Agnes Sawer ©Pierre-Auguste Renoir: Lise – La femme à l'ombrelle, 1867, Museum Folkwang, Essen
„Ich fragte mich, welche Rolle die Kleider und Accessoires für das gesamte Bild spielen“, sagt die Kunsthistorikerin Agnes Sawer.

Renoir porträtierte in dem berühmten Gemälde „Lise mit dem Sonnenschirm“ seine Geliebte Lise Tréhot. Doch nicht das Modell steht im Vordergrund. Es ist das Kleid, das den größten Teil des Bildes füllt. „Oft posieren seine Figuren wie Mannequins. Sie sind nach hinten abgewendet, der Betrachter sieht sie von der Seite, schaut auf Schleifen, Rüschen und Stoffe“, erklärt Agnes Sawer. Auf Lises Gesicht fällt gar ein Schatten, das Kleid dagegen strahlt.

Bereits während ihres Studiums an der Ruhr-Universität Bochum fiel Agnes Sawer die omnipräsente Darstellung von Mode in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts auf - insbesondere bei Renoir: „Ich fragte mich, welche Rolle die Kleider und Accessoires für das gesamte Bild spielen“, erinnert sich die Kunsthistorikerin. In ihrer Doktorarbeit an der Leuphana beleuchtete sie nicht nur Mode, sondern auch Textilien, die sich in Form von Vorhängen, Kissen, Teppichen, Bezügen in Renoirs Interieur-Darstellungen ausbreiten; sowie die Bilder in Handarbeit, die im Œuvre des Künstlers häufig vorkommen. Im Zentrum der Untersuchung stand die Frage, inwiefern die Eigenschaften des Textilen – beispielsweise seine Flächigkeit – in den Werken reflektiert werden. Die Darstellungen in den Gemälden sollten nicht Trends im Mode- und Interieur-Bereich wiedergeben: „Das Textile wird bei Renoir vielmehr zur Folie für das Verhandeln der bildnerischen Mittel und des klassischen Bildraums, der, wie später bei Henri Matisse oder Édouard Vuillard, zunehmend in die Fläche kippt. Abstrakte Tendenzen lassen sich bereits bei Renoir beobachten.“, erläutert Agnes Sawer.

„Renoir schaute nicht despektierlich auf den weiblichen Körper"

Selbst wenn keine Kleider und Stoffe in den Bildern Renoirs zu sehen sind, scheint das Textile eine Rolle zu spielen. An dem berühmten Gemälde „Bal du moulin de la Galette“ (1876), das angelehnt an die galanten Feste des Rokoko ein Tanzvergnügen am Montmartre zeigt, macht Agnes Sawer anschaulich, wie sich die Struktur der Rüsche – ein beliebtes Modeaccessoire im 18. Jahrhundert – in die Bildkomposition einprägt. Auch die späten Akte haben eine textile Anmutung, erklärt Agnes Sawer: „Die Körper entfalten sich, wie Stoffe, als haptisch erfahrbare Flächen im Bild.“ Sie widerspricht damit der Kritik feministischer Kunstforscherinnen in den 80er Jahren: „Renoir schaute nicht despektierlich auf den weiblichen Körper. Er idealisierte seine Modelle nicht, noch stellte er sie zur Schau. Renoir interessierten die Oberflächen, das Haptische, das Textile. Der weibliche Körper wurde nicht sexualisiert wie etwa bei der Venus von Alexandre Cabanel, die ohnmächtig daliegt und sich vor Blicken der Männer nicht schützen kann“, erklärt Agnes Sawer.

Renoirs Interesse an dem Textilen lässt sich auf seine Herkunft und seine berufliche Ausbildung zurückführen. Der Künstler stammte aus einer Handwerker-Familie. Sein Vater war Schneider, die Mutter Näherin. Aber der 13-jährige Pierre-Auguste wurde in die Lehre zu einem Porzellanmaler geschickt, denn dort war der Verdienst höher. Renoir verstand sich selbst stets als „Malerarbeiter“ und propagierte eine Verbindung von Kunst und Handwerk. In den Lehrjahren lernte er auch die Motivik des Rokoko kennen. „Renoir besuchte oft den Louvre. Das Bild „Diana im Bade“ von François Boucher ließ ihn nie los“, berichtet Agnes Sawer. Renoir schloss sich den realistischen Tendenzen seiner Zeit nicht an, sondern orientierte sich in vielerlei Hinsicht an der Malerei des 18. Jahrhunderts, deren galante Feste, Akt-und Genredarstellungen er mit dem Zeitgenössischen verknüpfte. Doch das Rokoko und alles, was sich daran anlehnte, stand trotz seiner Modernität im 19. Jahrhundert unter Kitschverdacht. Die Epoche repräsentiere das Rosige und Hübsche - und war verpönt, erklärt Agnes Sawer: „Seltsamerweise sprechen wir Bildern mehr Authentizität zu, wenn das Hässliche eingeschlossen ist. Ich habe mich immer gefragt, warum das so ist.“ Dass Renoir, wie die Künstler des Rokoko, in seinen Werken auf Dissonanzen verzichtet, bedeute jedoch nicht, dass wir es hier mit Kitsch zu tun haben, sagt Agnes Sawer. So wird mit dem Motiv der Fête galante inhaltlich an die Tradition der Idylle angeknüpft, an Theokrits und Vergils Dichtung, die immer auch sozialkritisch gefärbt war. Entsprechend zeigen uns auch Renoirs Bilder keine Verklärung der Realität, sondern alternative Gegenentwürfe, in denen sich eine Sehnsucht nach einem harmonischen Zusammenleben artikuliert.

