP ist die Grundlage für das 'Verständnis' der dezentralen Netzelemente untereinander und damit die Basis der globalen Dienste des Internet von der elektronischen Post bis zur Online-Chat-Verbindung. Seine Akzeptanz und Verbreitung erfolgte nicht zuletzt durch die freie Kopierbarkeit der Version des Betriebssystems Unix, als dessen Bestandteil es verbreitet wurde.14

Ebenso frei zugänglich sind WWW-Programme, die Text, Bild und Ton auf allen gängigen Rechnerplattformen (Unix, DOS, Windows, Apple) darstellen können. Zusammen mit dem dazugehörigen Hypertextstandard HTML15 ist WWW auf dem Wege die Vision Ted Nelsons einer 'Online-Weltbibliothek' vernetzter Dokumente, des "Docuverse", zu verwirklichen. 1992 vom Kernforschungszentrum CERN in Genf entwickelt, hat es in den letzten Jahren zu einer explosionsartigen Zunahme von Bild- und Ton-Kommunikation im Internet geführt. In den meisten Fachtexten wird es noch als "Informationsbeschaffungssystem"16 bezeichnet, obwohl es sich bereits zum Universalwerkzeug für die meisten Internetdienste (z.B. FTP, Archie, Gopher, Newsgruppen, E-Mail) erweitert hat. Dabei baut es nicht nur die hypermediale Weltbibliothek auf, die Norbert Bolz "am Ende der Gutenberg-Galaxis"17 entstehen sieht, sondern ermöglicht auch eine Zwei-oder- Mehrweg-Kommunikation, die den Austausch von Dokumenten einschließt. Die revolutionäre Potenz von WWW die es neben den bereits genannten Merkmalen dem Benutzer erlaubt, jeden WWW-Server am anderen Ende der Welt mittels Hyperlinks in ein Dokument einzubinden, scheint noch nicht so recht ins allgemeine Bewußtsein gerückt zu sein. Die Raumkoordinaten des Hypertextes sind damit nicht nur semantische Felder, sondern der gesamte virtuelle Raum des Internet. Statt von 'Hypertext' und 'Hypermedia' wäre es hier konsequenter von 'Cybertext' und 'Cybermedia' zu sprechen.

Darüberhinaus öffnet es sich seit der Verbreitung der kinderleicht und komfortabel zu handhabenden "Mosaic"Oberfläche18 das Internet jedem Computeranalphabeten. Die verschworene Gemeinschaft, die ihre Botschaften mit kryptischen Befehlssätzen im 'ASCII-Design' von Bulletin-Boards abruft, hat damit ihre Exklusivität eingebüßt. Auch verwandte Dienste sehen im wahrsten Sinne des Wortes alt aus: Jedes BTX-Terminal erscheint neben der MosaicOberfläche wie ein Überbleibsel aus der Gründerzeit der Telekommunikation.

Mit dem WWW bricht zum ersten Mal eine interaktive Netzwerkanwendung in die Domäne anderer Telekommunikationsmedien für motivierte Zeichen ein. Durch die Einbeziehung von Bild und Ton findet eine Emotionalisierung und Öffnung für Entertainment-Elemente statt, die bisher der personalisierten Kommunikation des Telefons oder der Massendistribution des Fernsehens vorbehalten war. Während die Protagonisten der schönen und kommerziellen neuen Medienwelt unter Ignorierung der schwachen Quoten und Nutzerzahlen19 das 'interaktive TV' oder die neuen 'Network Services' in den glühendsten Farben schildern, etabliert sich im Internet ein hypermediales Universum, in dem sich Inhalte und Nutzungsformen in einem Nebeneinander von freien und kommerziellen Systemen im Alltagsbetrieb bewähren. Wenn diese Datenwelt, die heute noch aufgrund von Zugangsproblemen, zu hohen Anschlußgebühren und mangelnder Infrastruktur zumeist auf die institutionelle Ebene von Universitäten und Firmen beschränkt bleibt, auch privaten Haushalten zugänglich wird, könnte die aktuelle, nur zu oft auf dem Niveau und im Interesse von Werbeabteilungen und Marketingstrategie geführte Diskussion vom Kopf auf die Füße konkreter Erfahrungen und Bedürfnisse gestellt werden. Die Internet-Welt ist im Verbund der Telemedien die einzige, die ernstzunehmende und interessante Inhalte zur interaktiven Nutzung generiert.

