Margarete Pratschke ist Kunst-, Bild- und Medienwissenschaftlerin. Promotion an der Abteilung Das Technische Bild am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Dissertation zu „Windows als Tableau zur Bildgeschichte grafischer Benutzeroberflächen“ (2011). Postdoc an Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich und Mitglied von eikones Basel. Vertretungsprofessuren an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Kunsthochschule Berlin Weißensee und der HfG Karlsruhe. Für ihr Buch „Gestaltexperimente unterm Bilderhimmel. Das Psychologische Institut im Berliner Stadtschloss und die Avantgarde“ erhielt sie den Caroline von Humboldt-Preis. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie digitaler Bilder, Computergeschichte und Medienästhetik, technische und wissenschaftliche Bildwelten und kritische Wissen- und Bildgeschichte der Moderne und Gegenwart. 

Aufsätze in Vorbereitung: „Google Cultural Institute“, „Aufruhr. Die Erstürmung des Kapitols als digitales Bildereignis und die Zukunft der politischen Ikonografie“, „Vom Nicht-Erkennen alter Hüte. KI und Kulturgut“, „Können Screenshots zerknittern?“.

 

Forschungsprojekt

Der simulierte Blick. Zur historischen Kritik der Computer Vision

Können Computer sehen? Es lässt sich in Zweifel ziehen, ob die jüngeren Verfahren der sogenannten Computer Vision, die für die massenhafte automatisierte Bildanalyse zum Einsatz kommen, überhaupt einem skopischen Regime unterliegen oder in Einklang mit hergebrachten Wahrnehmungskonzepten oder Prinzipien visueller Erkenntnis stehen, die in Medien- und Kulturwissenschaften diskutiert werden. Vielmehr könnte in Bezug auf Computer Vision von einem simulierten Blick, ganz ohne Bezüge zur Kulturgeschichte des Sehens, die Rede sein. 

Eine Kritik der Wahrnehmungsmodelle der Computer Vision scheint dringend geboten, da sich mit dem rasanten Erfolg des maschinellen Sehens mithilfe künstlicher neuronaler Netze und immenser Bildtrainingsdaten zugleich grundlegende Probleme abzeichnen und soziale sowie politische Konsequenzen verschärfen. Hinsichtlich der theoretischen Prämissen kommt erschwerend hinzu, dass in der industrienahen KI-Community unhinterfragt bestimmte, stark vereinfachte Konzepte vom Sehen, Wahrnehmen und Erkennen zum Tragen kommen. Auf dem Gebiet von Big Data, in dem längst das Ende der Theorie ausgerufen wurde, scheint dies angesichts der Black Box-Rhetorik in Bezug auf künstliche neuronale Netze jedoch nicht recht zu stören. 

Genau an diesem Theorievakuum setzt das vorliegende Vorhaben an, das die theoretische Dimension des digitalen Sehens und Erkennens von Bildern aus einer bild- und wissensgeschichtlichen Perspektive heraus zu bestimmen sucht. Die These ist, dass sich an den Verfahren kunsthistorischer Kenner ein Schlüssel zum Verständnis der Black Box ‚Computer Vision’ und mithin zu einer Kritik der digitalen Bildkultur gewinnen lässt. Anhand der Schriften früher ‚nicht-akademischer’ Kunstkenner und ihrer Kritiker, mittels der beschriebenen Praktiken, aber auch Porträts und Karikaturen, analysiert das Vorhaben, welche skopischen Strategien und Bedingungen das kennerschaftliche Sehen bestimmten – um eine Form visueller Erkenntnis zu befördern, die sich ihrer Verbalisierbarkeit, Explizierbarkeit und Formalisierung stets zu entziehen suchte. Ziel ist es, daran ein Modell heutiger Computer Vision zu entwickeln, dessen methodische Originalität darin besteht, einen Zugang zu avancierter Digitalität der Gegenwart aus einer als konservativ geltenden Position der Vergangenheit heraus zu entwickeln: der Figur des Kenners. 

Im Rahmen des Fellowships am MECS soll das Manuskript „Digitale Dilettanten – Computer Vision als Kennerschaft“ abgeschlossen werden, das im Rahmen einer Förderung der Volkswagenstiftung in der Förderlinie Originalitätsverdacht entsteht.