Noch bis zur französischen Revolution waren Männer geschminkt

„Wer die Kultur des Rokoko aus heutiger Perspektive betrachtet, dem zeigt sich die Modernität des Jahrhunderts“, erklärt Agnes Sawer. Noch bis zur französischen Revolution waren Männer geschminkt, trugen Perücken und hohe Absätze wie Ludwig XIV. Nach der französischen Revolution wird Mode als Pomp und Chichi negativ bewertet. „Der Mann rutscht in den Anzug, der einer Arbeitsuniform gleicht und wird Teil des öffentlichen Raums. Das Stigma des modischen Auftritts wird an die Frau delegiert. Sie bleibt zuhause und wird mit ihren schönen Kleidern zum Schmuckstück des Mannes“, erklärt Agnes Sawer.

Renoir hingegen bedient dieses Klischee in seinen Bildern nicht und spielt mit Geschlechtsidentitäten. Wie im Rokoko zerfließen auch in seiner Malerei die Grenzen zwischen Frau und Mann, die im 19. Jahrhundert gefestigt wurden. In seiner mythologischen Darstellung „Das Urteil des Paris“ wird für die Darstellung des antiken Prinzen ein weibliches Modell, Gabrielle Renard, eingesetzt, und in dem Gemälde „Mme Henriot en travesti“ lässt Renoir die Schauspielerin Henriette Henriot in eine Pagenrolle schlüpfen. Auch seine Söhne malte Renoir mit langem Haar und Schleifen auf dem Kopf.

Der Schriftsteller Guy de Maupassant warf Renoir vor, alles rosig zu sehen und griff damit das Vorurteil vorweg, das die Renoir-Rezeption des 20. Jahrhunderts weitestgehend prägte, obwohl der Künstler von den Wegbereitern der Abstraktion wie Matisse, Claude Monet und den Nabis-Künstlern, einer Malergruppe zu der auch Paul Gauguin gehörte, intensiv rezipiert und geschätzt wurde. Renoirs Gemälde gerieten unter Kitschverdacht, gerade auch aufgrund der Hinwendung zum Rokoko, erklärt Agnes Sawer: „Der amerikanische Kritiker Clement Greenberg definierte Kitsch als etwas Reproduziertes, das keine Reflexionsebene bietet. Diese Beschreibung trifft auf Renoirs Kunst nicht zu: Wer hinsieht, erkennt viele moderne Ideen und eine innovative Bildgestaltung, die auf einer Auseinandersetzung mit dem Textilen beruht.“

Agnes Sawer ist Kuratorische Leiterin bei der Emschergenossenschaft und dem Lippeverband (Essen) und kuratiert Kunst, die die ökologische Umgestaltung des Emscher- und Lippeflusssystems reflektiert.

Sie studierte Kunstgeschichte und Spanische Philologie an der Universidad de Navarra in Pamplona, der Sorbonne in Paris und der Ruhr-Universität Bochum. Dort schrieb sie ihre Masterarbeit bei Prof. Dr. Beate Söntgen über Édouard Manet. Als die Kunsthistorikerin ihren Ruf an die Leuphana Universität Lüneburg erhielt, folgte Agnes Sawer ihr. Sie promovierte bei Prof. Dr. Beate Söntgen, Professorin für Kunstgeschichte, zu Mode und textilen Strukturen in der Malerei Pierre-Auguste Renoirs und wurde mit einem Leuphana Promotionsstipendium gefördert. Die Dissertation erscheint im Herbst 2024. Zudem hielt sie Seminare und besuchte in diesem Rahmen mit Studierenden Ausstellungen in Basel und Paris zum französischen Impressionismus. Agnes Sawer lehrte an der Folkwang Akademie der Künste und der Ruhr-Universität Bochum.

Die Graduate School führt ein- bis zweimal jährlich Informationstage rund um die Promotion an der Leuphana durch. Hier finden Sie aktuelle Informationen zur Zulassung zur Promotion.

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  • Prof. Dr. Beate Söntgen