Die virtuelle Gemeinschaft bekommt also erwünschten und unerwünschten Zuwachs von Mitgliedern, der von der Integration bisher unbeteiligter Wissenschaftler und Künstler bis zum Geschäftemacher reicht.

3. Hinweise zur Titelfrage

Das Fazit dieser Überlegungen verändert die Ausgangsfrage: Wie kann die aktuelle Umbruchphase des Internet zum Vorteil der virtuellen Gemeinschaft gestaltet werden? Oder ein wenig provokanter: Wird das Internet, dessen dezentrale Struktur einmal einer Nuklear-Explosion standhalten sollte, auch eine Vereinnahmung durch kommerzielle Interessen überstehen?

Natürlich können hier keine Regeln im Detail oder eine genaue Prognose gegeben werden. Dennoch lassen sich einige Hinweise formulieren:

1. Berücksichtigung der gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen aller Telekommunikationssysteme
Die Entwicklung der digitalen Medienwelt läßt sich nur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen aller Telekommunikationssysteme gestalten. Bei Nichtbeachtung dieser Grundregel sind unnötige Konflikte, unrealistische Vorgaben und die Vergeudung von Resourcen wahrscheinlich.

2. Kein Ausverkauf von Öffentlichkeit
Die Chance, die ein neues Mehrweg-Kommunikationsmittel für eine demokratische Öffentlichkeit bietet, darf nicht an Interessengruppen verkauft werden (kommerzielle oder politische). Zu Recht sieht Howard Rheingold eine der Gefahren der Kommerzialisierung der Netze in einer "Desinformokratie". "Die Idee besteht darin, daß die Leute sich selbst der Werbung ausliefern und auch noch dafür bezahlen sollen."20 Diese Idee hat uns das kommerzielle Fernsehen bereits ausführlich vorexerziert.

Mit zunehmender Emotionalisierung durch Bild und Ton, durch online-Games etc. wächst auch in den Netzen die Gefahr der "Vermarktung der Öffentlichkeit" und einer "gezielten Fehlinformation, Überwachung und Kontrolle"21. Da, wo sich Netzbetreiber mit der Unterhaltungsindustrie zu Megakonzernen zusammenschließen22, läßt diese Interessenkonzentration auf wenig Gutes hoffen.

3. Vielfalt bewahren
Mit seiner dezentralen Struktur bietet das Internet eine Vielfalt von Subsystemen, die sich sowohl in Inhalten als auch in Nutzungsformen niederschlägt. Gleichzeitig findet durch Standardisierung und Einfachheit der Regeln eine Integration der Subsysteme statt. Zur Vielfalt gehört ebenfalls die Interessensvielfalt der Nutzer von der wissenschaftlichen Infomationssuche bis zum MUD-Game23. Das kulturelle Potential des Datenraums kann nur entfaltet werden, wenn Erfahrungen in allen Kommunikationsbereichen möglich sind (s. Punkt 5). Netzwerke sind immer auch Projektionen der Gesellschaft. Im besten Falle sollten daher alle gesellschaftlichen Subsysteme mit ihren spezifischen Kommunikationsanliegen im Netzuniversum vertreten sein.

4. Einfache Interfaces, übergreifende Standards
Das produktive intellektuelle und künstlerische Potential gemeinsamer Arbeit im Netz läßt sich nur durch einen möglichst einfachen Zugang für jedermann und -frau nutzen. Das gilt sowohl für den Anschluß wie auch für die Interfacegestaltung. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß die leistungs- und konsensfähigsten Standards durch frei zugängliche Software und gemeinsame Anstrengungen erreicht wurden. Infrastrukturen und Oberflächen, die aufgrund von Betreiberinteressen Zugangsbeschränkungen implementieren, verhindern die Evolution einer virtuellen Gemeinschaft.

5. Experimentelle Räume
Digitale Netzwerke erfordern bei ihrer Nutzung als Telekommunikationsräume neue Kulturtechniken (s.o.). Ihre Erprobung kann sich nicht auf die technische oder kommerzielle Effizienz beschränken. Für alle Formen spielerischer und ästhetischer Erforschung der digitalen Telekommunikation sollten daher Experimentierfelder geschaffen werden. Dies gilt für neue visuelle und auditive Extensionen von MUDGames ebenso wie für künstlerische Netzprojekte. Projektionen realer Räume in den virtuellen Datenraum wie etwa das 'Electronic Café'24 begleiten die Entwicklung der Netzwerke von Anbeginn. Zentraler Aspekt dabei ist die Kuluration der Sinne in telematischen Medien, die sich innerhalb der o.g. Schütz'schen Realitäten vollzieht.

Damit sind wir noch einmal bei der individuellen Erfahrung telematischer Räume. Denn natürlich liegt hier der Schlüssel zu "neuen Räumen in virtuellen Gemeinschaften", im spielerischen und ästhetischen Experiment, das die Netze erprobt und neue Erfahrungshorizonte erschließt. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre ein Bericht über aktuelle Kunstprojekte als Antwort auf die Themenfrage angemessen gewesen. Doch gerade den letzten Sprung von der Textkultur zur sinnlichen Multi- und hypermedialen Netzwelt hat das Internet zunächst, fast unbemerkt von der Kunstszene, durch neue technische Entwicklungen vollzogen. Inzwischen werden die neuen Möglichkeiten genutzt, etwa in Form eines globalen Rohrschach-Tests des "Handshake"-Projekts der Berliner Gruppe 'Lux Logis', oder in der ästhetischen Visualisierung von Meßwerten aus der Antarktis im Projekt "Dialogue with the Knowbotic South" von 'Knowbotic Research'25. Spannend sind diese Versuche deshalb, weil sie erste Schritte einer Online-Daten- Kommunikation sind, die über die spröden ASCIIManifestationen einer Tastaturen- Community hinausgehen. Hier sollten zunächst die Grundlagen zur Sprache gebracht werden, die eine Basis für eine neue Generation von künstlerischen Internetprojekten bilden.

Ich habe eingangs von der anderen Seite der Medaille und dem Ausgleich für den Verlust von Körperlichkeit gesprochen. Auch wenn ich gerne einige Zeit auf Datenreise im Internet verbringe, kann ich mir noch nicht vorstellen, daß es im 'Electronic Café' gemütlicher als im Café um die Ecke sein könnte. Ich gestehe, daß mir eine musikalische Jam-Session mehr Spaß machen kann, als ein 'Net-Jam' mit allen Teilen der Welt. Nach den euphorischen Exposés mancher Kunstaktion im Netz sah die unsinnliche Umgebung von Monitoren und Tastatoren eher traurig aus und läßt die Inspiration leiden wie der blinkende Curser vor den armseligen ASCII-Texten einiger Text-adventures, die schon als linearer Text wenig Interesse hervorgerufen haben. Die aktuelle Entwicklung läßt hoffen, daß diese Zeiten einmal der Vergangenheit angehören. Ob dann allerdings die Coca-Cola-Werbung die Hürde zum Cyberspace der Sinne bildet, bleibt abzuwarten.

1 Norbert Bolz, "Computer als Medium - Einleitung." In: Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Christoph Tholen (Hrsg.), Computer als Medium. München 1993, S. 10
2 Heiko Idensen / Matthias Krohn, TXTouren. literatur als / im netzwerk, In: ZERO The art of being everywhere. Katalog zur Steirischen Kulturinitiative 92/93, Graz 1993, S. 133
3 William Gibson, Neuromancer. München 1987 (amerik. Original 1985)
4 David Tomas, "Old Rituals for New Space: Rites de Passage and William Gibson's Cultural Model of Cyberspace." In: Michael Benedikt (Ed.), Cyberspace: First Steps. Cambridge, Mass. MIT Press, S. 36
5 s. Anm. 1
6 Howard Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers, Bonn 1994 (amerik. Original 1993)
7 Alfred Schütz: "Symbol, Reality, and Society." In: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. V, June 1945, zitiert nach: ders., Collected Papers I. The Hague, 1971, 3. Aufl., S. 340
8 Schütz, aaO., S. 341
9 Sherry Turkle, "Aufwachsen im Zeitalter intelligenter Maschinen: Rekonstruktion des psychologischen und Neubetrachtungen des Menschlichen." In: Raymond Kurzweil, K.I. Das Zeitalter der künstlichen Intelligenz. München 1993; s.a.: dies., Die Wunschmaschine. Reinbek b. Hamburg 1986 (amerik. Original The Second Self: Computers and the Human Spirit, New York 1984). Sherry Turkle führte in den letzten Jahren auch empirische Untersuchungen über psychologische Probleme von MUD- Teilnehmern (s.u.) durch.
10 Beim motivierten Zeichen (wie Bild, Ton, Typografie, etc.) sind wahrnehmbare Form und Inhalt des Zeichens untrennbar verbunden. Die Zeichentheorie unterscheidet es vom arbiträren Zeichen dessen Form per Konvention seinen Inhalt zugewiesen bekommt.
11 Die funktionale Differenzierung ist auch der Schlüssel für das Verständnis der scheinbar widersinnigen Coexistenz einer 8-bit Spielconsole namens "Gameboy" neben einem 32-bit PC, der das entsprechende Spiel per Software und mit besserer Qualität zur Verfügung stellen könnte.
12 In Musikstudios durchläuft ein Tonsignal unnötigerweise zwischen 5 und 20 A/D-D/A-Wandlungen, obwohl die Geräte größtenteils auf digitaler Basis arbeiten. Einziger Grund hierfür ist die fehlende Unterstützung und Implementation eines Standards zum digitalen Austausch durch die Geräteindustrie.
13 Transmission Control Protocol/Internet Protocol
14 4.2. BSD Unix mit TCP/IP wurde von der University of California, Berkeley entwickelt und 1983 freigegeben.
15 Hypertext Markup Language
16 z.B. Othmar Kyos, Internet, Bergheim 1994
17 Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis, München 1993
18 "Mosaic" wurde vom National Center for Supercomputer Applications (NCSA) der University of Illinois entwickelt und wird als Freeware verbreitet.
19 Das als Vorbote eines interaktiven Fernsehens gefeierte und unsäglich aufgeblasen moderierte Computermagazin X-Base des ZDF erreicht weder eine akzeptable Quote noch - für die Werbeeinnahmen viel schlimmer - seine Zielgruppe. Ebenso verzögert sich der Markttest des Großversuchs des "Time Warner's Full Service Network" in Orlando, Florida aufgrund nötiger "technischer und programmlicher Verbesserungen" (s. MGM, Markübersicht interaktives Fernsehen, München 1994, S. 55), die wahrscheinlich Ursache und Folge mangelnder Benutzerakzeptanz sind.
20 Rheingold, aaO., S. 335
21 Rheingold, aaO., S. 339
22 Die von Kirch, Bertelsmann und der Telekom geplante Media Service GmbH (MSG) wurde in letzter Minute vom europäischen Gerichtshof verhindert. Ein explizit inhaltliches Programm neben dem kaufmännischen Ziel einer breiten Marktpräsenz mit verteilten Aufgaben konnte die MSG nicht vorweisen.
23 Multi User Dungeon (eine Netzvariation des in den 80er Jahren beliebten Rollenspiels "Dungeons and Dragons")
24 Das 'Electronic Café' steht für den Versuch "...eine(r) menschengerechte(n) Umwelt, die es möglich macht, durch ein Fenster in eine größer dimensionierte Simulation einzutreten - die Projektionswand als Tor zum virtuellen Raum." Gene Youngblood, Der Virtuelle Raum, In: Ars Electronica 1986, Katalog Linz 1986
25 'Knowbotic Research' arbeitet als Medienkunstgruppe an der Kunsthochschule für Medien Köln